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Angriff auf ein demokratisches Experiment.
Türkei geht militärisch gegen Rojava vor

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Seit 20. Jänner bombardiert und beschießt die türkische Armee den Kanton Afrin in Syrien, den westlichsten Teil des multiethnischen Autonomiegebiets Rojava-Nordsyrien, in dem vor allem Kurden leben. Rojava-Nordsyrien war militärisch erfolgreich in den letzten Jahren. Es hat sich unter größten Opfern verteidigt, z.B. in der Stadt Kobane an der türkisch-syrischen Grenze, hat die Hauptlast in der Zurückdrängung des IS getragen, war entscheidend bei der Rückeroberung von Raqqa, der Hauptstadt des IS-Gebiets. Hat der Mohr jetzt seine Schuldigkeit getan und darf gehen?

Rojava-Nordsyrien hat im Bürgerkriegsland Syrien noch mehr geleistet als eine Zone von relativem Frieden und Stabilität zu sein, die hunderttausende Flüchtlinge aufgenommen hat. Es hat ein für den Nahen Osten neuartiges Gemeinwesen organisiert: demokratisch, multiethnisch, autonom, säkular mit Trennung von Islam und Staat und mit Gleichberechtigung der Frauen. Die Geschlechter sind nicht nur gleichberechtigt in den politischen Rollen, die Frauen Rojavas bilden einen Teil der Streitkräfte und eigene Polizeieinheiten. Der demokratische Konföderalismus, so nennen die Kurden dieses System, bildet eine Hoffnung für Millionen von Syrern gleich welcher Ethnie oder welchen Glaubens.

Das alles stört die Erdoğan-Türkei gewaltig, muss sie stören. Das Erdoğan-Regime hat die Kurden im eigenen Land, in Syrien und im Irak zum Hauptfeindbild überhaupt gemacht. Durch Rojava-Nordsyrien wird die Türkei nicht bedroht. Es stimmt zwar, dass die PKK sich immer noch militärisch wehrt, aber die große Mehrheit der kurdischen Bevölkerung ist für eine demokratische Autonomie innerhalb der Türkei. Rojava hat keine bewaffneten Anschläge in der Türkei durchgeführt, das wäre wie Selbstmord, würde den Vorwand für sofortige Invasion liefern. Die Selbstorganisation der Kurden in Syrien ist nicht gegen die Türkei gerichtet.

Die Kurden zu bekämpfen ist vielmehr das Hauptprogramm von Erdoğan. Rojava-Nordsyrien soll dafür bestraft werden, dass es sich autonom organisiert. Erdoğan braucht den Hass gegen die Kurden, um die eigene Macht zu zementieren. Wie ein typisch faschistisches Regime will er den türkischen Nationalismus nach außen wenden und startet einen völlig völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, um seine Macht zu zementieren und als großer Führer der Nation zu den Präsidentschaftswahlen 2019 anzutreten. Dann ist er seinem Ziel eines autoritären islamischen Sultanats näher.

Eine große Verantwortung trifft in diesem Zusammenhang Russland. Putin hat in diesen sieben Kriegsjahren in Syrien das Überleben des Assad-Regimes ermöglicht. Mit seiner Hilfe konnte Assad Aleppo in Schutt bomben, ganze Städte der Opposition aushungern, große Teile des Landes wieder zurückerobern. Da der von Russland gestützte Assad die Lufthoheit über Afrin hat, liegt es in der Verantwortung von Damaskus, dieses Gebiet gegen eine völkerrechtswidrige Invasion zu schützen. Doch hat Putin im Vorfeld der internationalen Syrien-Konferenz in Sotschi vom 30. Jänner anscheinend einen Deal mit Erdoğan getroffen. Das Assad-Regime soll weitere Gebiete, z.B. das von Rebellen gehaltene Idlib im Nordwesten, erhalten. Dafür wird der Kanton Afrin, Teil des autonomen Rojava-Nordsyrien, geopfert und entweder direkt Assad oder als „Pufferzone“ der Türkei mit ihren arabischen Hilfstruppen des NSA überlassen.

Die Kurden und anderen Minderheiten in Rojava, die als Bodentruppen gegen den IS den höchsten Blutzoll leisten mussten, werden in diesem zynischen Schachspiel den Interessen der Achse Assad-Iran-Russland einerseits und dem neuen Putin-Freund Erdoğan andererseits geopfert. Wenn überhaupt auf jemand, können Afrin und Rojava nur mehr auf die USA zählen, die sie bisher militärisch unterstützt haben. Doch auch die USA interessiert die demokratische Selbstorganisation dieses Teils Syriens nicht.

Ganz zu schweigen von der ohnmächtigen und unfähigen EU, die sich bisher nicht einmal zu einer klaren Verurteilung des Angriffs der Türkei auf Afrin aufgerafft hat. Der deutsche Außenminister, unter Kritik wegen der Ausrüstung der türkischen Armee mit den jetzt in Afrin eingesetzten Leopard-Panzern, hat sich nicht einmal dafür bereitgefunden, einen sofortigen Rüstungslieferungsstopp an die Türkei anzuordnen. Nur Frankreich hat sich an den UN-Sicherheitsrat gewandt. Schnell hat man in Europa die entscheidende Rolle vergessen, die Rojava im Kampf gegen den IS gespielt hat. Das ist bitter, das ist undankbar. Niemand fordert den Ausschluss der Türkei aus der NATO, aus der zollfreien Zone mit der EU und aus dem Europarat. Die Botschaft ist klar: Man darf also in der NATO und im Europarat sitzen und gleichzeitig die Zivilbevölkerung in einem Nachbarland massakrieren.


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