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Was bringt der Mehrsprachigkeitshype?

Viel Stimmung wird derzeit für eine zweisprachige Schule gemacht, und zwar als zusätzliches Angebot zum dreigeteilten Schulsystem. Es wird spekuliert, ob zu diesem Zweck der Artikel 19 des Autonomiestatuts abgeändert werden muss oder ob seine “Neuinterpretation” dafür reichen würde, wie es bei der soeben blockierten DFB der Fall gewesen wäre. In diesem Sinn argumentieren auch die Grünen, die vor einem Jahr einen Gesetzentwurf (Nr. 67/15) “Recht auf Mehrsprachlichkeit im Bildungssystem des Landes” mehrsprachige Klassenzüge in bestehenden muttersprachlichen Schulen einführen wollten, wenn einige Eltern das wünschen. In dieselbe Richtung zielt der kürzlich von Senator Palermo vorgelegte Vorschlag für zweisprachige Klassen oder Schulabteilungen in den bestehenden Schulen. Statt den Artikel 19 derart überzustrapazieren, wäre es rechtlich schon korrekter, zunächst die übergeordnete Norm abzuändern, sofern sich demokratische Mehrheiten dafür finden. Würde der Südtiroler Gesetzgeber dies von sich aus einführen, wäre nämlich auch mit Klagen auf Statutsverletzung zu rechnen.

Mehrsprachigkeit ist für viele Südtiroler das Leitmotiv für die Bildung ihrer Kinder geworden, so als wäre es das absolute Oberziel der Schulbildung schlechthin, der Schlüssel fürs Leben und den beruflichen Erfolg. In diesem Sinn ist in der Bozner Pascoli-Oberschule ein dreisprachiger Schulversuch im Gang mit Deutsch, Italienisch und Englisch als Unterrichtssprachen. Es hat den Anschein, dass bei der italienischen Sprachgruppe heute das Pendel ins andere Extrem ausschlägt, nachdem die erste Generation, die mit dem Autonomiestatut aufgewachsen ist, die zweite Landessprache leider vernachlässigt hat. Wenn das die Motivation zum Deutschlernen stärkt (laut Kolipsi-Studie von 2012 waren 2009 gut 75% der italienischsprachigen Oberschüler erst auf Niveau B1 bei der deutschen Sprache), ist das nur zu begrüßen. Doch muss es in Südtirol aus Gründen der Konkurrenzfähigkeit zweisprachige Schulen für alle geben?

So argumentiert Sprachwissenschaftler Siegfried Baur in der ff 11/2017 und plädiert für ein dreisprachiges Triennium vor der Matura: “Da müsste die erste Sprache allen Anfechtungen standhalten und die Jugendlichen wären international konkurrenzfähig.” Müssen Südtirols Schüler aus einem wirtschaftlichen Grund (Konkurrenzfähigkeit) auf eine muttersprachliche Schule verzichten, die die allermeisten europäischen Altersgenossen in Anspruch nehmen? Solange nicht der gesamte deutsch- und italienischsprachige Raum von Flensburg bis Catania ein dreisprachiges Schulsystem einführt, brauchen sich Südtirols Schüler eigentlich keine Sorgen um ihre Konkurrenzfähigkeit in der EU zu machen, geschweige denn in Südtirol. Etwas CLIL, moderne Sprachendidaktik und Zusatzangebote, damit schaffen sie L2 und L3 locker. Etwas mehr Selbstbewusstsein wäre angesagt.

Die Bildungswelt Europas sieht anders aus. In Europa ist immer noch die einsprachige Schule mit 1-2 weiteren Sprachen absoluter Standard. Millionen europäischer Abiturienten erreichen Jahr für Jahr ein Niveau in einer Zweitsprache, das ihnen ein Hochschulstudium in dieser Sprache erlaubt. In Südtirol liegen mehr als die Hälfte der deutschsprachigen Oberschüler auf B2-Niveau der Zweitsprache (Kolipsi 2012), über 70% der Deutschsprachigen beherrschen fließend Italienisch (Astat). Gibt es ein Unternehmen, das Südtirol wegen mangelnder Zweisprachigkeit der Mitarbeiter wieder verlassen hat?

Ganz ohne Zweifel ist Mehrsprachigkeit im heutigen Europa ein wichtiges Bildungsziel (vgl. Barcelona-Erklärung des EU-Rats 2002: Muttersprache+2) und die Beherrschung der zweiten Landessprache ist zu Recht ein hoher Wert in der Südtiroler Gesellschaft. Doch weder hat die EU den 27 Mitgliedsländern aufgetragen, ihr Schulsystem in ein zwei- oder mehrsprachiges umzubauen, noch ist davon abzuleiten, dass Sprachminderheiten zwecks Konkurrenzfähigkeit auf Staats- und Unionsebene — also aus wirtschaftlichen Gründen — von muttersprachlichen Schulen abzugehen haben.

Dazu nochmals ein knapper Einschub aus einem Land, das von Mehrsprachigkeit etwas versteht, die Schweiz, die seit jeher den Erwerb der anderen Landessprachen in den Schulen groß schreibt (vgl. diese Analyse). In der ganzen Schweiz gibt es nicht mehr als zwei zweisprachige öffentliche Schulen, und zwar zwei englisch-deutsche Gymnasien in Zürich, die vor allem von Kindern von Business-Nomaden und gut gestellten Ausländern besucht werden. Die Einführung von zweisprachigen Oberschulen ist nicht einmal im Tessin ein Thema, das wohl am meisten befürchten müsste, auf Bundesebene sprachlich abgehängt zu werden, und auch nicht in den zweisprachigen Kantonen (eine zweisprachige Unterstufe gibt es allenfalls für die Romanen in Graubünden).

Somit könnten auch einige Missverständnisse vorliegen, die den heutigen Hype für mehrsprachige Schulen befeuern, wie etwa folgende:

  • das Missverständnis, dass die gute Kenntnis weiterer Sprachen nur über gemischte Schulen zu erreichen ist (das Standardschulmodell Europas beweist das Gegenteil);
  • das Missverständnis, dass die italienische und deutsche Sprachgruppe in Südtirol beim Sprachenerwerb denselben Bedarf haben;
  • das Missverständnis, dass es nur mit einer zweisprachigen Schule gelingt, gut Italienisch oder Deutsch zu lernen;
  • das Missverständnis, dass Sprachenlernen ein und alles für Wettbewerbsfähigkeit sei (wäre dem so, wären Exportnationen wie die Schweiz, Deutschland und die Niederlande längst abgehängt);
  • das Missverständnis, dass ein öffentliches Bildungssystem auf den Geschmack eines Teils der Eltern mit besonderen Wünschen zugeschnitten werden muss (Schule à la carte);
  • das Missverständnis, dass gerade eine Sprachminderheit aus Konkurrenzgründen eine gut funktionierende muttersprachliche Schule aufgeben solle.

Bei letzterem würden die Befürworter der zweisprachigen Schule einwenden, dass es ihnen um einen zusätzlichen zweisprachigen Klassenzug oder ein Zusatzangebot einer zweisprachigen Schule geht, doch Simon Constantini hat schon mehrfach (vgl. Gastbeitrag in “Mehr Eigenständigkeit wagen”, POLITiS 2016) treffend aufgezeigt, wohin diese Art von Konkurrenz bei den Schulmodellen unweigerlich führen würde. Fazit: Etwas mehr Bewusstsein bezüglich unserer Rechte und Fähigkeiten wäre angesagt. Warum sollten gerade die Südtiroler aus Gründen wirtschaftlicher Konkurrenz die muttersprachliche Schule einschränken, wenn das weder die übrige EU und nicht einmal die mehrsprachige Schweiz tut?

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Autorinnen und Gastbeiträge

Der Berg kreißte und gebar eine Maus.
Landtagswahlrecht

Schon dreimal hat der Landtag seit 2001 das Landtagswahlrecht novelliert, 2003, 2008 und 2013, hat dabei meist nur kleinere, zum Teil technische Aspekte im Sinne der Mehrheitspartei angepasst. Nun soll mit dem neuen SVP-Gesetzentwurf — laut Ersteinbringer Noggler (SVP) — erstmals die dem Land zustehende Gesetzesinitiative vollumfänglich ausgeübt werden, indem sogar grundlegende Pfeiler der Regierungsform betrachtet werden. Darunter versteht Noggler die Beziehungen zwischen Landtag und Landeshauptmann, das Sitzzuteilungsverfahren und Garantien für die Ladinervertreter. Diesen hohen Anspruch enttäuscht die SVP prompt und klar. Denn im überlangen Gesetzeswerk finden sich keine echten Reformansätze, sondern vor allem der Versuch, einen einzigen Hebel so zu justieren, dass zumindest eine Kleinpartei aus dem Landtag gedrängt wird und möglichst die SVP einen Sitz mehr ergattert. Mit anderen Worten: Der Gesetzentwurf ist zwar umfassend in den Details, bringt aber kaum Reformen.

Nachdem in der Landtagskommission die Direktwahl des Landeshauptmanns und die Korrektur des Sitzzuteilungsverfahrens auf der Strecke blieben, konzentriert sich das ganze “Reformwerk” auf eine neue Regelung der politischen Vertretung der ladinischen Sprachgruppe. Bekanntlich muss mindestens einer der 35 Landtagsabgeordneten laut Autonomiestatut ein Ladiner sein. Wie dieser ermittelt wird, ist dem Landtagswahlgesetz überlassen. Ob dieser Ladiner über ein bloßes Reststimmenmandat auf einer größeren Liste gewählt wird, oder auf einer kleinen Liste als einziger mit einem Reststimmenmandat den Einzug schafft, war bisher egal. Wenn kein Ladiner aus eigener Kraft gewählt wird, muss innerhalb derselben Liste jener gewählte Kandidat mit der geringsten Vorzugsstimmenzahl zugunsten des ersten Ladiners auf der Liste weichen. Nun wollte die SVP die neue Regel durchsetzen, dass ein Ladiner nur gewählt sein kann, wenn seine Liste mindestens schon einen weiteren Sitz errungen hat. Warum, das erläutert die SVP nirgends.

Man versuche gar nicht, das Herzstück dieser neuen Regelung (Art. 56, Abs.2) zu verstehen. Es ist ein Meisterwerk von verklausuliertem Politik-Chinesisch, um folgenden Dreh zu bewerkstelligen: Das letzte zu vergebende Restmandat soll jener Liste, der es laut Wahlergebnis zusteht, genommen werden, um jener Liste zusätzlich zuerkannt werden, die den Ladiner mit den absolut meisten Vorzugsstimmen aufweist. Schon schade, dass eine Partei glaubt, sich nur über eine derart unbegründete Normenakrobatik einen weiteren Sitz sichern zu müssen.

Bezug genommen wird dabei gar nicht auf die politische Legitimation des Ladinervertreters innerhalb der ladinischen Wählerschaft selbst. Weil diese zu 95% in den beiden ladinischen Tälern lebt, liegt es eigentlich auf der Hand, einen eigenen Wahlkreis für den Ladinerabgeordneten zu bilden. Genau dies hat das Trentino zur Zufriedenheit der Fassa-Ladiner auch getan. Erst dann kann sich eine echte innerladinische politische Dialektik entfalten, während heute meist mithilfe vieler Stimmen deutschsprachiger Wähler ein SVP-Ladiner in den Landtag gehievt wird. Die Ladiner könnten sich zudem beklagen, dass immer noch kein Recht auf Vertretung der Ladiner in der Landesregierung eingeführt wird, weder im sogenannten Alfreider-Gesetz zur Abänderung des Statuts noch in diesem Wahlgesetzentwurf.

Weit enttäuschender als dieser Aspekt ist allerdings der Umstand, dass der SVP-Gesetzentwurf so wenig Neues bringt, was die Landtagswahl tatsächlich freier und fairer werden ließe. Hier einige Beispiele (Näheres dazu im POLITiS-Dossier 8-2015):

  1. Die Obergrenze für die Wahlkampfausgaben wird auf 30.000 Euro gesenkt, doch werden “dem Kandidaten jene Kosten nicht angerechnet, welche von den Parteien und Listen getragen werden und mehrere Kandidaten betreffen”(Art.11, Abs.2). Ein bequemer Trick, denn so können einige Arbeitnehmer, Bauern oder Unternehmer von ihrer Partei beliebig beworben werden. Den Partei-Wahlkampfausgaben sind nämlich gar keine Grenzen gesetzt.
  2. Die Geschlechterparität bei den Kandidatenlisten wird nicht eingeführt, es bleibt vielmehr bei der 2/3-Regelung als maximale Präsenz eines Geschlechts (Frauenanteil im Landtag heute: 28,5%).
  3. Die Regeln für den Zugang neuer Listen bleibt unnötig restriktiv: 500-750 Wähler müssen sie mit einer beglaubigten Unterschrift unterstützen.
  4. Es wird keine amtliche Wählerinformation für alle Wahlberechtigten (Broschüre) eingeführt, die eine Grundinformation über Programme und Personen für alle und damit mehr Gleichberechtigung der Listen gewährleisten würde.
  5. Genau geregelt ist das Recht auf Briefwahl, doch bleibt es den im Ausland ansässigen Südtirolern vorbehalten, anstatt es endlich zu einem echten Recht aller Wahlberechtigten zu machen.
  6. Keine Rede ist im ganzen Entwurf vom Panaschieren, der im deutschsprachigen Ausland schon lange mit Erfolg angewandten Möglichkeit, Vorzugsstimmen listenübergreifend abzugeben. Dies würde die Freiheit der Wahl wesentlich erweitern.
  7. Immer noch können Landesräte von außen berufen werden, die der demokratischen Legitimation durch Wahlen entbehren.
  8. Keine Pflicht wird für die wahlwerbenden Listen vorgesehen, Vorwahlen abzuhalten, um ihren Mitgliedern eine transparente und demokratische Einflussnahme auf die Kandidatenauslese zu bieten.

Ungeregelt bleibt auch die Frage des Einflusses der Verbände auf die Wahlen, ein nach wie vor in Südtirol schwerwiegender Faktor, der die Chancen im Sinne finanzstarker und öffentlichkeitswirksamer Verbände verzerrt. Bezeichnend schließlich der Umstand, dass die SVP jetzt im Eiltempo innerhalb April 2017 ein “vollumfängliches” Landtagswahlgesetz durchsetzen will (ganz ohne Partizipationsverfahren), während das seit fast drei Jahren diskutierte Direkte-Demokratie-Gesetz immer noch auf die lange Bank geschoben wird.

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Autorinnen und Gastbeiträge

Bürgerbeteiligung als Risiko?

Unter den Stichwörtern “Risikoanalyse” und “Marketingtauglichkeit” begutachtet man derzeit in der SVP den Gesetzentwurf zur direkten Demokratie der Landtagsabgeordneten Foppa, Amhof und Noggler. Man will herausfinden, ob es ein Gewinner oder Verliererthema sei, so Amhof im O-Ton in den Dolomiten (31. Jänner 2017). Während eine Volkspartei also das Risiko einzuschätzen versucht, dem Volk mehr Beteiligungsmöglichkeiten einzuräumen, behaupten andere (LH Kompatscher):

Wenn man will, dass nichts weitergeht, braucht man nur dieses Gesetz zu verabschieden.

Hat ihm wegen dieser Haltung die Initiative für mehr Demokratie kürzlich die “Rose der Demokratie” zuerkannt oder war es eine ernst gemeinte captatio benevolentiae?

Wie dem auch sei, in einer Demokratie wäre das Risiko von Machtmissbrauch, Willkür, Verschwendung, Fehlentscheidungen eher aus der Sicht des Souveräns kritisch zu betrachten: Wie hoch ist das Risiko für die Bürgerschaft, ihre auf Zeit gewählten Vertreter mit so viel Macht mit viel zu wenig Kontrolle auszustatten? Ist es nicht fahrlässig, den Vertretern so viel freie Entscheidungsmacht zu überlassen? Wie können sich die Bürger gegen Schäden absichern?

Seit 2001 hat Südtirol die Zuständigkeit, die direkte Bürgerbeteiligung an der Politik selbst zu regeln, hat dies 2005 mit einem mangelhaften Gesetz getan und zweimal durften die Bürger über dieses Thema abstimmen: 2009 wurde eine echte Reform nur wegen dem 40%-Quorum nicht angenommen, 2014 wurde ein misslungenes Reformgesetz der SVP vom Volk verworfen. Nun steht demnächst im Landtag der neue, mit Bürgerbeteiligung erstellte Reformvorschlag zur Diskussion. Obwohl er der SVP zu weit geht, ist er aus der Sicht gut entwickelter direkter Demokratie noch unzureichend. Hier zehn Beispiele für Mängel am Foppa-Amhof-Entwurf:

  1. Es fehlt das bestätigende Referendum auf wichtige Beschlüsse der Landesregierung, also das Vetorecht der Bürger gegenüber der mächtigsten Entscheidungsinstanz im Land.
  2. Es bleibt beim 20-25%-Beteiligungsquorum, obwohl das Vorgängergesetz vom Juni 2013 schon darauf verzichtet hatte.
  3. Es fehlt das elektronische Petitionsrecht (funktioniert beim Tiroler Landtag ziemlich gut).
  4. Das Recht auf bestätigendes Referendum ist auf Landesgesetze nicht anwendbar, wenn zwei Drittel des Landtags dafür gestimmt haben. eine Beeinträchtigung der direkten Demokratie
  5. Andererseits können ein Drittel der Abgeordneten eine Volksabstimmung einleiten. Demokratische Mitbestimmung muss von den Bürgern ausgehen, nicht von den Vertretern.
  6. Immer noch fehlt das Volksbegehren zu Autonomiestatutsabänderungen. Genauso fehlt das bestätigende Referendum bei Statutsänderungen durch das Parlament. Letzteres müsste allerdings im Statut selbst verankert werden.
  7. Das Volksbegehren ohne Volksabstimmung — eine zweitrangige Form der Bürgerbeteiligung — wird im Gesetz übertrieben detailliert geregelt, während die echte Volksinitiative kaum vorkommt. Dieses bloße Volksbegehren kann nur von 8.000 Wahlberechtigten beantragt werden, was es uninteressant werden lässt.
  8. Die Fristen zum Ausschluss von Volksabstimmungen (6 Monate vor einer Landtagswahl) sind viel zu lang.
  9. Als einziges Instrument der deliberativen Bürgerbeteiligung wird der Bürgerrat eingeführt, eines der schwächsten Instrumente. Auch auf andere, wirksamere Verfahren wie die öffentliche Anhörung oder die Vernehmlassung bei neuen Gesetzen wird verzichtet.
  10. Es wird nicht explizit die Volksinitiative (einführende Volksabstimmung) für die Regierungsformgesetze (Wahlrecht und direkte Demokratie) eingeführt. Ein Mangel, der auch im Statut selbst noch behoben werden muss.

Eine Reihe weiterer Pferdefüße verstecken sich noch im Text des Gesetzentwurfs. Es ist sehr fraglich, ob sich diese Mängel in der Behandlung des Entwurfs im Plenum des Landtags beheben lassen, weil die Mehrheit eher dazu tendiert, diesen noch stärker zu verwässern. Die SVP wird nun in ihrem Machtapparat sondieren, wieviel sie konzedieren will, d.h. die starken Verbände und Lobbys werden mit ihren Bedenken die ohnehin skeptische Haltung der SVP-Führung bestärken und dann den Amhof-Foppa-Entwurf weiter stutzen. Zu weit darf es die SVP mit ihrer Bremsstrategie bei der direkten Demokratie nicht treiben, weil die Opposition wie 2013 wiederum das Referendum gegen ein schlechtes Reformgesetz ergreifen kann. Dieses Spiel könnte sich Legislatur für Legislatur wiederholen. Die SVP könnte den schwarzen Peter immer wieder der Opposition zuschieben. Nur eine breite Bürgerbewegung könnte diese Partei zum Einlenken bringen. Doch wo ist diese?

Zur Vertiefung: Thomas Benedikter (2015), Gaspedal und Bremse – Direkte Demokratie in Südtirol, ARCA-POLITiS, im Buchhandel.

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BBD

L’autonomia oggi e domani.

Venerdì 20 gennaio alle ore 10.30 al primo piano del Kolpinghaus sarà presentato il libro

La nostra autonomia oggi e domani
Proposte per il terzo Statuto del Trentino-Alto Adige/Sudtirolo

a cura di Thomas Benedikter ed edito da Politis (ISBN: 978-88-88203-66-9). Ospite speciale della mattinata sarà l’ex senatore Oskar Peterlini.

Come si potrebbe ampliare l’autonomia? Ci sono alternative alla proporzionale? Abbiamo bisogno di una scuola bilingue? La “concordanza etnica” nel governo provinciale potrebbe essere rafforzata? Quali nuovi diritti di partecipazione diretta dei cittadini andrebbero inseriti nello Statuto? Questi e altri aspetti centrali della nostra autonomia vengono ripresi nell’ultima pubblicazione di POLITiS che sarà presentata il 20 gennaio 2017, esattamente 45 anni dopo l’entrata in vigore del 2° Statuto di autonomia, in presenza dell’ex-senatore Oskar Peterlini.

La riforma dello Statuto del 1972 viene discussa da parecchio tempo, da un anno anche all’interno di un processo partecipativo, cioè della “Convenzione sull’autonomia”: per la prima volta la cittadinanza è chiamata a collaborare affiancandosi alla rappresentanza politica e ad esperti nell’elaborazione di questo importante progetto politico per la nostra società. Questo invito POLITiS certamente non ha voluto declinare.

Le nostre proposte hanno un obiettivo preciso: quello di potenziare l’autogoverno conferendo alla Provincia maggiori responsabilità  politiche. Il Sudtirolo/Alto Adige è ormai maturo per un grado più avanzato di autonomia: non soltanto nei confronti di Roma, ma anche di Trento e di Bruxelles. I tre gruppi linguistici potrebbero avere più spazi nell’autogestirsi, gli organi democratici sarebbero rafforzati e i cittadini avrebbero un ruolo più forte nella democrazia locale.

Il volume analizza gli aspetti centrali dell’autonomia: dalla gamma di competenze alla parità delle lingue, dalla proporzionale alla scuola, dalle finanze alla politica economica. Inoltre si presentano proposte per garantire più equità sociale, concordanza etnica e partecipazione democratica all’interno del sistema della nostra autonomia. Il volume è arricchito con dieci interviste e contributi di politici ed esperte di varia estrazione politica.

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Autorinnen und Gastbeiträge

Welche Informationspflichten beim Verfassungsreferendum?

Voraussichtlich Ende November wird Italiens Wählerschaft zu den Urnen gerufen, um über die Verfassungsreform der Regierung Renzi zu entscheiden, die am 12. April vom Senat definitiv beschlossen worden ist. Mehr als ein Fünftel der Parlamentarier und interessanterweise 504.000 Bürger für das JA zur Reform haben das verlangt. Renzi hat das Referendum zu einem Plebiszit über sich als Premierminister deklariert, ein demokratisch bedenklicher Schritt, den er jetzt selbst rückgängig zu machen versucht, weil er Angst vor dem Ausgang hat. Gegen diese Reform gibt es eine Fülle von Einwänden und schweren Bedenken, wie auch gegen das Wahlgesetz Italicum, das bei diesem Referendum nicht zur Abstimmung steht, aber eng mit dem von Renzi geplanten Umbau des demokratischen Systems zusammenhängt. Die SVP beschwichtigt seit geraumer Zeit mit dem Verweis auf die Schutzklausel. Der Deal der SVP mit dem PD ist aber kein sehr gelungener, denn es wird Südtirol und den autonomen Regionen nur ein Aufschub für eine Neufassung ihrer Statuten gegeben, die sich den neuen zentralistischen Bestimmungen zu fügen haben wird. Derweil nehmen Demokratie und Regionalismus argen Schaden.

Mit diesem Verfassungsreferendum ist auch eine wichtige Frage der Methode verbunden. Werden die Institutionen bereit sein, die Bürger und Bürgerinnen über diesen umfassenden Referendumsgegenstand angemessen zu informieren? Oder wird es ausschließlich den Medien überlassen bleiben, was nicht ausreicht? Es sieht nicht danach aus, schon gar nicht in Südtirol. So sind beim letzten gesamtstaatlichen Referendum vom 17. April die Rechte auf die sogenannten »spazi autogestiti« der Referendumspromotoren (Belangsendungen) von Rai Südtirol einfach missachtet worden. Auf parlamentarische Anfrage des M5S hin ließen die römischen Rai-Chefitäten wissen, dass es für diese Informationspflichten der Rai in Südtirol noch keine Regelungen gebe.

Für die Abwicklung der staatsweiten Referenden auf Landesebene ist das Regierungskommissariat zuständig. Auf dessen Webseite wird über jeden Gast berichtet, der Frau Regierungskommissärin kurz die Hände schütteln darf, aber kein Hauch an Information zur Verfassungsreform, geschweige denn auf Deutsch. Auf Anfrage ist mitgeteilt worden, dass dies auch nicht geplant sei. Viel Sichtbarkeit bekommen dagegen die »150 Jahre Einheit Italiens«, die auch schon 5 Jahre alt sind.

Der Landtag ist von Vereinen ersucht worden — und Landtagsfraktionen wollen entsprechende Beschlussanträge einbringen — seiner Informationspflicht wie bei der letzten Landesvolksabstimmung vom Juni 2016 nachzukommen, also mit einer Info-Broschüre an alle Haushalte. Er wird es wahrscheinlich unterlassen mit dem Verweis, dass das Land für »nationale« Referenden nicht zuständig sei. Besucht man die Landtagswebseite, fehlt auch dort die Grundlage für eine klare Information der Bürger, nämlich der Text der Reform auf Deutsch (vielleicht auch auf Ladinisch).

Diese Lücke hat inzwischen POLITiS gefüllt und bringt im letzten Dossier eine a fronte-Darstellung des alten und neuen Textes. Eine kritische Erläuterung der Reform wird demnächst folgen. Mehr Kritik an diesen gefährlichen Entwicklungen auf Staatsebene wird es bald vom soeben gegründeten Bürgerkomitee für das NEIN beim Verfassungsreferendum 2016 geben.

Politis: Dossier 11.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5 ‹6

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Autorinnen und Gastbeiträge

EVTZ — eine »transnationale Makroregion«?

Im Autonomiekonvent ist mehrfach der Vorschlag eingebracht worden, den EVTZ Euregio Tirol an die Stelle der Region zu setzen, oder die Europaregion zumindest als Plattform der Zusammenarbeit der Landesteile im Autonomiestatut zu verankern. Kann der EVTZ Euregio Tirol mittelfristig die Region ersetzen und die Zusammenarbeit der Landesteile des historischen Tirols auf eine verfassungsrechtliche Ebene heben? Lässt sich eine solche Konstruktion im italienischen Verfassungssystem verwirklichen?

Der Europäische Verbund für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ) Europaregion Tirol ist 2011 geschaffen worden, ohne dass es einer Statutsänderung, einer Durchführungsbestimmung oder gar einer Verfassungsänderung bedurft hätte. Ein EVTZ ist eine öffentlich-rechtliche Körperschaft auf Grundlage einer EU-Verordnung von 2006 (Nr. 1082/2006), mit dem Zweck, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Regionen zu fördern, eine institutionelle Infrastruktur für gemeinsame, meist von der EU mitfinanzierte Projekte zu schaffen. Dabei kann ein EVTZ auch Tätigkeiten außerhalb EU-finanzierter Programme entfalten.

So haben sich bis heute 25 EVTZ’ in der EU gebildet, die oft kulturelle, sprachliche und geografische Gemeinsamkeiten aufweisen oder in der Geschichte zum selben Staat gehörten. Der Großteil dieser EVTZ’ befindet sich in Grenzgebieten, wie z.B. Ungarn/Slowakei, Belgien/Frankreich, Deutschland/Frankreich, Polen/Tschechien und zwei in Österreich und Italien. EVTZ’ werden längst nicht mehr als Instrumente eines verschleierten Irredentismus’ betrachtet, im Gegenteil. Sie können durch verstärkten Kontakt mit anderen Regionen desselben Kulturraums den Minderheitenschutz fördern. Sie stellen nicht nur keine Gefahr für die territoriale Integrität der Mitgliedstaaten dar, vielmehr behalten sich die Staaten umfassende Kontroll- und Einflussmöglichkeiten vor. Letztere können EVTZ’ jederzeit unterbinden und auflösen, oder gar selbst Mitglieder von EVTZ’ werden. Italien hat die EVTZ’ (GECT) mit einem eigenen Staatsgesetz (Nr. 88 vom 7. Juli 2009) geregelt, die Mitgliedschaft des Bundeslands Tirol ist hingegen mit einem Landesgesetz geregelt. Der EVTZ Euregio Tirol ist heute vor allem in den Bereichen Hochschulen und Forschung, Gesundheit, Senioren und Mobilität tätig und betreut derzeit 55 Projekte sowie Sommercamps, Kulturfestivals und Tagungen.

Während die Region Trentino-Südtirol immer mehr konkrete Aufgaben abgibt, erscheint der EVTZ als eine zukunftsweisende Form interregionaler Zusammenarbeit. Die Region ist allerdings als Gebietskörperschaft Teil der italienischen Verfassungsordnung (Art. 131 Verf.), der EVTZ nur eine Körperschaft mit exekutiven Befugnissen, ohne direkte demokratische Legitimation in Form einer parlamentarischen Versammlung. Für die Errichtung des EVTZ’ Europaregion Tirol musste weder das Autonomiestatut abgeändert noch eine Durchführungsbestimmung oder ein Landesgesetz erlassen werden. Das italienische Verfassungsrecht kennt keine grenzüberschreitenden Regionen. Der EVTZ ist zwar Teil des Mehrebenensystems der EU-governance, aber keine für den Staat konstitutive, in der Verfassung verankerte und nach demokratischen Prinzipien ausgestaltete eigenständige Gebietskörperschaft. Es gibt zwar auch den Dreierlandtag, der aber nur eine Form der gegenseitigen freiwilligen Konsultation der drei Landtage darstellt.

Im Zusammenhang mit der Reform des Autonomiestatuts stellen sich nun zwei getrennte Fragen. Zum einen: Kann der EVTZ Europaregion Tirol die Region Trentino-Südtirol ersetzen und die Zusammenarbeit der drei historischen Landesteile auf eine verfassungsrechtliche Ebene heben? Und zum anderen: Kann eine andere grenzüberschreitende Institution für die Zusammenarbeit von Nord- und Südtirol abseits des EVTZ’ geschaffen werden, die sowohl legislative wie exekutive Befugnisse und ein Minimum an demokratischer Struktur erhält und eine von dieser gewählte Exekutive?

Zur ersten Frage: Laut EVTZ-Verordnung 1082/2006 ist ein solcher Verbund eine öffentlich-rechtliche Körperschaft zwecks Erfüllung von Aufgaben grenzüberschreitender Zusammenarbeit. Grenzen werden dabei nicht abgeschafft, Souveränitätsbereiche werden nicht verändert. Es wird zwischen den Staaten und substaatlichen Einheiten, die den EVTZ tragen, keine neue demokratische Regierungsebene eingefügt. Zudem wird der EVTZ auch innerstaatlich streng beaufsichtigt. Zweck dieser Konstruktion ist es, vor allem die EU-Grenzen weniger spürbar zu machen, nicht sie zu verändern. Eine verfassungsrechtliche Anerkennung des EVTZ’als konstitutive Einheit des italienischen Staats – eine Art »transnationale Makroregion« – ist sowohl vom EU-Recht wie vom Verfassungsrecht Italiens und Österreichs nicht vorgesehen. Somit ist auch ausgeschlossen, dass ein EVTZ zur demokratischen Institution mit gewählter Versammlung und Regierung mit exklusiven Zuständigkeiten wird. Es geht um einen EVTZ, nicht mehr und nicht weniger.

Zur zweiten, eher theoretischen Frage, ob eine weitere Nord- und Südtirol verbindende Regierungsebene geschaffen werden kann: Diese müsste in ihrem Aufgabenbereich deutlich über die Möglichkeiten des EVTZ’ Europaregion Tirol hinausreichen, weil ansonsten ja der bestehende EVTZ reichte. Eine solche Konstruktion ist zwar denkbar, würde aber einen klaren Bruch mit der heutigen Staatsdoktrin ausschließlicher staatlicher Souveränität über ein Gebiet bedeuten. Grenzüberschreitende Räume verbindlicher Rechtsetzung, also eine Art »geteilte gemeinsame Souveränität«, sind in der EU nicht vorgesehen. Es wäre zudem mit dem Lissaboner EU-Vertrag schwer vereinbar, der die Identität der Mitgliedsstaaten in den bestehenden Grenzen anerkennt.

Weitere Fragen dieser Art werden in der jüngsten POLITiS-Publikation vertieft, die im Buchhandel greifbar ist.

Mehr Eigenständigkeit wagen.

Thomas Benedikter

Mehr Eigenständigkeit wagen
Südtirols Autonomie heute und morgen

Hrsg: POLITiS – Edizioni ARCA
Euro 12,00, 172 Seiten, 19 x 24 cm
ISBN: 978-88-88203-42-3

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BBD

Zweisprachige Schule (II).
Individuum und Gesellschaft

Seit vielen Jahren wird in Südtirol verstärkt die zwei- oder mehrsprachige Einheitsschule bzw. die zwei- oder mehrsprachige Schule als Zusatzangebot zu den bestehenden muttersprachlichen Modellen gefordert. In erster Linie sind die Eltern um diesen Dammbruch bemüht, das Südtiroler Sprachbarometer 2014 (Astat) legt sogar nahe, dass eine breite Mehrheit der Gesamtgesellschaft diese Umstellung wünscht. Unklar bleibt jedoch, welches Modell dabei angestrebt wird.

Grundsätzlich erscheint eine Schule, in der beide Sprachen »gleichermaßen« als Unterrichtssprachen dienen, ein erstrebenswertes Modell. Die Vorteile einer hohen Kompetenz in mehreren Sprachen können für die Einzelne kaum überbewertet werden. Welch positive Auswirkungen ein Schulsystem auf »Immersionsbasis« für die Schülerinnen haben kann, ist längst erwiesen.

Was jedoch in einem einsprachigen Kontext (in Deutschland oder Frankreich, ja auch in Trient oder Innsbruck) bedenkenlos umgesetzt werden kann, da mehrsprachige und Immersionsschulen in ein sprachlich klar definiertes Umfeld gebettet sind, kann in einem mehrsprachigen Gebiet wie Südtirol, das im nationalen Kontext des italienischen Staates eine sprachlich-kulturelle Sonderrolle einnimmt, zu Spannungen führen und das Risiko der gesellschaftlichen Assimilierung in sich bergen.

Über kurz oder lang wird die mehrsprachige Schule, falls sie eingeführt wird, wohl kaum nur auf ein »Zusatzangebot« beschränkt bleiben. Kaum jemand wird sich diesem Schulmodell entziehen können, sobald es existiert, denn Eltern, die ihren Nachwuchs in eine Schule des heutigen, »alten« Modells schicken, nimmen dann eine Benachteiligung ihres Kindes im Vergleich zu anderen billigend in Kauf — sowohl in der Gesellschaft, als auch bei der Arbeitssuche. Die »einsprachig« deutsche und italienische Schule nach heutigem Modell blieben dann voraussichtlich Horte nationalistischer Hitzköpfe, wo Eltern auf Kosten ihrer Kinder Politik betreiben. Eine möglichst gute Vermittlung der »Zweitsprache« wäre dort wohl kaum noch Hauptziel, haben sich die Eltern doch ausdrücklich gegen eine mehrsprachige Schullaufbahn entschieden.

Falls aber mehrsprachige Schulen Aufnahmetests durchführen würden, um die Überforderung weniger gut vorbereiteter oder schlechter talentierter Kinder zu vermeiden, ist mit einer sprachlichen Mehrklassengesellschaft zu rechnen, in der einige vom öffentlichen (!) Schulsystem mit besseren Voraussetzungen fürs Leben ausgestattet werden, als andere. Auch dies wäre wohl kaum wünschenswert.

Eine Umstellung des Schulsystems darf jedenfalls nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Wer von den unzweifelhaften Vorteilen der Immersion fürs Individuum undifferenziert auf ebenso große Vorteile für die Gesamtgesellschaft schließt, nimmt eine Abkürzung, die unter Umständen in eine Sackgasse ohne Wendemöglichkeit führen könnte.

Die Folge eines mehrsprachigen öffentlichen Schulmodells kann (zunächst) nichts anderes sein, als eine durch und durch mehrsprachige Gesellschaft. Ein Idealzustand für ein Land wie Südtirol, wo mehrere Sprachen beheimatet sind. Ein Idealzustand jedoch, der ohne die nötigen Vorkehrungen das Risiko in sich birgt, zumindest eine Sprache endgültig auszulöschen. Heute gibt es hierzulande ein in seiner Art zwar verbesserungswürdiges, jedoch sehr fein austariertes Gleichgewicht zwischen den Sprachen, das mit einem neuen Schulsystem schnell aus den Fugen geraten kann.

Weltweit sind durch und durch mehrsprachige Gesellschaften — wo also die Mehrsprachigkeit der Gesamtheit auch einer völligen Mehrsprachigkeit jeder Einzelnen entspricht — eine winzige Ausnahme, die über längere Zeiträume kaum aufrecht zu erhalten ist. Bereits wenn zehn perfekt Mehrsprachige an einem Tisch beisammensitzen, wird sich aus Bequemlichkeit und Rationalität in kürzester Zeit eine der von allen beherrschten Sprachen zu Lasten der anderen durchsetzen. Aus welchem Grund sollte eine ganze Gesellschaft im Alltag den Aufwand betreiben, mehr als eine Sprache aktiv zu benutzen, wenn sämtliche Mitglieder (zumindest) eine dieser Sprachen perfekt beherrschen? Im Falle einer Minderheit in einem Nationalstaat scheint dies sogar unmöglich. Und auf welcher Grundlage sollte man noch sprachliche Sonderrechte einfordern, wenn sämtliche Bürgerinnen auch die Staatssprache auf muttersprachlichem Niveau beherrschen?

Risikomanagement

Wir haben in Südtirol einen großen Schatz, den man »gesellschaftliche Mehrsprachigkeit« nennen könnte. Dieser Schatz resultiert heute aus einer unvollkommenen »individuellen Mehrsprachigkeit«, die es deshalb attraktiv macht, auch im Alltag mehr als eine Sprache zu verwenden. Auf Dauer mag diese Situation manchen nicht befriedigend scheinen, da sie einem besseren gesellschaftlichen Zusammenhalt im Weg steht.

Aber: Wir haben eine einigermaßen gesunde Patientin — und eine sofortige Behandlung, durch die wir jedoch ihren vorzeitigen Tod riskieren. Wollen wir tatsächlich Hand anlegen? Oder sollten wir vielmehr zuerst die Risiken minimieren?

Die beste Voraussetzung für die Zusammenführung der gesellschaftlichen und der individuellen Mehrsprachigkeit wäre wohl die staatliche Unabhängigkeit; nicht die Unabhängigkeit per se, sondern eine speziell auf Kohäsion und Inklusion bedachte, konstitutiv auf Pluralismus ausgerichtete Version. Eine Sofortlösung könnte man hingegen bedenkenlos unterstützen, wenn es eindeutige Zeichen gäbe, dass sie glücken würde.

Eine mögliche Alternative im Rahmen des Nationalstaats wäre das katalanische Modell, das ein hohes Maß von gesellschaftlicher und individueller Mehrsprachigkeit mit einem starken gesellschaftlichen Zusammenhalt vereint. Der Dreh- und Angelpunkt dieses Modells ist eine Einheitsschule mit »Content and Language Integrated Learning« (CLIL) und einer stark asymmetrischen Sprachgewichtung zugunsten des Katalanischen, also der nicht-nationalen Sprache. Die Einsicht, die katalanische und kastilische Eltern bzw. Politikerinnen eint, ist die, dass die Asymmetrie einem Kippen innerhalb des spanischen Nationalstaats (Kippen zugunsten der spanischen »Staatssprache«) am besten verhindern kann, da auf regionaler Ebene dem staatlichen Ungleichgewicht entgegengesteuert wird.

Diese Art der Sprachpolitik beschränkt sich jedoch nicht auf die Schule, sondern zielt darauf ab, eine tatsächlich mehrsprachige Gesellschaft durch eine tatsächliche Asymmetrie »im Kontext« zu unterstützen. Katalonien hat eine offiziell definierte Landessprache (Katalanisch). Im Autonomiestatut ist zwar auch die kastilische Sprache als Amtssprache definiert, eine Ungleichbehandlung (»affirmative action«, also positive Diskriminierung) ist jedoch erlaubt und ganz im Sinne der Wahrung eines faktischen Gleichgewichts.
Das Südtiroler Autonomiestatut nach dem Proporzmodell erlaubt hingegen kein solches Korrektiv: Die beiden gleichgestellten Sprachen sind immer und überall gleich zu behandeln. Im Zweifelsfall, auch dies belegt das Sprachbarometer, geht dies eher zu Lasten der Minderheitensprachen. Eine Politik, die schnell und flexibel auf Fehlentwicklungen reagieren kann, ist damit nahezu ausgeschlossen.

Eine asymmetrische — behutsam an hiesige Verhältnisse angepasste — Gesamtlösung nach katalanischem Vorbild wäre wahrscheinlich ein guter Wegbereiter für die eventuell anzustrebende Unabhängigkeit und Schaffung einer durch und durch »idealen«, also auch auf individueller Ebene mehrsprachigen Gesellschaft. Ohne den nötigen Sicherheitsabstand zu jedem Nationalstaat (und dazu gehört im Rahmen der Autonomie als absolute Mindestvoraussetzung die primäre Zuständigkeit für Schule und Bildung) sind aber undifferenzierte Abkürzungen abzulehnen.

Dieser Text ist die aktualisierte und erweiterte Fassung eines älteren Blogbeitrags und ist in ähnlicher Form in der POLITiS-Publikation »Mehr Eigenständigkeit wagen – Südtirols Autonomie heute und morgen« erschienen.

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Als autonomes Land sich selbst ein Statut geben.

Für die meisten autonomen Regionen der Erde eine Selbstverständlichkeit: das direkt gewählte Regionalparlament — oder manchmal eine eigene statutgebende Versammlung — erarbeitet, diskutiert und verabschiedet selbst das Grundgesetz für ihre Autonomie. Danach wird dieses Statut dem Parlament zur Ratifizierung zugeleitet, kann vom Staat abgeändert oder vom Verfassungsgerichtshof angefochten werden, doch entscheidend ist die Hauptzuständigkeit der autonomen Region für die Grundregeln seiner Autonomie. Es ist Ausdruck der demokratischen Souveränität ihrer Bürger, zumindest im Rahmen des jeweiligen Staats. Was in Bundesstaaten Verfassungshoheit der Bundesländer genannt wird, könnte bei autonomen Regionen Statutshoheit genannt werden. Alle Regionen mit Normalstatut Italiens haben dieses Recht, doch ihr Statut ist bloßes Regionalgesetz ohne Verfassungsrang. Diese Macht der Regionen wird mit »autonomia statutaria« umschrieben, zu Deutsch besser wiedergegeben mit »Statutshoheit«.

Warum haben nun Italiens Regionen mit Sonderstatut keine Statutshoheit? Vordergründig deshalb, weil diese Statuten Teil der Verfassung sind und somit zwangsläufig vom Parlament verabschiedet werden müssen. Doch so zwingend ist das nicht. In Spanien verabschiedet jede Autonome Gemeinschaft ihr Statut selbst, kann es auch einer Volksabstimmung unterwerfen (wie in Katalonien zweimal geschehen), bevor es dem Parlament zur endgültigen Ratifizierung zugeleitet wird. Dort wird es mit einer besonderen »ley organica« in Kraft gesetzt, erhält also quasi Verfassungsrang. Entscheidend ist die politische Legitimation durch das Regionalparlament und die gesamte betroffene Bevölkerung. Dabei wird in Verhandlungen vorab die Frage gelöst, wie sich Staat und »Autonome Gemeinschaft« die Macht und Zuständigkeiten aufteilen.

In Italien werden die Statuten der Regionen mit Sonderstatut allein vom Parlament beschlossen, während die gewählte politische Vertretung der fünf betroffenen Regionen nur ein Vorschlagsrecht hat, also nur Änderungen an diesem Statut beantragen kann. Das Parlament kann diese Vorschläge annehmen oder verwerfen, aber auch einfach ignorieren und unbehandelt liegen lassen. Dies ist im Fall der Region Friaul Julisch Venetien geschehen, die sich 2004 mit partizipativem Verfahren (Konvent) ein neues Autonomiestatut gegeben hat. Seit 2005 wartet dieses Statut im Parlament auf bessere Zeiten bzw. gnädige Parlamentarier.

In eklatanter Weise zeigt das Beispiel Sardinien den Mangel an Statutshoheit auf. In einer Volksabstimmung haben die Sarden im Mai 2012 mit deutlicher Mehrheit dafür gestimmt, dass eine »statutgebende Regionalversammlung« direkt zu wählen sei: sie sollte ein neues Statut ausarbeiten, das der Regionalrat anschließend hätte verabschieden sollen. Welche Illusion. Mit verfassungsrechtlichen Winkelzügen wurde dieses urdemokratische Ansinnen vereitelt, und Sardinien hat immer noch kein neues Statut.

Grund dafür ist die mangelnde Zuständigkeit der fünf autonomen Regionen für ihr eigenes Statut. In Trentino-Südtirol wird dieser Mangel noch dadurch erschwert, dass Südtirol nicht eigenständig Abänderungen am geltenden Autonomiestatut einbringen kann, sondern nur der Regionalrat. Das führt dazu, dass in der laufenden Statutsrevision unserer Region nichts durchgehen wird, was Trentiner Interessen zuwiderläuft. Demokratie und Autonomie mit engen Grenzen.

Die Forderung nach Statutsautonomie ist weder utopisch noch zu weit hergeholt. Sie wäre nichts anderes als die konsequente Weiterentwicklung des Grundprinzips des Verhältnisses zwischen Staat und autonomen Regionen, nämlich des sogenannten »principio pattizio«. Heute wird die Anwendung der Statuten in paritätischen Kommissionen ausgehandelt, die Finanzbestimmungen werden zwischen Ministerium und Regionalregierungen ausgehandelt, selbst Verfassungsreformen werden zwischen Regierung und autonomen Regionen abgestimmt. So geschehen im Fall der famosen Schutzklausel für die Sonderstatutsregionen bei der Renzi-Verfassungsreform. Warum nicht das Autonomiestatut selbst, das nur ein umfassenderes Gesetz mit rund 100 Artikeln ist? Es kann bezüglich der Aspekte, die auch den Staat betreffen (Zuständigkeiten, Grenzen der Gesetzgebung, Organe des Staats in der Region) mit Rom ausgehandelt werden, den Rest kann der »Autonomen Gemeinschaft« mit möglichst viel Partizipation selbst überlassen bleiben. Wen der 99,2% der übrigen Bevölkerung Italiens kümmert es, wie Südtirol seine interne Organisation regelt?

Statutshoheit — die Bayern und Schweizer würden Verfassungshoheit sagen — ist keine abwegige Idee, sondern ein Grundanspruch von Regionen und Ländern mit Gesetzgebungsmacht. Südtirol ist mit anderen 73 Regionen und Bundesländern Mitglied der Konferenz der Europäischen Regionalen Gesetzgebenden Parlamente CALRE, zu deren erklärten Grundzielen auch Verfassungshoheit bzw. Statutshoheit gehört, als die demokratische Freiheit einer regionalen Gemeinschaft, sich ihr Grundgesetz selbst zu geben. Auch mit Eigenstaatlichkeit hängt Statutshoheit in gewissem Sinn zusammen. Wie will ein Land oder eine Region beanspruchen, in freier Abstimmung über seine (ihre) Souveränität und nachfolgend über eine Verfassung zu befinden, wenn es (sie) vorher nicht gemeinschaftlich Statutshoheit ausüben konnte?

PS: Mehr dazu gibt’s in der jüngsten POLITiS-Publikation »Mehr Eigenständigkeit wagen — Südtirols Autonomie heute und morgen«.

POLITiS: Mehr Eigenständigkeit wagen.

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