Categories
Autorinnen und Gastbeiträge

»Prügelknabe der ganzen Welt.«

Dieser Beitrag wird mit freundlicher Genehmigung des Autors* wiedergegeben. Er war zunächst am 30. März 2014 in der »Welt« erschienen.

Europa ist der Prügelknabe der ganzen Welt.

von Roland Benedikter

Amerikaner und Chinesen mokieren sich mit Vorliebe über den europäischen Patienten. Doch aufgepasst, auch sie stecken in schweren Krisen. Das alles ist der Preis einer beschleunigten Globalisierung.

In der globalen Diskussion ist es Mode geworden, Europa zu prügeln und auch für nicht europäische Probleme verantwortlich zu machen. Im Gedächtnis bleibt das “Europe-bashing” von US-Präsident Obama, der in den vergangenen Jahren keine Gelegenheit versäumte, dem Kontinent seine Geringschätzung zu beweisen.

Bereits seit dem Präsidentschaftswahlkampf 2008 betont er unablässig, Europa werde im Vergleich mit Asien immer weniger wichtig sein, weil es nicht nur tagespolitisch, sondern strukturell unfähig sei, seine Krisen in den Griff zu bekommen. Tragisch ist, dass man dies bei der zweiten Weltmacht des 21. Jahrhunderts, China, ähnlich zu sehen scheint.

Aufstrebende geopolitische Räume wie Südamerika sprechen inzwischen offen von der Notwendigkeit einer wirtschaftlichen und diplomatischen Abkehr von Europa. Sogar ein “vergessener Kontinent” wie Afrika, der immer stärker von China abhängig wird, hat anlässlich der 50-Jahr-Feiern der Afrikanischen Union vergangenes Jahr die Entscheidung getroffen, Europa zu “vergessen”. Und das unabhängig von Interventionen wie der Frankreichs in Mali.

Die Afrikanische Union war der Europäischen Union nachempfunden, aber ihr neuer Sitz in Addis Abeba ist ein Geschenk Chinas. Viele Afrikaner sind überzeugt, dass der “Plauderklub der Diktatoren” bisher nur ein Spiegelbild des “Plauderklubs EU” war – beide gleichermaßen handlungsunfähig und nutzlos.

Europa wird als Vergangenheitskultur gesehen

Europas angeblicher Abstieg wird aber nicht nur auf den Feldern von Wirtschaft und Politik behauptet. Nicht zu vergessen ist der nachlassende kulturelle Einfluss, der sich im Bedeutungsverlust der europäischen Sprachen und im Rückfall seiner Hochschulen zeigt.

Auch auf dem Gebiet zweier weiterer Schlüsselfelder der globalen Entwicklung: Demografie und Technologie wird Europa als Verlierer gesehen. Europäische Völker werden als zu klein erlebt, um global mithalten zu können.

Die größte europäische Nation, Deutschland, hat 82 Millionen Einwohner und schrumpft. Im Vergleich zu den 315 Millionen Einwohnern der USA oder den 1,35 Milliarden Chinas und den 1,24 Milliarden Indiens, aber selbst zu den 197 Millionen Menschen Brasiliens oder den 143 Millionen Russlands ist das wenig.

Europa wird mit seinem Fokus auf Nachhaltigkeit von praktisch allen anderen großen geopolitischen Zonen als Vergangenheitskultur identifiziert, da diese stattdessen auf Resilienz mittels technologischer Innovation setzen und sich damit als Zukunftskulturen sehen.

Religion und Spiritualität sind auf dem Vormarsch

Zudem wird Europa auch auf dem Feld der Letztbegründungsdiskurse als isoliert angesehen. Dazu gehören insbesondere Religion und Spiritualität. Diese sind in allen großen Weltzivilisationen seit Jahren auf dem Vormarsch.

Sie erleben nicht nur als Politikfaktoren einen beispiellosen Aufstieg, sondern prägen auch die kollektive Vernunft der entstehenden Weltgesellschaft hinsichtlich politischer Werte und Beziehungen mit – außer im als einziger Weltregion starrsinnig säkularen und laizistischen Europa. Diese “Andersheit” Europas dürfte sich in den kommenden Jahren eher verstärken.

Europas Reputation ist also insgesamt auf einem Tiefpunkt. Doch die Rede vom globalen Krisenzentrum Europa ist insgesamt überzogen. Denn die heutige Krise ist nicht europäisch, sondern mindestens tripolar: europäisch, amerikanisch und chinesisch. Auch Amerika steckt unter dem wiedergewählten Präsidenten Obama in der tiefsten ideologischen Polarisierung seiner Geschichte.

Während seine Institutionen funktionieren, ist die Bevölkerung weltanschaulich gespalten, was die politischen Entscheidungsprozesse lähmt. Eine Mitte zwischen beiden Seiten existiert nicht. Republikanern und Demokraten geht es weniger um Sachfragen, sondern um die Grundsatzfrage, was Amerika in Zukunft sein will.

Amerika ist in einem kalten Bürgerkrieg

Das Land befindet sich in einer Art “kaltem Bürgerkrieg”. “Corporate Democracy”, der Lobbyismus, der Washingtons Politik dominiert, und die Personenrechte von Unternehmen höhlen das amerikanische Individualitätsprinzip aus. Das wird heute erstmals einer breiten Mehrheit der Bevölkerung bewusst.

Die Erschütterung der heimkehrenden Soldaten aus dem Irak und Afghanistan, die ihre Häuser von Banken enteignet finden, kann kaum beschrieben werden. Außerdem befinden sich die USA unter dem Eindruck des Aufstiegs Chinas in einer “Post-Empire”-Depression.

Es könnte in dieser Lage sein, dass die USA mit ihrer “Asia First” Strategie und ihrer Abwendung von Europa einen der größten strategischen Fehler ihrer Geschichte machen. Denn was wird aus dem von Europa aus begründeten Amerika werden, wenn es seine Wurzeln abschneidet und Jahr für Jahr “pazifischer” wird? Kann es dann überhaupt noch Amerika bleiben?

China dagegen jongliert hart am Rand der Implosion, mit mindestens 90.000 Volksaufständen und Unruhen von je mehr als 500 Menschen im öffentlichen Raum in den Jahren 2011 wie 2012 – und das sind nur die offiziellen Statistiken der Regierung. Internationale Beobachter halten die wirkliche Zahl für doppelt so hoch.

China ist zu schnell gewachsen

Die Gründe liegen in fehlender Basisdemokratie, wachsender sozialer Ungleichheit, Stadt-Land-Gefälle, tausendfachen Zwangsumsiedlungen, Naturzerstörung und massiver Korruption in den Führungsspitzen.

China ist zu schnell gewachsen. Der Übergang von der Billiglohnphase in eine Phase internationaler Angleichung, die Immobilien- und Bankenblasen, der ungelöste Umbau des Finanzsystems und seine immer stärkere globale Einbindung, die brachliegenden Pensionsfonds, der ungebrochene Autoritarismus, der Mentalitätswandel der inzwischen meist im Ausland erzogenen Eliten und die fehlende Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit sind nur einige Dimensionen, die China in den tiefsten Umbruch seit Deng Xiaopings Öffnungspolitik in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre versetzen.

Wie Berater der chinesischen Regierung, etwa Robert Martin Lees oder Ernst Ulrich von Weizsäcker, bereits seit Langem betonen, steht China kurz vor dem inneren Kollaps, wenn es keine Demokratie wird. Das aber ist eine Herausforderung, die der der europäischen Einigung in nichts nachsteht.

Interessanterweise herrscht bei alledem heute in den USA eine ebensolche selbsterfüllende Prophezeiung des Niedergangs wie in Europa, während in China der Mythos des unaufhaltsamen Aufstiegs allmählich von zunehmenden sozialen Problemen unterminiert wird. Beide Gesellschaften haben allerdings den Vorteil eines im Kern ungebrochenen, selbstverständlichen Nationalismus, der sich in Amerika aus der Zivilreligion, in China aus der traditionellen Kultur speist.

Europa negiert den Nationalismus als Kraft

Europa hat diesen Stabilitätsfaktor nicht. Ganz im Gegenteil: Es hat versucht, ihn hinter sich zu lassen. Je mehr Europa, desto weniger Nationalismus – und desto weniger Glaube an die Selbstverständlichkeit des Eigenen.

Aber ist das nur von Nachteil? Könnte sich nicht im Gegenteil nach und nach erweisen, dass Europa der zukunftsweisendere Kontinent ist, weil er etwas ganz Neues und Unerhörtes versucht: nicht nationale Einheit und Expansion wie alle anderen, sondern Einheit in der Vielfalt bei Selbstbegrenzung?

Das ist ein völlig neues Experiment. Es könnte sein, dass Europa als einziger Kontinent Elemente künftiger Ordnung vorwegnimmt, ähnlich wie zum Beispiel die Schröder-Reformen der Agenda von vielen als unnötig oder falsch empfunden wurden, aber heute die Stärke und Modellfunktion Deutschlands begründen.

Die große Frage der kommenden Jahre wird weniger sein, ob Europa der Krisenkontinent ist oder nicht. Sondern, ob es künftig überhaupt noch etwas anderes als “Krise” geben wird, ob “Krise” nicht vielmehr zum Grundmerkmal jeder weiteren globalen Entwicklung wird – und ob Krise daher nicht mehr zyklisch, sondern permanent zu denken ist.

Umbruch wird zum Dauerzustand

Umbruch wird zum Dauerzustand in Zeiten allgemeiner “Gegenwartsschrumpfung” (Herrmann Lübbe), der Kultursubstitution durch Technik und der globalisierten Beschleunigungskultur der neuen Kommunikationsmittel. Deren sozialpsychologischer Einfluss in Echtzeit rund um den Globus macht das internationale Netz auf der einen Seite stabiler, auf der anderen Seite aber zugleich anfälliger für Krisen. Denn sie tendieren dazu, Struktur durch Prozess, Realität durch Einbildung und Stabilität durch Veränderung, wenn nicht Volatilität zu ersetzen. Das ist der Preis für den Geschwindigkeitsgewinn.

Die heutige Krise ist eine Reaktion auf die Globalisierung in allen großen Weltzivilisationen, welche die multipolare Welt der Zukunft ausmachen und in ihrem Wechselspiel gestalten werden. Nach Erreichung eines ausreichenden Sättigungsgrads der vorausgehenden Inkubationsphasen seit 1989–91 ist das derzeitige globale “Krisennetz” ein Zurückscheuen vor dem Realwerden dieser neuen Welt, und zugleich ein Lernen auf sie hin. Sie ist eine Art immunologische Gegenreaktion auf die bisherige Phase der Globalisierung. Sie ist notwendig für die Entstehung einer neuen Ordnung, die die Menschheit stärker zusammenschließen wird.

Europa ist nicht an dieser Konstellation schuld, sondern selbst Ausdruck des Wandels. Europa ist derzeit der international am wenigsten verstandene Kontinent. Da sich geopolitische Räume zusammenschließen und sich erneut Machtkämpfe sehr traditionalistischen Zuschnitts zwischen Großnationen entfalten, versteht die Welt erst unzureichend, dass Europa nicht (mehr) daran interessiert ist, an den neuen “great games”, etwa um die Ukraine, mitzuspielen.

Vielmehr wählt man einen neuen Weg: das Experiment nicht der Selbststeigerung, sondern das des Interessensausgleiches, dem Begrenzung und Verrechtlichung von Beziehungen gewidmet ist. Wer, wenn dieses Experiment auch nur ansatzweise gelingt, dann der wahre Krisenkontinent der Welt ist, wird sich erst noch zeigen.

*) Roland Benedikter, C. Prof. Dott. DDDr., born 1965, is European Foundation Fellow 2009-13, in residence at the Center for Global and International Studies of the University of California at Santa Barbara with duties as Research Professor of Political Sociology, and Research Scholar at the Forum on Contemporary Europe of Stanford University, Visiting Research Scholar 2009 European Institute, Columbia University New York (Kurzprofil: Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft ’Politika’)

Einen Fehler gefunden? Teilen Sie es uns mit. | Hai trovato un errore? Comunicacelo.
Categories
BBD

Sparen wir uns den Nationalstaat.

In der Süddeutschen Zeitung vom 29.03.2014 provoziert Stefan Ulrich mit einem Vergleich zwischen Südtirol und der Krim. Er ersetzt die Krim kurzerhand durch Südtirol, die Ukraine durch Italien und Russland durch Österreich. Klingt alles absurd. Ist es auch, sollte man meinen. Ziel der Übung: Wohl ein Vergleich zwischen innereuropäischen Unabhängigkeitsbestrebungen und den Vorgängen in der Ukraine.

Die EU hat den Umgang unter den Mitgliedsländern zivilisiert, sie sorgt für einen gemeinsamen Markt und die NATO sorgt für militärische Sicherheit. Warum also sollte eine nach Unabhängigkeit strebende Region zur Zugehörigkeit zu einem bestimmten Nationalstaat gezwungen werden? Warum sollte es nicht möglich sein, dass Katalonien, Schottland oder Südtirol als souveräne, unabhängige Regionen weiterhin Mitglied der EU bleiben und der Prozess, der den Weg dorthin ebnet, von höchster EU-Ebene definiert und begleitet wird?

Das Prinzip der Unantastbarkeit der nationalstaatlichen Grenzen scheint eines der letzten europäischen Tabus zu sein.

Stefan Ulrich glaubt, dass die nach Sezession strebenden europäischen Regionen mit einem Drei-Ebenen-Modell beruhigt werden könnten: Ebene 1 – die EU, Ebene 2 – die heutigen Nationalstaaten und Ebene 3 – die Regionen.

Eine Antwort darauf, warum Regionen, die innerhalb der EU souverän und unabhängig sein möchten überhaupt eine zweite Ebene benötigen, gibt er nicht. Möglicherweise kann sich der Autor einfach nicht vom Konzept der nationalstaatlichen »Solidargemeinschaft« lösen. Auch deshalb wird das Solidaritätsargument ins Spiel gebracht. Es scheint mittlerweile so zu sein, dass jede nach Unabhängigkeit strebende Region sich entweder verhöhnen lassen muss, wenn die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit nicht eindeutig ist, oder der mangelnden Solidarität bezichtigt wird, wenn ein hoher Nettoüberschuss an den Zentralstaat wandert.

Für Stefan Ulrich ist im Falle von Venetien, Südtirol, Katalonien und Schottland vor allem letzteres der Fall: Mangelnde Solidarität, die nach einer erfolgten Unabhängigkeit umso größere soziale Verwerfungen in Spanien, Italien oder Großbritannien hinterlassen würde.

Ökonomisch ist dieses Argument in keiner Weise belegt. Selbständigkeit erzeugt ein neues Niveau an Eigenverantwortung. Es wäre nicht verwunderlich, wenn Sizilien oder Sardinien ohne den Zentralstaat ökonomisch besser leben würden als heute. hat sich zudem immer für einen innereuropäischen Finanzausgleich ausgesprochen, der klaren Regeln und Zielsetzungen folgen muss. Der Nettoüberschuss Südtirols an den Zentralstaat folgt dagegen weder klaren Regeln, noch dient er irgendeiner nachvollziehbaren Zielsetzung. Zudem setzen die Summen, um die es mittlerweile geht, die Zukunft Südtirols aufs Spiel.

Einige Zahlen:

  • Südtirol (Einwohner: 0,5 Mio., BIP: 18,5 Mrd.) dürfte heuer einen Nettoüberschuss von 1,5 Milliarden Euro an den Zentralstaat überweisen. Die volkswirtschaftliche Gesamtsituation Südtirols dürfte sich aufgrund der steigenden italienischen Staatsverschuldung sogar um über 2 Milliarden Euro verschlechtern.
  • Bayern (Einwohner 12,5 Mio., BIP: 488 Mrd.) zahlt innerhalb des deutschen Länderfinanzausgleichs 2013 eine Summe von 4,3 Milliarden Euro. Dagegen will der Freistaat rechtlich vorgehen.
  • Die Staatsverschuldung Griechenlands betrug 2011 355 Milliarden Euro. Seither folgt ein Rettungspaket nach dem anderen. Warum mag nicht (z.B.) Deutschland die griechischen Schulden in vier bis fünf Jahren vollständig abzahlen? Je nachdem, wie wir rechnen, entspräche der Südtiroler Beitrag von 1,5 Milliarden Euro an den Zentralstaat ca. 85 Milliarden Euro, die Deutschland an Griechenland überweisen würde. In 4 bis 5 Jahren wäre Griechenland schuldenfrei — als Akt der europäischen Solidarität könnte man dies doch verlangen dürfen? Südtirol überweist auf seine Wirtschaftskraft bezogen diesen Betrag an den Zentralstaat und muss sich dafür noch vorschreiben lassen wo und in welchem Ausmaß gespart werden soll.

A propos Einsparungen: Im Gesundheitsbereich sollen in Südtirol heuer 40 Millionen Euro eingespart werden. Der Ärztegewerkschaft ANAAO fällt zu diesem Thema nichts besseres ein, als die Schließung der Krankenhäuser in Innichen, Sterzing und Schlanders zu fordern. In einer Woche überweisen wir den Betrag von 40 Millionen Euro ohne jegliche Gegenleistung an den Zentralstaat. Daran etwas zu ändern fällt der zentralistischen, nicht selten nationalistisch angehauchten Gewerkschaft ANAAO nicht ein.

Das Ökonomische, so wichtig es auch ist, sollte jedoch nicht den Blick auf andere zentrale Themen verschleiern. Stefan Ulrich warnt vor dem Streben nach neuen völkisch fundierten Nationalstaaten. Dies wäre tatsächlich ein fataler Ansatz. Doch gerade die bestehenden Nationalstaaten haben bisher vielfach wenig Sensibilität für die sich von der Titularnation unterscheidenden Regionen entgegengebracht. Gerade deshalb besteht die große Chance einer europäischen Weiterentwicklung darin, dass der Kontinent vor allem an den Bruchlinien der Nationalstaaten neu entsteht und zusammenwächst. Ein Zusammenwachsen durch neue, mehrsprachige, nicht nach nationalen Kriterien definierte, unabhängige und in Europa eingebettete Regionen. An den nationalstaatlichen Bruchlinien, wo viele willkürlich gezogene Grenzen noch nie viel Sinn machten kann für Europa ein neuer Mehrwert entstehen, der vor 100 Jahren zerstört wurde. Die nach Unabhängigkeit strebenden Regionen an den Bruchlinien müssen allerdings jeglichen »nationalstaatlichen« Versuchungen widerstehen.

Einen Fehler gefunden? Teilen Sie es uns mit. | Hai trovato un errore? Comunicacelo.
Categories
BBD

»Sezession ist Sezession.«

Gastbeitrag für das Onlineportal Telepolis, dort erschienen am 25.03.2014.

Die ebenso einfache wie trügerische Gleichung »Sezession ist Sezession« scheint den meisten Kommentaren zugrunde zu liegen, die die Vorgänge der letzten Wochen auf der Krim in einem Atemzug mit Schottland, Katalonien oder Südtirol erwähnen. Keinem Kommentator käme in den Sinn, nach einer ebenso vereinfachenden Maxime (in etwa »Staat ist Staat«) die USA, Deutschland oder die Schweiz mit Nordkorea gleichzusetzen, bloß weil es sich in all diesen Fällen um staatliche Gebilde handelt. Oder, um bei der Ukraine zu bleiben: Würde jemand ernsthaft mit Verweis auf die Gewalteskalation am Maidan vor einer friedlichen Kundgebung in Brüssel warnen? Wohl kaum — trotzdem soll die Krim nun angeblich als abschreckendes Beispiel für demokratische Prozesse in der EU dienen.

Seriöse und differenzierte Vergleiche lassen, kratzt man etwas an der Oberfläche, eklatante Unterschiede zwischen den Sezessionsbestrebungen auf der Krim und in der EU zutage treten, die eine Gleichsetzung als völlig realitätsfremd enttarnen. Was sich derzeit in der Ukraine abspielt, sind geopolitische und geostrategische Nachbeben des Kalten Krieges. Seit Jahren trachten die EU und Russland danach, ihren Einflussbereich auf die ehemalige Sowjetrepublik zu erweitern, wobei sie sich nur dann um die Einhaltung internationalen Rechts scheren, wenn es ihnen nützlich erscheint. So begünstigte die Europäische Union einen demokratisch spärlich legitimierten prowestlichen Machtwechsel in Kiew und nahm dabei, wie bemerkt wurde, auch neofaschistische Verbündete in Kauf.

Um nicht tatenlos zusehen zu müssen, wie ihm sein geografischer Vorhof wegbricht, inszenierte Putin ein Plebiszit für die Annexion der Krim: Die ist für Russland vor allem als Zugang zum Schwarzen Meer von militärstrategischer Bedeutung. Nichtsdestoweniger waren die jüngsten Ereignisse ein offenkundiges Beispiel für diplomatische Heuchelei: Den Putsch in Kiew legitimierten Vertreter der EU zunächst noch als Ausdruck von Selbstbestimmung. Als auch Putin, der ähnliche Ansprüche im eigenen Land (Tschetschenien) gern mit Panzern niederwalzt, das Selbstbestimmungsrecht für sich entdeckte, geißelte dies der Westen plötzlich mit Verweis auf die staatliche Integrität — obwohl man diese selbst nicht immer achtet (Irak, Afghanistan).

Kurzum: Sowohl in Kiew, als auch auf der Krim dürften Demokratie und Interessen der heimischen Bevölkerung im besten Fall eine Nebenrolle gespielt haben. Dasselbe gilt übrigens auch für die ukrainische Verfassung, die von der EU strapaziert wird, um die Abspaltung der Schwarzmeer-Halbinsel zu verurteilen, während sie beim Putsch in Kiew geflissentlich übersehen wurde.

Die Sezessionsbewegungen in der EU sind aus geostrategischer Sicht nachrangig. Es geht vielmehr um die »innenpolitische« Frage, ob die Union gewillt und imstande ist, einen weiteren, entscheidenden Schritt hin zur Überwindung der Nationalstaaten zu vollziehen, die die großen Verwerfungen des letzten Jahrhunderts, einschließlich des Kalten Krieges, erheblich mitverursacht haben.

Abgrenzung aufgrund angeborener Eigenschaften, Vortäuschung ethnischer Homogenität und der Anspruch, alle Mitglieder eines »Volkes« in einem Staat zu vereinigen (Gründe, die auch Russland für die Angliederung der dreisprachigen Krim vorschob), schufen jene explosive Mischung, die zwei »europäische« Weltkriege verursachte.

In mehrsprachigen Gebieten, zumal an den Grenzen der Nationalstaaten, sind die Widersprüche dieser historischen Entwicklungen am deutlichsten sicht- und spürbar, weshalb es Regionen wie Schottland, Katalonien und Südtirol sind, die sich jetzt dem homogenisierenden Anspruch der Nationalstaaten, durch den sicheren Rahmen der EU geschützt, am schnellsten entziehen möchten. Da sie nicht das Ziel verfolgen, neue Nationalstaaten zu bilden, sind diese territorialen, keineswegs expansionistischen Bewegungen kein Widerspruch, sondern konsequente Folge des Einigungsprozesses: Nicht mehr übergeordnete Interessen großer Weltmächte sollen die innereuropäischen Grenzverläufe bestimmen, sondern der freie Wille der Bevölkerung.

Brüssel sollte eigentlich daran interessiert sein, diese demokratischen Prozesse im Sinne einer unumkehrbaren Verflechtung des kontinentalen Raums zu unterstützen, statt am bisherigen Club der Nationalstaaten festzuhalten. Wenn nun aber gezeigt wird, dass Sezessionen auch im 21. Jahrhundert nur dann möglich sind, wenn expansionistische Bestrebungen einer Atommacht im Spiel sind, die im besten Fall über ein Vetorecht im UN-Sicherheitsrat verfügt, ist dies eindeutig das falsche Signal.

Die EU hätte als Friedensprojekt die Chance, alternative und wirklich demokratische Wege aufzuzeigen, wenn sie den Willen ihrer BürgerInnen höher bewertet, als überkommene Prinzipien wie die Einheit von Staaten. Statt sich aus wirtschafts- und machtpolitischem Eigeninteresse in anderen Ländern einzumischen, könnte sie dann weltweit glaubwürdig für Demokratie eintreten. Am Maidan ist dies gescheitert.

Einen Fehler gefunden? Teilen Sie es uns mit. | Hai trovato un errore? Comunicacelo.
Categories
BBD

Scheidung auf Europäisch.

Die Neue Zürcher Zeitung vom 17.03.2014 spannt im Artikel »Scheidung auf Europäisch ist besser als Drohung und Zwang« (S. 10) einen Bogen vom Konflikt um die Krim bis zu den jüngsten Sezessionsbewegungen innerhalb der Europäischen Union.

Der Autor geht dabei nicht auf die zweifelhaften und fragwürdigen Hintergründe der Abstimmung auf der Krim ein, sondern stellt lapidar fest, dass die Grenzen Europas noch nicht gezogen sind. Die Volksbefragung zur Sezession der Krim würde dies eindrücklich vor Augen führen.

Das Verschwinden des Eisernen Vorhanges hatte in der Folge zur Auflösung Jugoslawiens und der Sowjetunion geführt, neue Staaten entstanden. Die Tschechoslowakei spaltet sich auf. In Georgien und in der Moldau gibt es immer noch mehr oder weniger eingefrorene Konflikte um abgespaltene Landesteile. Zugleich entwickelte das supranationale Gebilde EU eine enorme Anziehungskraft auf ehemalige Länder des sogenannten Ostblocks.

Angesichts der dramatischen Ereignisse in der Ukraine erscheinen die Anliegen anderer abspaltungswilliger Regionen Europas wenig spektakulär. Ernst zu nehmen sind sie trotzdem. In diesem Jahr steht das Referendum im September in Schottland über die Unabhängigkeit an. Kataloniens Regionalregierung hat für November 2014 eine Volksabstimmung über die Loslösung von Spanien geplant.

Während Madrid die Unabhängigkeitswünsche Kataloniens bei jeder sich bietenden Gelegenheit torpediert sieht der Autor in den Entwicklungen Schottlands einen Vorbildcharakter.

Schottland könnte zu einem Modell werden, wie auf zivilisierte Weise mit Sezessionsbestrebungen umgegangen werden kann. Unter einem gemeinsamen Dach wie der EU müssten eine Regionalisierung und das Ausleben des Subsidiaritätsprinzips erheblich leichter sein als ohne eine verbindende Klammer.

Die offiziellen Wortmeldungen aus der EU-Kommission klingen jedoch anders: Eine Region, die sich von einem Mitgliedsstaat abspaltet, ist automatisch nicht mehr Teil der EU.

Ein erstaunliches Verhalten, auch deshalb, da die Position der Kommission einer Grundlage in den europäischen Verträgen entbehrt. Die Materie ist also gar nicht geklärt, doch anstatt sich rechtlich an neue Entwicklungen anzupassen, versucht man es vorläufig mit Drohungen.

Dies verwundert auch deshalb kaum, weil die Vertreter der supranationalen Organisationen aus Repräsentanten der Zentralregierungen bestehen.

Einem jedoch auch als Friedensprojekt titulierten Gebilde, sowie den Mitgliedsstaaten würde es gut anstehen, Volksabstimmungen über Loslösungen von einem Nationalstaat zuzulassen.

Eine Zivilisierung der Rhetorik würde die Energien auf den Inhalt der Abstimmungen fokussieren. Konkret, worüber überhaupt abgestimmt wird und wie die technischen Details geklärt werden. Auch bei einer geordneten Sezession gilt es eine Vielzahl an Themen zu klären: die Währungsfrage, die Übernahme von Schulden, die Klärung von Pensionsfragen, die Nachfolge bezüglich internationaler Verträge usw.

Der Autor plädiert für ein klares Regelwerk: »Eine klar definierte Scheidung auf Europäisch wäre aber allemal besser als Drohungen und Zwang.«

Zusammen mit den auf europäischer Ebene definierten Scheidungsregeln müsste auch die Rolle des Nationalstaates neu justiert werden. Für viele Regionen ist die nationalstaatliche Ordnung einfach der falsche Rahmen. Diesen Regionen, die vielfach an den Bruchstellen der heutigen Nationalstaaten liegen, muss es ermöglicht werden, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Entgegen vielen Kritikern, die dies als Rückfall in die Kleinstaaterei sehen, wäre dies der Schlüssel für eine nachhaltige Integration der EU und möglicherweise auch der Schlüssel für eine neue Rolle der EU in Konflikten, wie dem, der sich derzeit in der Ukraine abspielt.

Jörg Baberowski, Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin, unterstellt den westlichen Regierungen im Zeit-Artikel »Zwischen den Imperien« vom 13.03.2014, dass man in der Ukraine auf einen Nationalstaat im Sinne des 19. Jh. besteht. Tatsächlich ist die Ukraine ein multiethnisches Land, mit einer komplexen Geschichte.

Vielleicht hätte man durch ein besseres Verständnis, für nicht im nationalstaatlichen Sinne einheitliche Regionen und Länder, in der Ukraine zukunftsfestere Szenarien entwickeln können? Vielleicht wäre man dann sogar auf die Idee einer unabhängigen, mehrsprachigen, multiethnischen Krim gekommen und hätte sogar Moskau für eine solche Idee gewinnen können?

Wie will der Westen aber solche Szenarien international schmackhaft machen, wenn er nicht in der Lage ist, innereuropäische Sezessionsbestrebungen, ohne nationalstaatliche Bevormundungen und Drohungen, aktiv im postnationalen Sinne zu begleiten?

Einen Fehler gefunden? Teilen Sie es uns mit. | Hai trovato un errore? Comunicacelo.
Categories
BBD

Die EU und die Krimkrise.

Im Umgang mit der Krimkrise führt uns die EU ein Lehrstück an Doppelzüngigkeit und Opportunismus vor: Die vom Parlament der autonomen Republik beschlossene Loslösung der Halbinsel von der Ukraine werde nicht anerkannt, so europäische Vertreter, da sie gegen die ukrainische Verfassung verstoße. Man hätte argumentieren können, dass die jetzigen Entwicklungen nicht anerkannt würden, weil sie unter dem Eindruck einer militärischen Besetzung stattgefunden haben, doch die EU hat es vorgezogen, die Legalität vorzuschieben.

Was im Laufe der letzten Wochen und Tage in Kiew vorgefallen ist, hat mit der ukrainischen Verfassung ebenfalls sehr wenig (aber viel mit einem Putsch) zu tun. Trotzdem wurde die neue Regierung von der EU de facto anerkannt, es werden auch schon gemeinsame Verhandlungen geführt. Zu allem Überfluss werden die Töne in der Hauptstadt gegen die russischen Einwohner der Ukraine immer schriller — was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass an der Übergangsregierung auch die Neonazis von Swoboda sitzen. Deren Anführer wurde gar zum stellvertretenden Regierungschef ernannt — eine Personalie, mit der die EU offenbar auch keine Probleme hat.

Siehe auch ‹1 ‹2

Einen Fehler gefunden? Teilen Sie es uns mit. | Hai trovato un errore? Comunicacelo.
Categories
BBD

EU & Selbstbestimmung.
Quotation

Die EU verlangt das Recht auf Selbstbestimmung. Demokratie lasse sich nicht mit Polizeigewalt niederknüppeln.

ZDF heute-journal vom 28. Jänner zum Thema Ukraine

Siehe auch ‹1 ‹2

Einen Fehler gefunden? Teilen Sie es uns mit. | Hai trovato un errore? Comunicacelo.
Categories
BBD

Medaillenspiegel.

Turin06.Olympische Winterspiele in Turin 2006. Endstand.

(Gold – Silber – Bronze)

11-12-6 Deutschland
9-9-7 Vereinigte Staaten
8-6-8 Russland
7-10-7 Kanada
7-2-5 Schweden
6-5-7 Österreich ¹ ²
6-3-2 Südkorea
6-2-2 Gesamttirol ¹ ³
5-4-5 Schweiz
4-0-5 Italien ¹ ²
3-2-4 Frankreich
3-2-4 Niederlande
3-0-0 Estland
2-8-9 Norwegen
2-4-5 China
1-2-1 Tschechien
1-2-0 Kroatien
1-0-2 Südtirol ¹
1-0-1 Australien
1-0-0 Japan
0-6-3 Finnland
0-1-1 Polen
0-1-0 Weißrussland
0-1-0 Bulgarien
0-1-0 Großbritannien
0-1-0 Slowakei
0-0-2 Ukraine
0-0-1 Lettland

Medaillen für Tirol:

  • Armin Zöggeler (Gold), Kunstbahnrodeln
  • Benjamin Raich (2xGold), Riesentorlauf und Slalom
  • Andreas Linger/Wolfgang Linger (Gold), Rodeln (Doppelsitzer)
  • Christoph Bieler (Gold), Kombination (Teambewerb)(2)
  • Andreas Widhölzl/Andreas Kofler (Gold), Skispringen (Teambewerb)(2)
  • Niki Hosp (Silber), Slalom
  • Andreas Kofler (Silber), Skispringen
  • Oswald Haselrieder/Gerhard Plankensteiner (Bronze), Rodel-Doppelsitzer
  • Gerda Weissensteiner (Bronze), Zweierbob (Teambewerb)(2)

¹ Teambewerbe wurden jeweils beiden Mannschaften zugeordnet;
² Ohne Tirol;
³ Nord-, Süd-, Osttirol;

Dazu eine aktuelle Diskussion.

Einen Fehler gefunden? Teilen Sie es uns mit. | Hai trovato un errore? Comunicacelo.

You are now leaving BBD

BBD provides links to web sites of other organizations in order to provide visitors with certain information. A link does not constitute an endorsement of content, viewpoint, policies, products or services of that web site. Once you link to another web site not maintained by BBD, you are subject to the terms and conditions of that web site, including but not limited to its privacy policy.

You will be redirected to

Click the link above to continue or CANCEL