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Autorinnen und Gastbeiträge

Putin und die Pazifisten.

Keine Waffen an die Ukraine und schon herrscht Frieden!

So oder ähnlich argumentieren die Kriegsgegner. Hat die Ukraine einen Krieg begonnen? Verüben ukrainische Soldaten Kriegsverbrechen? Hat die Ukraine fremde Gebiete annektiert? Russland ist der Täter, die Ukraine das Opfer.

Die Ukraine soll sich also ergeben, fordern die Pazifisten und dann herrscht Frieden. Wie in Butscha oder in vielen anderen Dörfern und Städten, wo russische Soldaten wüteten, Kriegsverbrechen verübten.

Was passiert mit den besetzten ukrainischen Gebieten? Sie werden wohl russisch bleiben, weil für den Frieden die Ukraine Kompromisse eingehen muss.

Was passiert mit den Vertriebenen, mit den nach Russland Deportierten? Sie werden vertrieben und deportiert bleiben. Zum Erhalt des Friedens. Dafür werben die Pazifisten der Marke Cinque Stelle.

Verwunderlich ist dies keineswegs. »Russland unterstützt … die Lega Nord sowie die Cinque Stelle«, zitiert Catherine Belton in ihrem Recherche-Buch Putins Netz Michael Carpenter, 2015 Russland-Berater des damaligen US-Vizepräsidenten Joe Biden. Die Cinque Stelle, die fünfte Kolonne des Putin-Regimes in Italien. Für Putin-Fans wie Giuseppe Conte und seine Stelle ist die widerstandsleistende Ukraine der Täter, Russland wahrscheinlich das Opfer.

Das war auch in den fernen 1990er Jahren die pazifistische Argumentation gegen Waffenlieferungen für Bosnien. Die ehemalige jugoslawische Volksarmee und die serbischen Milizen verwüsteten — hochgerüstet — das angeblich musulmanische Bosnien. Vergewaltigungen, Massenmorde, »ethnische Säuberungen«, Srebrenica, Sarajewo, usw.

Ganz im Sinne der Pazifisten bestraften die westlichen Staaten Bosnien mit einem Waffenembargo. Russland versorgte die serbischen Brüder aus seinem riesigen Waffenarsenal. Die Folgen sind bekannt, das multikulturelle und multireligiöse Bosnien wurde aufgeteilt, die Serben erhielten ihren ethnisch gesäuberten Kanton, die bosniakischen Siedlungsgebiete wurden dem kroatischen Landesteil angegliedert. Es herrscht zwar kein Krieg mehr in Bosnien, aber auch kein Frieden.

Bosnien, das Modell für die Ukraine, angepriesen von den italienischen Pazifisten. Eine unglaubliche Arroganz von späten Nachfahren des Faschismus, die den UkrainerInnen empfehlen, sich dem russischen Imperialismus unterzuordnen.

Eine arrogante Haltung auch, weil Italien laut der Arbeitsgruppe zur Ausfuhr konventioneller Waffen (COARM) zwischen 2015 und 2020 Rüstungsgüter im Wert von 22,5 Millionen Euro an Russland verkauft hat. Die Firma Iveco lieferte Fahrzeuge im Wert von 25 Millionen Euro an Russland, listet Investigate Europe auf. Ein Journalist von La 7 entdeckte die Kriegsfahrzeuge Lince von Iveco Anfang März an der ukrainischen Front. Ab 2015 wurden immer weniger Waffen und Munition von Italien nach Russland geliefert. 2021 wurden es dann wieder mehr. Laut Exportdaten der Statistikbehörde Istat lieferte Italien zwischen Januar und November 2021 »Rüstung und Munition« im Wert von 21,9 Millionen Euro nach Russland.

Roman Schwarzman aus Odesa sprach am 20. Oktober im deutschen Bundestag. Die Botschaft des Holocaustüberlebenden war unmissverständlich, Putin sei »ein ver­dien­ter Schüler Hitlers«. Schwarzman findet im Interview mit Ukraine verstehen klare Worte zur russischen Invasion in seiner ukrainischen Heimat. Im Gespräch mit Ira Peter redet er nicht lange herum, schon gar nicht politisch korrekt. Die Ukraine sei auf tückische Weise überfallen worden, sagt der Holocaustüberlebende, »wie es Adolf Hitler im Juni 1941 getan hat. … Niemand hätte gedacht, dass im 21. Jahr­hundert ein solches faschis­ti­sches Monster wie das aus dem heu­ti­gen Russ­land auftaucht«.

Der ehe­ma­li­ge KGB-Mann Putin weiß laut Schwarzman »wie man einen Ver­nich­tungs­krieg führt, vor allem auch, wie man die zivile Bevöl­ke­rung ver­nich­tet. Er will prak­tisch unsere gesamte Bevöl­ke­rung ver­nich­ten, auch unsere Infra­struk­tur, sogar Kran­ken­häu­ser und Schulen. Hitler und Putin sind Zwil­lings­brü­der«.

Schwarzman zitiert den Propaganda-Slogan »Denazifizierung« von Putin: »Während im 20. Jahr­hun­dert eine ‘End­lö­sung für die Juden­frage’ gesucht wurde, benutzt Putin den Begriff heute, um die Ukraine völlig zu zer­stö­ren. Er behaup­tet, es gab die Ukraine nicht, es sei ein Land, das erfun­den worden ist. Der eine hat sechs Mil­lio­nen Juden ver­nich­tet. Der andere will 40 Mil­lio­nen Ukrai­ner ver­nich­ten«.

Roman Schwarzman sagt im Interview mit Ukraine verstehen, Putin und seine Unterstützer seien Terroristen, weil sie Zivi­lis­ten ermorden. Deutliche Worte, auch an die vielen Putin-Versteher und Russlandverehrer in Deutschland, Österreich und Italien. Schwarzman plädiert auch für verstärkte Waffenlieferungen an die ukrainische Armee, um dem russischen Terror widerstehen zu können.

Die deutsche Geschichte, auch und besonders in der von den Nazis verwüsteten Ukraine, verpflichte Deutschland zu einer weiterreichenden Verantwortung, so das Zentrum für liberale Moderne. Weil die Geschichte die Gegenwart prägt: »Aus der Shoa und dem Vernichtungskrieg im Osten erwächst politische Verantwortung in der Gegenwart: gegenüber dem Judentum, dem Staat Israel, aber auch gegenüber mittelosteuropäischen Ländern wie der Ukraine und Polen«.

Die pazifistischen Russlandversteher sollten — statt sich dem traditionellen Antiamerikanismus hinzugeben — das Tagebuch einer Invasion von Andrej Kurkow durchblättern. Kurkow macht aus seiner Enttäuschung über den Westen — insbesondere über Deutschland wegen der Zögerlichkeit beim Thema Waffenlieferungen — keinen Hehl. Seine Angst, dass die Ukraine im Stich gelassen, ja verraten wird, wächst angesichts der immer offensichtlicher zu Tage tretenden Brutalität der russischen Angreifer mit jedem Kriegstag spürbar.

Der Druck von außen, schreibt er, festige den Zusammenhalt im Innern des politisch vormals durchaus gespaltenen Landes: »Zusammengefasst ist dieses Buch nicht nur eine Chronik des Angriffs von Russland auf die Ukraine, sondern auch eine Chronik darüber, wie der von Russland angezettelte Krieg (…) zur Stärkung der nationalen Identität der Ukraine beigetragen hat.« Kurkow bezeichnet sich selbst als einen ethnischen Russen.

Sein Vorwurf an den russischen Kriegspräsidenten: »Putin zerstört nicht nur die Ukraine, er zerstört Russland und damit auch die russische Sprache. In diesem schrecklichen Krieg (…) ist die russische Sprache wohl eines der unbedeutendsten Kriegsopfer. Ich habe mich schon viele Male für meine russische Herkunft geschämt, für die Tatsache, dass meine Muttersprache Russisch ist. Ich habe mir verschiedene Formeln überlegt, um zu belegen, dass die Sprache nicht schuld ist. Dass Putin die russische Sprache nicht gehört.«

Zurück zu den Pazifisten: Hätten die antifaschistischen Widerstandskämpfer in den 1940er Jahren statt auf Schwarzhemden und deutsche Soldaten zu schießen, mit Friedensfahnen demonstrieren sollen?

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Atreju: Reingewaschener Rechtsextremismus.

Bei Atreju, Veranstaltung der neofaschistischen Rechten von FdI, gaben sich vom 6. bis zum 12. Dezember wieder besonders viele Weißwäscherinnen die Klinke in die Hand — also Personen, die selbst nicht oder nicht klar dem rechtsradikalen bis -extremen Lager zuzurechnen sind, es mit ihrer Anwesenheit jedoch verharmlosen, legitimieren und normalisieren. Damit zeigt sich der Erfolg einer Entwicklung, die vor allem von Silvio Berlusconi geboostert wurde, der nunmehr sogar für das Amt des Staatspräsidenten im Gespräch ist.

Auch die jüngsten Recherchen und Enthüllungen von Fanpage konnten dieser Dynamik offenbar nichts anhaben.

Hier zum Staunen eine unvollständige Liste der Teilnehmenden und Mitwirkenden:

  • Francesco Alberoni (Soziologe und Universitätsprofessor)
  • Claudio Barbaro (Asi-Präsident)
  • Gian Carlo Blangiardo (Istat-Präsident)
  • Emanuele Boffi (Direktor der Zeitschrift Tempi)
  • Carlo Bonomi (Präsident von Confindustria)
  • Marina Calderone (Vorsitzende des Rats der Arbeitsberaterinnen)
  • Franco Cardini (Historiker und Universitätsprofessor)
  • Marta Cartabia (Ministerin der Regierung Draghi, Justiz)
  • Sabino Cassese (Jurist, ehemals Verfassungsrichter)
  • Tommaso Cerno (PD-Senator)
  • Lorenzo Cesa (Parteisekretär UDC)
  • Gian Marco Chiocci (Direktor von Adnkronos)
  • Roberto Cingolani (Minister der Regierung Draghi, Umwelt)
  • Massimo Clementi (Leiter Mikrobiologie und Virologie des San-Raffaele-Krankenhauses von Mailand)
  • Giuseppe Conte (5SB-Vorsitzender)
  • Luigi Contu (Ansa-Direktor)
  • Paolo Corsini (Vizedirektor von Rai Due)
  • Guido Crosetto (Präsident von AIAD-Confindustria)
  • Claudio Descalzi (Eni-Geschäftsführer)
  • Patrizia De Luise (Präsidentin von Confesercenti)
  • Paolo Del Debbio (Journalist)
  • Luigi Di Maio (5SB-Minister der Regierung Draghi, Äußeres)
  • Dror Eydar (Israelischer Botschafter in Italien)
  • Luciano Fontana (Direktor des Corriere della Sera)
  • Massimo Giletti (Journalist, Moderator)
  • Massimo Ginsanto (Präsident von Confagricoltura)
  • Mario Giordano (Mediaset)
  • Giancarlo Giorgetti (Lega-Minister der Regierung Draghi, Wirtschaftsentwicklung)
  • Maria Rita Gismondo (Leiterin Mikrobiologie und Virologie am Sacco-Krankenhaus in Mailand)
  • Marco Granelli (Präsident von Confartigianato)
  • Alessia Lautone (Direktorin von LaPresse)
  • Enrico Letta (PD-Parteisekretär)
  • Giovanni Malagò (Coni-Präsident)
  • Roberto Mancini (Trainer der italienischen Fußball-Nationalmannschaft)
  • Alfredo Mantovano (Staatsanwalt, Vizepräsident des Centro Studi Livatino)
  • Marco Marin (Olympiasieger im Fechten, Coraggio Italia)
  • Massimo Martinelli (Direktor des Messaggero)
  • Angelo Mellone (Vizedirektor von Rai Uno)
  • Mario Menichella (Physiker)
  • Giovanni Minoli (Journalist)
  • Carlo Nordio (Staatsanwalt)
  • Marco Perissa (Opes-Präsident)
  • Fabio Pietrella (Präsident von Confartigianato Moda)
  • Stefano Pontecorvo (Botschafter, Nato-Vertreter in Afghanistan)
  • Ettore Prandini (Präsident von Coldiretti)
  • Federico Rampini (Corriere della Sera)
  • Nicola Rao (Vizedirektor der Rai-Regionalnachrichten)
  • Matteo Renzi (Gründer von Italia Viva)
  • Luca Ricolfi (Soziologe und Universitätsprofessor)
  • Giorgio Romiti (Le Iene)
  • Gennaro Sangiuliano (TG2-Direktor)
  • Margaritis Schinas (EU-Kommissar)
  • Mario Sechi (Agi-Direktor)
  • Paolo Serapiglia (Endas-Präsident)
  • Roberto Sommella (Direktor von Milano Finanza)
  • Giorgio Spaziani Testa (Präsident von Confedilizia)
  • Lino Stoppani (Vizepräsident von Confindustria)
  • Irene Tinagli (EU-Abgeordnete und PD-Vizesekretärin)
  • Leonardo Tricarico (General, vormals Stabschef der italienischen Luftwaffe)
  • Gianni Trovati (Journalist, Il Sole 24 Ore)
  • Francesco Vaia (Gesundheitsdirektor des Spallanzani-Instituts)
  • Bruno Vespa (Rai-Journalist)
  • Luciano Violante (PD, ehemaliger Kammerpräsident)

Alle Angaben stammen von der offiziellen Webseite der Veranstaltung

Atreju wurde von der jetzigen FdI-Chefin Giorgia Meloni 1998 gegründet, als sie Chefin von Azione Giovani (Jugendorganisation von Alleanza Nazionale) war.

All die genannten Personen waren neben Jorge Buxadé (von der spanischen Vox), Radoslaw Fogiel (PiS), Rudoph Giuliani (Ex-Bürgermeister von New York und Trump-Anwalt), Marion Le Pen (Rassemblement National), Matteo Salvini (Lega), Antonio Tajani (FI) sowie den vielen FdI-Mitgliedern (wie die erklärte Faschistin Daniela Santanchè oder Ignazio Benito La Russa) zugegen, um nur einige zu nennen.

Es ist unvermeidlich, dass solche Veranstaltungen nicht nur die Neofaschistinnen in den Augen der Öffentlichkeit weißwaschen, sondern auch die Antikörper bei den Geladenen selbst schwächen, die FdI als normalen politischen Akteur und Gesprächspartner einordnen.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5 | 1› 2›

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Militarisiertes Land.
Streit- und Polizeikräfte in Südtirol

Das Istat hat im Dezember neue Statistiken zum Thema Streit- und Polizeikräfte (mit Daten von 2015 und 2017) veröffentlicht. Interessant sind dabei aus meiner Sicht vor allem die Werte zur Verteilung des Personals auf Regionen und autonome Länder.

Insbesondere bezüglich der Militarisierung zählt Südtirol staatsweit zu den Gebieten mit der größten Präsenz (Dichte).

Laut den aktuelleren Daten waren 2017 in Südtirol 2.787 Mitglieder von Sicherheitsorganen und noch einmal fast ebenso viele Militärs (2.718) stationiert. Pro 100.000 Einwohnerinnen entspricht das einem Wert von 528 (Polizei/Carabinieri/Finanz) respektive 515 (Heer).

Damit ist die Militärdichte hierzulande fast doppelt so hoch wie der staatsweite Durchschnitt von 274. Nur Friaul-Julien (mit astronomischen 817), das Latium (734) und Apulien (575) kommen auf noch höhere Werte. Der Unterschied zwischen Südtirol und dem benachbarten Trentino ist enorm: über viereinhalb mal so dicht ist Südtirol militarisiert (515 zu 112 Heeresangehörige je 100.000 Einwohnerinnen) wie sein südliches Nachbarland, wo 2017 nur 603 Soldatinnen stationiert waren.

Andere autonome Gebiete — wie die Åland — sind vollständig entmilitarisiert, bei uns ist eher das Gegenteil der Fall. Während des kalten Krieges war die Besatzung zwar deutlich höher, aber vielleicht eher noch rechtfertigbar.

Bei den Sicherheitskräften liegt Südtirol (528)1Ortspolizeien nicht eingerechnet. ebenfalls über dem staatsweiten Schnitt von 497, allerdings ist hier der Abstand geringer. Italien zählt europaweit zu den Staaten mit der höchsten Polizeidichte. Das Trentino (405) verzeichnet auch diesbezüglich eine geringere Präsenz als Südtirol.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5 ‹6 | 1› 2›

  • 1
    Ortspolizeien nicht eingerechnet.
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Versuchskaninchen und Asoziale.

Eine verkehrte und gar »undankbare Südtiroler Welt« sieht Südtirol Online in Zusammenhang mit der gesamtstaatlichen Corona-Studie, die vom Istat durchgeführt wird. Fast die Hälfte (45%) der kontaktierten Südtirolerinnen habe abgelehnt, daran teilzunehmen.

Der zuständige Landesrat, Thomas Widmann (SVP), wird vom Onlineportal folgendermaßen zitiert:

Schon erstaunlich. Zuerst hat die ganze Bevölkerung [?] allerorten Tests gefordert. Jetzt wird getestet, aber Testmöglichkeiten werden nicht angenommen. Dabei geht es um eine ganz wichtige wissenschaftliche Studie. Eine Studie, die einer ganzen Bevölkerung Sicherheit gibt. Aber dies wird hintangestellt aus Angst vor möglicherweise 2 Wochen Quarantäne. Ein Infizierter, der nicht zum Test geht, würde einen nicht wiedergutzumachenden Schaden für Südtirol anrichten. Das ist nicht Verantwortungsbewusstsein. Ich verstehe, dass der eine oder andere nicht im Lande ist oder keine Zeit hat, aber diese Menge ist für mich verwunderlich. Es geht hier nicht um den Einzelnen, es geht um Südtirol.

Wer sich bei einem positiven Test nicht in Quarantäne begäbe, wäre wirklich verantwortungslos. Doch darum geht es hier eigentlich gar nicht. Nicht zu berücksichtigen scheint der Landesrat mindestens zwei weitere Szenarien: Erstens dürften nicht wenige Angst haben, sich im Rahmen der Testung zu infizieren. Dies ist eine hoffentlich unbegründete, aber durchaus nachvollziehbare Befürchtung. Zweitens wollen sicher viele nicht das Risiko eingehen, sich bei einem zweifelhaften Ergebnis zwei Wochen wegsperren lassen zu müssen — eine Maßnahme, die möglicherweise auch auf andere Mitglieder des eigenen Haushalts ausgedehnt werden könnte.

Was dies bedeutet, durfte ich nach meiner Rückkehr aus dem Ausland (am 21. April) persönlich erfahren, obschon mir zuvor (fälschlicherweise) mitgeteilt worden war, dass eine Isolation bei Rückkehr aus beruflichen Gründen nicht mehr vorgeschrieben sei: Es ist nicht nur wie ein gewöhnlicher Hausarrest, der nicht von ungefähr als eine Form der Freiheitsstrafe gilt, sondern ein Hausarrest unter verschärften Bedingungen:

  • Selbstüberwachung des Gesundheitszustands, einschließlich regelmäßiger Messung der Körpertemperatur (zweimal täglich zu vorgegebener Uhrzeit);
  • Regelmäßige Mitteilung der Ergebnisse an das Gesundheitsamt;
  • Keine Besuche anderer Personen, Einhaltung von Abständen zu Personen des eigenen Haushalts;
  • Rückzug in ein Einzelzimmer, falls die Maßnahme nicht sämtliche Mitglieder des Haushalts gleichzeitig betrifft;
  • Benützung eines gesonderten Badezimmers und — falls nicht möglich — systematische Desinfektion nach Benützung.
  • Einnahme von Mahlzeiten getrennt von anderen Personen;
  • Lieferung von Lebensmitteln, Medikamenten und anderen Einkäufen vor die Haustür;
  • Sonderbehandlung der Abfälle (doppelt einpacken, gut verschließen, keine Mülltrennung);
  • Neuntägige Quarantäne für Wäsche, die nicht bei 60-90 Grad gewaschen werden kann.

Dass dieses Szenario — überdies im möglicherweise unbegründeten Verdachtsfall — für sehr viele Menschen abschreckend wirken, ja gar gesundheits- und existenzgefährdend sein kann, ist für mich sehr gut nachvollziehbar. Dabei hatte ich noch das »Glück«, dieser Maßnahme zu einem Zeitpunkt unterworfen worden zu sein, als das öffentliche Leben ohnehin deutlich eingeschränkt war. Zudem kann ich in meinem Beruf ziemlich viel in Heimarbeit erledigen.

Dem Risiko, diese Erfahrung jetzt wiederholen zu müssen, würde ich mich aber ungern aussetzen.

Die Gefahr einer ungerechtfertigten Quarantäne zu entkräften ist den zuständigen Behörden bisher auch gar nicht gelungen. Ich halte es also für höchst unangemessen, wenn Landesrat Widmann Menschen, die sich dieser potenziellen Belastung nicht aussetzen möchten, als verantwortungslos und unsolidarisch brandmarkt.

Siehe auch ‹1 ‹2 | 1› 2›

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Einigermaßen zweisprachige Dauererhebung.
Nachbesserungsbedarf

Die sogenannte Volkszählung wurde von einer zehnjährigen statistischen Erhebung in eine Dauererhebung umgewandelt, weshalb fortan jedes Jahr ein Teil der Bevölkerung dazu aufgerufen ist, sich daran zu beteiligen. In Südtirol wird die Zählung vom Istat in Zusammenarbeit mit dem Landesstatistikinstitut (Astat) umgesetzt.

Wer Teil der Stichprobe ist, erhält einen Brief und folgendes Faltblatt auf Deutsch und Italienisch:

Ob es auch eine ladinische Fassung für Bewohnerinnen der entsprechenden Gemeinden gibt, ist mir nicht bekannt.

Sämtliche auf dem Faltblatt angegebenen Internetadressen und Hashtags sind nur in Italienisch — und auch die damit abrufbaren Informationen gibt es nicht auf Deutsch.

Tippt man die ellenlange Adresse www.istat.it/it/censimenti-permanenti/popolazione-e-abitazioni ein, landet man zum Beispiel auf einer Seite, die neben Italienisch auch auf Englisch (keine Amtssprache) verfügbar ist:

Erst die eigentliche Seite der Online-Erhebung ist auch in den Amtssprachen Deutsch, Französisch und Slowenisch verfügbar. Größere Minderheitensprachen wie Friaulisch und Sardisch bleiben ebenso unberücksichtigt, wie etwa Ladinisch:

Auffallend ist (hinsichtlich der Konsistenz), dass hier der Text zum Logo der Dauerzählung (links: »Dauerzählungen – Bevölkerung und Wohnungen«) auch auf Deutsch übersetzt wurde, während dies auf dem deutschsprachigen Faltblatt (s. erste Abbildung) nicht der Fall ist. Dafür wurde das Datum (»6 ottobre«) vergessen.

Die gute Nachricht ist aber, dass die deutsche Fassung der Webseite deutlich besser geworden ist, als noch bei der letzten zehnjährigen Erhebung von 2011. Und dennoch liegt noch immer einiges im Argen.

Weiterführende Informationen, wie hier zur Auskunftspflicht (unter der angegebenen URL) sind in den Minderheitensprachen nicht verfügbar, was sie zu Fassadensprachen für nicht gleichwertig zu behandelnde Bürgerinnen degradiert:

Selbst noch die vom Land (oder vom Astat) eingerichtete, einschlägige E-Mailadresse für Südtirol lautet erstaunlicherweise censimentipermanenti.popolazionelista@provinz.bz.it:

Der Anmeldevorgang zur Eingabe der Daten ist Englisch/Italienisch, wer das Passwort vergessen hat, muss (»ripristino password«) wiederum auf Deutsch (oder eine andere Minderheitensprache) verzichten:

Die Südtiroler Ortsbezeichnungen sind in den Ausklappmenüs stets in der Reihung Italienisch/Deutsch angeführt, werden aber im Unterschied zu 2011 wenigstens auch dann erkannt, wenn nur die »deutsche« Ortsbezeichnung eingetippt wird.

Bei der Angabe ausländischer Staatsbürgerinnenschaften oder eines ausländischen Geburtslandes scheitert man mit der deutschen Landesbezeichnung jedoch ganz:

Österreich wird etwa nicht gefunden, Austria schon.

Auch nach dem Ausloggen gelangt man wiederum auf eine einsprachige Mitteilung:

Wieder einmal bleibt also trotz offensichtlichen guten Willens (aber in Ermangelung ausreichender Sorgfalt) der nationalstaatliche Quellcode deutlich erkennbar. Ohne Kenntnis der lingua franca nazionale ist es in diesem Fall vielleicht nicht ganz unmöglich, aber zumindest schwierig, ans Ziel zu gelangen. Ob das nun mehr am Astat oder am Istat liegt, ist von außen schwer zu beurteilen. In jedem Fall herrscht weiterhin Nachbesserungsbedarf.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4

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AFI: Die spinnen, die Römer!

Mit diesem Obelix-Zitat meldete sich gestern das Arbeitsforschungsinstitut (AFI) zu Wort, um die Wirtschaftsdaten des Astat als lokaler Ableger (!) des Istat in Frage zu stellen. Die vom Landesstatistikinstitut bekanntgegebenen »realen Wachstumsraten« für 2016 (+0,6%) und 2017 (+0,4%) entsprächen nicht den erhobenen makroökonomischen und den Stimmungsindikatoren.

Entweder hat es den wirtschaftlichen Aufschwung in Südtirol nie gegeben oder die Berechnungen des Istat sind wenig wert.

— Stefan Perini (AFI-Direktor)

Das Berechnungsmodell der amtlichen Statistik zum regionalen BIP scheine unausgereift zu sein. Dass die Parameter von Technikerinnen 540km von Bozen entfernt festgelegt würden, sei für den Bezug zur lokalen Realität nicht förderlich.

Perini und das AFI schlagen deshalb — nach deutschem Vorbild (sogenannte Gemeinschaftsdiagnose) — eine gemeinschaftlich von Astat, Wifo und AFI formulierte Prognose vor. Die Daten der amtlichen Statistik seien erst nach drei Jahren ausreichend zuverlässig, weshalb man sich auf eine gemeinsame Schätzung einigen könnte, so der AFI-Direktor.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3

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Hohe Zuwanderung aus Italien nach Südtirol.
Unterschätzte Herausforderung?

Wie das italienische Statistikinstitut (Istat) in einer gestern veröffentlichten Note mitteilt, ist Südtirol ein großes Magnet für Wanderungsbewegungen aus italienischen Provinzen. Nur Bologna und Monza-Brianza zogen 2017 anteilsmäßig mehr Menschen aus dem restlichen Staatsgebiet an, als Südtirol.

Nach Regionen war der Zuzug in die Emilia-Romagna (+2,9 je 1.000 Einwohnerinnen) am höchsten, gefolgt von Südtirol-Trentino (+2,7‰) und Lombardei bzw. Friaul-Julien (beide +1,8‰). Dem stehen in Kalabrien (-4,2‰), Basilikata (-4,0‰) und Molise (-3,2‰) die größten Abwanderungen gegenüber.

Betrachtet man die Wanderungssaldi nach Provinzen, zogen Bologna (+4,9‰), Monza-Brianza (+3,4‰) und Bozen-Südtirol (+3,2‰) am meisten Menschen aus dem restlichen Staatsgebiet an. Caltanissetta (-7,1‰), Crotone
(-6,1‰) und Enna (-5,5‰) verloren unterm Strich die meisten Bewohnerinnen.

Die Südtirol betreffenden Daten sollten uns zwar nicht Anlass zur Abwehr, aber — aus Sicht des Minderheitenschutzes — doch zur genauen Beobachtung und sorgfältigen Planung im Umgang mit den Neubürgerinnen (Integration und Inklusion) geben.

Da die deutsche und die ladinische Sprachgruppe Minderheiten im italienischen Nationalstaat sind, müssen wir uns bewusst sein, dass keine Form der Migration problematischer ist, als jene, die der nationalen Homogenisierung Vorschub leistet.

Wie kann es uns mit den beschränkten Mitteln der Autonomie gelingen, den potentiellen Risiken (Majorisierung, Assimilierung…) entgegenzuwirken und sie in eine Chance für unser mehrsprachiges Land zu verwandeln? Wie vermitteln und schaffen wir Verständnis für die hiesigen Besonderheiten (Autonomie, Mehrsprachigkeit…) und verhindern neue Gettobildungen?

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 | 1› 2›

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Istat drängt auf Übersetzung von Straßennamen.

Wie die Dolomiten in ihrer heutigen Ausgabe berichten, sieht sich nun sogar das italienische Statistikinstitut (Istat) dazu ermuntert, die weitere Tolomeisierung Südtirols anzumahnen. Einigen Bürgermeisterinnen soll nämlich ein Schrieb aus römischen Istat-Stuben ins Haus geflattert sein, mit dem sie dazu aufgefordert werden, die Übersetzungen der Straßennamen in Ordnung zu bringen.

Es sind Straßennamen wie Via Am Bühel, Via Egg, Vicolo Kirchgasse oder Via Oberdorf, die dem Gesamtstaatlichen Statistikinstitut ISTAT sauer aufzustoßen scheinen.

— Dolomiten

Selbst beweist das Institut jedoch regelmäßig seine Unfähigkeit, der Zweisprachigkeitspflicht ordnungsgemäß nachzukommen.

Dem Bericht zufolge hat nun Landeshauptmann Arno Kompatscher dem Istat geantwortet, dass Südtirol für die Regelung der Ortsnamen selbst verantwortlich sei. Und in einem Brief an die Bürgermeisterinnen habe er dazu aufgefordert, »das Schreiben aus Rom nicht zu beachten«.

Dennoch gerät Südtirol in dieser heiklen Angelegenheit zum wiederholten Mal in die Defensive. Wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden, wird sich in wenigen Wochen auch noch das Verfassungsgericht mit dem Ortsnamengesetz befassen — dann könnten die zentralistisch gesinnten Richterinnen restriktive Vorschriften in ihr unanfechtbares Urteil packen.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 | 1›

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