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Katalonien: Lange Haftstrafen gefordert.

Die spanische Staatsanwaltschaft hat heute offengelegt, welches Strafmaß sie für die im Zusammenhang mit dem katalanischen Unabhängigkeitsreferendum angeklagten und großteils bereits seit Monaten in Untersuchungshaft befindlichen Politikerinnen und Vertreterinnen zivilgesellschaftlicher Organisationen fordern will. So soll der ehemalige Vizepräsident der Generalitat, Oriol Junqueras (ERC), — unter anderem wegen Rebellion — für sage und schreibe 25 Jahre hinter Gitter. Denselben Straftatbestand hatte das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein im Fall von Ex-Präsident Carles Puigdemont (PDeCAT) von Anfang an für unzulässig erklärt.

Auch den katalanischen Ministerinnen Jordi Turull (Präsidium), Josep Rull (Gebietsverwaltung und Nachhaltigkeit), Raül Romeva (Äußeres) und Dolors Bassa (Arbeit und Soziales) wirft die Staatsanwaltschaft Rebellion vor. Jeweils 16 Jahre Freiheitsentzug will sie ihnen aufbrummen.

Jordi Cuixart (Präsident der Vereinigung Òmnium Cultural), Jordi Sànchez (Präsident der ANC) und die ehemalige Parlamentspräsidentin Carme Forcadell sollen gar 17 Jahre im Gefängnis bleiben.

Für die ehemaligen Ministerinnen Carles Mundó (Justiz), Meritxell Borràs (Öffentliche Verwaltung) und Santi Vila (Gebietsverwaltung und Nachhaltigkeit) werden 7 Jahre gefordert; die Abgeordnete der linksradikalen CUP Mireia Boya sowie die Mitglieder des damaligen Parlamentspräsidiums sollen hingegen mit einer hohen Geldstrafe von mehreren 10.000 Euro davonkommen.

Lluís Trapero, der ehemalige Chef der Landespolizei Mossos d’Esquadra, soll — wenn es nach den Vorstellungen der Staatsanwaltschaft geht — mit 11 Jahren Freiheitsentzug rechnen.

Die in der Anklageschrift erhobenen Forderungen sind nicht endgültig, da sie im Laufe des in kürze beginnenden Prozesses noch einmal nach oben oder nach unten korrigiert werden können.

Die Höhe des Strafmaßes hat heute auch international für großes Aufsehen gesorgt. So titelte etwa die Berliner Tageszeitung online

Spanien – Justiz wie zur Franco-Diktatur: 25 Jahre Gefängnis für Oriol Junqueras?

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Ska Keller besuchte politische Häftlinge.

Die Vorsitzende der grünen Fraktion im Europaparlament und Spitzenkandidatin der Grünen bei der letzten Europawahl, Ska Keller, hat sich heute im katalanischen Gefängnis els Lledoners mit Jordi Cuixart (Òmnium Cultural), Oriol Junqueras (ERC), Raül Romeva (JxS), Jordi Sànchez (ANC) und Josep Rull (JxS) getroffen.

Sie alle befinden sich im Zusammenhang mit dem katalanischen Unabhängigkeitsreferendum vom 1. Oktober 2017 seit rund einem Jahr in Haft, obschon noch keine rechtskräftigen Urteile gefällt wurden. Keller wurde während ihres Besuchs von den Europaabgeordneten Jordi Solé (ERC) und Ernest Urtasun (katalanische Grüne) begleitet.

Am Ende der Zusammenkunft forderte Keller die spanische Generalstaatsanwaltschaft auf, wenigstens die Aufruhr- und Rebellionsvorwürfe fallen zu lassen. Sie verwies auf die Urteile anderer europäischer Gerichte, die eine Auslieferung katalanischer Amtsträgerinnen wegen Rebellion abgelehnt hatten.

Außerdem kritisierte die Vorsitzende der Grünen die lange Untersuchungshaft; sie rief die Europäische Kommission auf, im Katalonien-Konflikt als Mediatorin tätig zu werden.

Außer Ska Keller hielt sich heute auch die Menschenrechtskommission des baskischen Parlaments in Lledoners auf, wo sie den Haftzustand der politischen Gefangenen begutachtete.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5 ‹6 ‹7 ‹8 ‹9 ‹10

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Amnesty unter Druck.

Amnesty Catalunya gab bekannt, in Zusammenhang mit der Festnahme von Jordi Cuixart und Jordi Sánchez mit Anfragen ihrer Mitglieder überhäuft worden zu sein. Viele hätten auch ihre Mitgliedschaft gekündigt, weil sie der Meinung waren, Amnesty kümmere sich nicht — oder nicht ausreichend — um die Angelegenheit. Das was aus Sicht der Menschenrechtsorganisation ein Missverständnis ist, kann wohl im wesentlichen auf die Tatsache zurückgeführt werden, dass Amnesty Spanien vor wenigen Tagen mitgeteilt hatte, man würde die beiden Jordis nur deshalb nicht als »politische Gefangene« bezeichnen, da es sich dabei um einen juristisch schwammigen Begriff handle, den man grundsätzlich meide. Binnen kürzester Zeit verbreiteten allerdings Nutzerinnen in sozialen Netzwerken Dutzende Tweets von Amnesty, die das genaue Gegenteil bewiesen: In Bezug auf Häftlinge in der Türkei und anderen zumeist außereuropäischen Ländern war sehr wohl von »politischer Gefangenschaft« die Rede.

Dass das damit hervorgerufene Misstrauen bei einer hoch mobilisierten Zivilgesellschaft wie der katalanischen spürbar würde, war abzusehen.

Siehe auch ‹1 ‹2

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Hunderttausende fordern Freiheit für politische Gefangene.

Rund 750.000 Menschen gingen gestern laut offiziellen Angaben der Guàrdia Urbana in Barcelona friedlich auf die Straße, um die Freilassung der politischen Gefangenen Jordi Cuixart, Jordi Sánchez, Oriol Junqueras, Joaquim Forn, Meritxell Borràs, Carles Mundó, Josep Rull, Dolors Bassa, Raül Romeva, und Jordi Turull zu fordern. Sie alle sitzen auf Anordnung von Richterin Carmen Lamela in Untersuchungshaft, die sich damit die harte Linie der Staatsanwaltschaft zueigen gemacht hatte. Ein Teil der katalanischen Regierung, einschließlich des Präsidenten Carles Puigdemont, hatte sich hingegen nach Brüssel begeben, wo demnächst entschieden wird, ob einem spanischen Auslieferungsantrag entsprochen wird.

Die gestrige Massenkundgebung, die in wenigen Tagen organisiert wurde, erstreckte sich im Zentrum der katalanischen Hauptstadt über eine Länge von mehr als drei Kilometern. Das zweite Motto neben »Freiheit für die politischen Gefangenen« lautete »Som República« (»Wir sind [eine] Republik«). Es war ein beeindruckendes, friedliches Lebenszeichen derer, die sich die Unabhängigkeit von Spanien und ein Ende der Repression wünschen.

Im Vorfeld der Veranstaltung hatten über hundert spanische Strafrechtlerinnen ein Manifest veröffentlicht, in dem sie das Vorgehen der Justiz gegen die Separatisten als gesetzeswidrig verurteilten.

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Carme Forcadell im Knast.

Die Präsidentin des katalanischen Parlaments, Carme Forcadell, hat die Nacht im Gefängnis verbracht. Sie wird heute — vorläufig — entlassen, wenn sie eine Kaution in Höhe von 150.000 Euro hinterlegt. Damit ist Richter Pablo Llarena in den politischen Prozessen gegen katalanische Amtsträgerinnen nicht der Forderung des Staatsanwalts gefolgt, der Forcadell und andere Mitglieder des Parlamentspräsidiums in bedingungsloser U-Haft sehen wollte.

Die Mitangeklagten Lluís Corominas, Lluís Guinó, Anna Simó und Ramona Barrufet wurden gestern wieder entlassen, müssen aber binnen sieben Tagen je eine Kaution in Höhe von 25.000 Euro hinterlegen und ihren Reisepass abgeben, während Joan Josep Nuet von Catalunya en Comù ohne Auflagen freigelassen wurde.

Anders als die Vorsitzenden zweier zivilgesellschaftlicher Organisationen, Jordi Sánchez und Jordi Cuixart, sowie Mitgliedern der katalanischen Regierung — die allesamt im Gefängnis sitzen — war das Parlamentspräsidium nicht vom berüchtigten nationalen Gerichtshof, sondern vom Tribunal Supremo vorgeladen worden. Um der bedingungslosen Haft zu entgehen, wurden sie aber gezwungen, von ihren politischen Zielen Abstand zu nehmen.

Indes warten Präsident Puigdemont und vier seiner Ministerinnen in Brüssel auf eine gerichtliche Entscheidung über die von Spanien geforderte Auslieferung. Sie sind unter Auflagen frei und werden voraussichtlich am 17. November vernommen. Währenddessen haben sie begonnen, als »legitime Regierung Kataloniens« in der EU-Hauptstadt eine Minimalstruktur aufzubauen und sind unter anderem auf Twitter (@catalan_gov) vertreten.

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Autorinnen und Gastbeiträge

Verlogene spanische Justiz.

Nach dem Tod des Diktators Franco wurden seine kriminellen Anhänger generalamnestiert. Die spanische Justiz verfolgt hingegen baskische und katalanische Nationalisten mit aller Härte.

Der von der spanischen Regierung abgesetzte katalanische Regionen-Präsident Puigdemont und seine Minister kommen vor Gericht. Anklage: Rebellion, sie haben damit die Einheit des Staates gefährdet. Die ist laut Verfassung sakrosankt. Vor die Richter kommen auch Mitarbeiter der Regionalregierung sowie Jordi Sánchez vom Katalanischen Nationalkongress und Jordi Cuixart von Òmnium Cultural. Der Staat und seine Justiz greifen durch, gegen die Initiatoren des illegalen Unabhängigkeitsreferendums. Wehrhafte Verteidigung der Demokratie?

Ein Missverständnis. Die demokratische Justiz des spanischen Rechtsstaates hat einen Geburtsfehler. Nach dem Tod von General Franco 1975 sorgten die politischen Vertreter des Militärs, der Sicherheitskräfte und der Franco-Partei erfolgreich dafür, dass 1977 eine Generalamnestie erlassen wurde. 2014 verlangte Argentinien von Spanien die Auslieferung von 20 ehemaligen Vertretern des faschistischen Franco-Regimes (zu den Beschuldigten gehören die früheren Minister Rodolfo Martín Villa und José Utrera Molina). Wegen Verbrechen an der Menschlichkeit zwischen 1939 und 1975. Die spanische Republik lehnte das Ansuchen ab. Es gelte seit 1977 eine Amnestie.

Ohne diese Amnestie hätte es 1977 wahrscheinlich keinen demokratischen Neustart gegeben. Der Franco-Apparat sorgte auch dafür, dass die territoriale Integrität Spaniens und die Einheit des Vaterlandes als oberster Verfassungsgrundsatz gelten. Die Franco-Erben führten den Krieg gegen die Feinde von damals, die Verteidiger der spanischen Republik in den 30er Jahren, fort – mit der Heiligsprechung des Vaterlandes.

Putsch gegen verfassungsmäßige Ordnung

Franco hatte 1936 gegen die Republik geputscht, links regiert mit Unterstützung der baskischen und der katalanischen Nationalisten. Franco führte einen Krieg mit Hilfe aus dem faschistischen Italien und aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Eine halbe Million Menschen wurden abgeschlachtet. Viele der 500.000 Opfer sind bis heute nicht gefunden. Während der Diktatur zwischen 1939 und 1975 verschwanden zehntausende Regimekritiker. Auch diese Toten bleiben ungesühnt.

Die Gefallenen der putschistischen Seite wurden fast alle exhumiert und bestattet, ihre Familienangehörigen materiell und sozial entschädigt. Der Feind hingegen sollte ein für alle Mal aus Spanien verbannt, sollte real und ideell »mit der Wurzel ausgerottet« werden.

Spanien kopierte offensichtlich erfolgreich das Nachkriegs-Deutschland und das Nachkriegs-Italien. Bundeskanzler Adenauer hatte 1963 gesagt, die NS-Strafverfolgung ist für das Ansehen Deutschlands in der Welt unerträglich. Deshalb wurden von 170.000 Beschuldigten wegen NS-Verbrechen nur 7.000, von 6.500 SS-Leuten der KZ-Truppe in Auschwitz gerade mal 30 in Deutschland verurteilt. Von den insgesamt 200.000 österreichischen und deutschen Holocaust-Tätern wurden von den West-Allierten, von den Osteuropäern und den Deutschen 100.000 verurteilt. Die Mörder blieben unbehelligt, wie auch die Bürokraten des Holocausts, viele machten im neuen Deutschland Karriere.

Deutschland als Vorbild für das Spanien nach Franco. Die neu entstandenen Parteien nach dem Tod des Diktators, die Union de Centro Democratio, die Alianza Popular (die Keimzelle der heute regierenden spanischen Volkspartei PP) des ehemaligen Franco-Ministers Manuel Fraga und die Sozialisten von der PSOE, einigten sich auf einen Pakt des Schweigens. Niemand wurde für die Verbrecher zur Verantwortung gezogen. Nach dem Schweigen folgte das Vergessen.

Generalamnestie für Killer

Der spanische Staat verweigert eine Aufarbeitung der mörderischen Franco-Vergangenheit. Das 1977 erlassene Amnestiegesetz sichert allen Franco-Tätern Straffreiheit zu, Forderungen nach strafrechtlicher Aufarbeitung und Wiedergutmachung werden wegen der geltenden Amnestie abgelehnt. Der einzige spanische Richter, der es wagte, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, bezahlte dies 2012 mit einem Berufsverbot. Es handelte sich um Spaniens bekannten Ermittler Baltasar Garzón, der durch seine Jagd auf südamerikanische Diktatoren wie den chilenischen Ex-Diktator Augusto Pinochet weltberühmt wurde.

In einem Interview mit swissinfo sagte Carla del Ponte, ehemalige Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien sowie für den Völkermord in Ruanda in Den Haag: Die Verbrechen, die während der Franco-Diktatur verübt wurden, sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Darüber gibt es keinen Zweifel. Wenn nun die Opfer Gerechtigkeit verlangen, wäre es politisch richtig, die Amnestie aufzuheben. Alles hängt vom Anspruch der Opfer ab“. Das schert die spanische Justiz nicht.

Unerwünschte Erinnerung

In Madrid – und nicht nur dort – gibt es bis heute mehr als 200 Straßen und Plätze, die nach Persönlichkeiten der Franco-Zeit benannt sind, obwohl das »Gesetz des historischen Andenkens« von 2007 entsprechende Umbenennungen vorschreibt. Anfang 2016 wollte die damals der Podemos nahestehende Stadtregierung von Bürgermeisterin Manuela Carmena diesen Zustand ändern. Eine – mehrheitlich konservative zusammengesetzte – Kommission einigte sich auf einen Minimalkonsens: 52 Straßen sollten einen neuen Namen erhalten. Bei der Gemeinderatssitzung am 15. September 2016 sprachen sich ehemalige Angehörige der Spanischen Legion – eine Elitetruppe der Armee und in den 30er Jahren an der Niederschlagung von Berber-Protesten in „Spanisch-Marokko“ eingesetzt – öffentlich gegen die Namensänderung aus und bezichtigten Podemos des Terrorismus. Am 24. September protestierten im Zentrum von Madrid etwa 300 Rechtsradikale gegen die Namensänderung, unter anderem mit einem Plakat auf dem ohne jede Ironie zu lesen war: »Gegen Rache und Unterdrückung«.

In der erwähnten Gemeinderatssitzung wandte sich auch die konservative Volkspartei, Partido Popular (PP), gegen die Namensänderung. Nach einem Mehrheitsbeschluss im Madrider Stadtrat am 4. Mai 2017 aber schien der Neubenennung nichts mehr im Weg zu stehen – bis am 24. Juli die Stadtregierung bekanntgab, dass sie »eine richterliche Entscheidung« hinsichtlich der Namensänderungen abwarten würde, da mehrere Einsprüche gegen die Umbenennungen eingebracht worden waren. Am 2. August schließlich verbot ein Richter ausdrücklich die Umbenennung.

Pakt des Schweigens

Nach dem Tod von Franco am 20. November 1975 versuchten Vertreter des Franco-Apparates und Opposition die Diktatur reibungslos in eine Demokratie zu „transformieren“. Basken und Katalanen drängten auf Autonomie, Konservative und Sozialdemokraten auf den Umbau, die Kommunisten für ihre Zulassung als Partei. Die KP akzeptierte im Gegenzug die Monarchie und die im wesentlichen von der Franco-Zeit übernommene spanische Flagge. Der Aufbruch endete mit dem Putsch des Oberstleutnants Tejero von der Guardia Civil am 23. Februar 1981. Der gescheiterte Putsch zeigte deutlich, dass der Franquismus und seine Hauptbastionen, das Militär, immer noch mächtig waren. Ihre Forderung nach der Unteilbarkeit des heiligen Vaterlandes musste in der neuen Verfassung festgeschrieben werden. Die beiden großen Parteien, Konservative und Sozialisten, begruben mit ihrem „Pakt des Schweigens“ die Aufarbeitung des Bürgerkrieges und der Franco-Diktatur.

Die demokratischen Regierungen hatten kaum Interesse, die Spuren des Franquismus auszulöschen: Münzen mit dem Konterfei Francos waren bis in die 1990er Jahre im Umlauf, das letzte Reiterstandbild des »Caudillo« wurde erst 2010 entfernt.  1996 zog das rechte Lager einen Schlussstrich unter die eh schon dürftige Vergangenheitsbewältigung. Im März gewann die konservative Volkspartei  PP unter José María Aznar die Wahlen. Die Rechten holten die alten franquistischen Mythen in die politische Öffentlichkeit, Fernseh- und Radiosender, Verlage, Zeitungen und Internetportale verherrlichten ungeniert die Franco-Ära.

Franco-Opfer allein gelassen

Jene, die an die blutige Vergangenheit erinnern, sterben aus. „Schluss mit der Straflosigkeit“, „Wir wollen endlich Gerechtigkeit!“, verlangen die Überlebenden der Diktatur. Die „Plattform gegen die Straflosigkeit“ hatte vor dem „Königlichen Posthaus“ auf dem Platz „Puerta del Sol“ in Madrid protestiert. Während der Franco-Diktatur von 1939 bis 1975 befanden sich dort die Folterkeller der politischen Polizei. Inzwischen residiert die konservative Regionalregierung in dem prachtvollen Bau. Jede Woche ziehen Franco-Opfer und ihre Angehörigen mit Transparenten über den Platz. „Wir wollen, dass die Wahrheit aufgedeckt wird“, steht auf einem Plakat.

Der spanische Staat leistet hingegen keinerlei strafrechtliche und eine nur unzureichende gesellschaftspolitische Aufarbeitung der Verbrechen Francos, der die politischen Gegner während Krieg (1936-1939) und Diktatur (1939-1975) systematisch terrorisieren und vernichten ließ.

Die spanische Justiz kümmert sich also wenig um die Putsch-Täter von damals, die die verfassungsmäßige Ordnung zerstört hatten. Die spanische Justiz geht hingegen gegen katalanische Politiker vor, die mit dem Stimmzettel die Unabhängigkeit erreichen wollten. Eine Rebellion gegen eine Verfassung, die Mitte der 70er-Jahre Vertreter des Franco-Regimes mitgeschrieben haben.

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Die irreführende Erzählung von der Flucht.

Der Präsident von Katalonien sei geflüchtet, er habe sein »Volk« im Stich gelassen, heißt es seit gestern — zum Glück nicht unisono — in vielen internationalen Medien. Politikerinnen argumenteren ähnlich. Dazu einige Überlegungen:

  • Der gewählte Präsident wurde von der spanischen Zentralregierung abgesetzt und sieht sich mit einer konstruierten Anklage wegen Rebellion konfrontiert, die zu 30 Jahren Freiheitsentzug führen könnte.
  • In Barcelona regiert — von Madrid aus — die spanische Vizepräsidentin Sáenz de Santamaría, die übrigens (wie die gesamte spanische Regierung) einer Partei angehört, die bei der letzten Wahl zum katalanischen Parlament nur 8,5% der Stimmen erhielt.
  • Die Gleichschaltung der katalanischen Generalitat durch Madrid wurde vom UN-Sonderberichterstatter De Zayas als Verstoß gegen internationales Recht bezeichnet.
  • Trotz internationaler Kritik, zum Beispiel von Amnesty International, sitzen die Vorsitzenden zweier zivilgesellschaftlicher Organisationen seit über zwei Wochen in Untersuchungshaft, weil sie zu einem friedlichen Protest aufgerufen hatten.
  • Die Anklage von Generalstaatsanwalt Maza gegen Puigdemont wird von derselben Richterin am nationalen Gerichtshof (Carmen Lamela) bearbeitet, wie jene gegen Sánchez und Cuixart.
  • Carles Puigdemont droht ein ähnliches Schicksal wie den beiden Anführern von ANC und Òmnium Cultural. Deshalb ist es hanebüchen, davon zu sprechen, er habe sein »Volk« im Stich gelassen. Er kann der Causa der Selbstbestimmung, die inzwischen zu einer demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsatzfrage mutiert ist, in Brüssel besser dienen, als in Barcelona.
  • Wohl kaum ein europäisches Medium oder eine europäische Politikerin würde einer türkischen Dissidentin eine Ausreise in die EU vorwerfen, wenn sie sich damit vor politischer Verfolgung in Sicherheit bringen wollte. Sie sollten es also auch in diesem Fall unterlassen.
  • Es wäre vielmehr an der Zeit, sich an die eigene Nase zu fassen: Spanien mag zwar nicht die Türkei sein, aber die während der letzten Wochen gesehene Vorgehensweise, einschließlich der Duldung neonazistischer Umtriebe in Katalonien, halte ich für einer europäischen Demokratie unwürdig.
  • Entscheidend ist meiner Meinung nach jedoch vor allem, dass Puigdemont nicht »irgendwohin« geflüchtet und untergetaucht ist. Vielmehr hat er sich ins Epizentrum begeben — ins Herz Europas — wo man seit Jahren so tut, als gäbe es in Katalonien (und anderen europäischen Gebieten) kein Problem. Und wo man entschieden hat, die Anwendung staatlicher Gewalt gegen friedliche europäische Bürgerinnen zu dulden und zu decken, um den Status Quo zu verteidigen.
  • Die Unruhe und das Unbehagen, die der Aufenthalt des katalanischen Präsidenten in Brüssel verursacht hat, macht meiner Ansicht nach deutlich, dass er von Beschöniger- und Heuchlerinnen als Stachel im Fleisch wahrgenommen wird, der den üblichen Betrieb stören könnte. In diesem Sinne ist Puigdemont wir alle und ist Katalonien ganz Europa.
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»Rebellinnen« in Brüssel.

Der heutige Montag war der erste Arbeitstag seit Gleichschaltung der katalanischen Generalitat durch die Madrider Zentralregierung am vergangenen Freitag Abend. Zwar hatte Madrid den katalanischen Präsidenten noch vor wenigen Tagen dazu aufgefordert, an den Wahlen teilzunehmen, die man in Ausübung der Zwangsbefugnisse für den 21. Dezember anberaumt hatte. Doch schon heute kündigte die Staatsanwaltschaft eine Anklage gegen Carles Puigdemont, die Mitglieder der katalanischen Regierung und das gesamte Parlamentspräsidium wegen Aufruhrs, Veruntreuung und Rebellion an. Auf den Straftatbestand der Rebellion, der allerdings — wie zahlreiche Juristinnen unterstrichen — eine gewaltsame Erhebung voraussetzt, stehen Freiheitsstrafen von bis zu 30 Jahren.

Trotz Anklage und Gleichschaltung erschienen heute der Finanzminister und stellvertretende katalanische Regierungschef Oriol Junqueras (ERC) sowie der Minister für Gebietsverwaltung und Nachhaltigkeit, Josep Rull (PDeCAT),  ganz normal zur Arbeit in ihren Ministerien. Präsidentin Carme Forcadell begab sich hingegen ins Landesparlament, um ihre Aufgaben zu erledigen.

Weltweit durch die Medien ging die Nachricht, dass sich Puigdemont und fünf seiner mitangeklagten Ministerinnen derzeit in Belgien aufhalten. Ob sie — wie kolportiert wurde — dort um politisches Asyl ansuchen wollen, konnte bislang nicht bestätigt werden. Denkbar wäre, dass die Regierungsmitglieder eine republikanische Exilregierung bilden. Morgen soll der katalanische Präsident, der in Belgien Kontakt zum Menschenrechtsanwalt Paul Bekaert aufgenommen hat, eine Pressekonferenz geben, um über Umstände und Gründe seiner Reise aufzuklären.

Inzwischen schmoren die beiden Vorsitzenden zivilgesellschaftlicher Organisationen, Jordi Sánchez und Jordi Cuixart, schon rund zwei Wochen wegen Aufruhrs in U-Haft.

Ich habe wohl am Sonntag etwas übersehen, als ich die Uhr nur um eine Stunde zurückgesetzt habe. Derweil scheint es, als hätte ich sie zusätzlich um 100 Jahre zurückdrehen müssen. Oder so.

Siehe auch 1› 2›

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