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Putins Angst vor Gendern?

Die freiheitliche Landtagsabgeordnete Ulli Mair verteidigt den russischen Neo-Imperialismus

Ulli Mair äußert ihre Ansichten nicht hinter vorgehaltener Hand. Das Interview in der Neuen Südtiroler Tageszeitung ist ein Beispiel dafür. Sie wirft dem Westen, stellvertretend dafür den USA und Deutschland, vor, auf ein Gesellschaftsmodell zu setzen, das nicht überall wohlwollend aufgenommen werde. Mair stößt sich am bunten Regenbogen-Deutschland, am offenen Auftreten von Schwulen, Lesben, an Menschen, die in kein gesellschaftliches Korsett passen. Das stört Ulli Mair, genauso die neonazistische AfD und auch den starken Mann im Kreml, der seine rücksichtslose Polizei immer wieder prügeln lässt, Anti-Kriegsdemonstranten genauso wie Vertreter indigener Völker aus Sibirien, Schwule. Das freie Leben im Westen, um Ulli Mair zu interpretieren, provoziert also Putin?

Geschenkt die Analyse von Mair, dass die Linke in Deutschland den Staat heruntergewirtschaftet hat (wer regierte die vergangenen 16 Jahre?) und dass die Volksparteien Befehlsempfänger Washingtons sind. Die Befehle gibt wahrscheinlich die Ostküste, Rechte meinen damit das amerikanische Judentum.

Ulli Mair stellt, wie ihr Idol Putin, arrogant fest, dass die Ukraine kein nationaler Staat ist. Sondern? Sie kritisiert, dass in der Ukraine nicht alle Menschen gleich denken. Aha. Will Ulli Mair einen Führerstaat, in dem alle Menschen gleich denken müssen? Denken in Südtirol alle gleich?

Die freiheitliche Landtagsabgeordnete verdrängt in ihrer Pro-Putin-Betrachtung, dass die Sowjetunion über Jahrzehnte hinweg die ukrainische Sprache diskriminiert hatte. Sie vergisst auch, dass die russische Sowjetunion für den Hungerholocaust in den 1930er Jahren verantwortlich ist. Für einen Genozid. Mehr als drei Millionen Ukrainer fielen dieser politisch gewollten Hungerskatastrophe zum Opfer. Weitere sieben Millionen Menschen starben im Krieg der Nazis, »bloodlands«, bezeichnete der Historiker Snyder die Ukraine. Zweifelsohne ist das ukrainische Sprachengesetz ein Verstoß gegen die Menschen- und Minderheitenrechte. Aber auch eine nachvollziehbare Reaktion auf die 70-jährige russische Kolonialisierung des Landes. Klar, aber – nicht nur strategisch – falsch.

Mair schreibt am russischen Märchen der illegalen Nato-Osterweiterung weiter. Da ist aber nichts Illegales, Akteure von damals dementieren dieses PutinNarrativ«. Es sind unabhängige Staaten, die nach dem Nazikrieg und der stalinistischen Herrschaft um Aufnahme in die Nato gebeten haben. »Man sagt immer, dass Russland der Wiedervereinigung Deutschland [sic] zugestimmt hat, weil die NATO das Versprechen abgegeben habe, sich nicht weiter nach Osten auszudehnen«, zitiert Ulli Mair »man«.

Mair sagt im Interview, sie lehnt Angriffskriege ab. Ein billiges Lippenbekenntnis. Sie macht »die Amerikaner« für eine ganze Reihe von Kriegen verantwortlich, zitiert dabei Tschetschenien und Syrien. Zwei Länder, die Putin plattbombardieren ließ und lässt. In Tschetschenien installierte der Mair-Freund ein brutales Killerregime, in Syrien stützt Putin den Diktator Assad.

Ulli Mair ist die dienstältesteLandtagsabgeordnete und findet als Bürgerin vieles, was derzeit geschieht, nicht transparent. Weil die westliche Diplomatie zu wünschen übrig lässt, weil der Westen den Bösen ausfindig gemacht hat, weil die Medien »uns« berieseln, weil die Wahrheit unter die Räder kommt, weil Südtirols Landwirtschaft draufzahlen wird. So ähnlich formuliert es der ungarische Ministerpräsident Orban, so argumentierten auf einem Treffen rechtsradikale Parteien Westeuropas. Der russische Präsident sponserte gezielt in den letzten Jahren die europäische Rechte, tanzte mit der ehemaligen österreichischen Außenministerin Karin Kneissl (FPÖ-nah), das war ein symbolträchtiges Bild. Kneissl ist heute Aufsichtsratsmitglied des russischen Konzerns Rosneft und Gastautorin des Kreml-Propagandasenders Russia Today.

Über die Opfer des russischen Aggressionskrieges in der Ukraine verliert Ulli Mair kein Wort. Da liegt sie wieder gleichauf mit den AfD-Politikern Alice Weidel und Tino Chrupalla, auch mit Donald Trump und anderen rechten westlichen Politikern, die neidisch nach Russland schielen.

Wie kommt Mair dazu, der Ukraine den Nato-Beitritt zu verwehren? Sie spricht der Ukraine ihre Souveränität ab.

Wer ist Ulli Mair? Abgesehen davon, dass es dazu ja nicht mehr kommt: Putin wird aus der souveränen Ukraine einen Vorhof bauen, eine russische Kolonie.

Ulli Mair faselt in dem Interview über eine Annexion fremder Gebiete unter urkainischer Flagge. Es gibt keine ukrainischen Annexionen. Nach der bolschewistischen Revolution wurden Teile des Donbass der Ukraine zugesprochen, aber nicht von der Ukraine annektiert. Stalin-Nachfolger Nikita Chruschtschow schenkte in seiner unermesslichen Freundlichkeit die Krim der Ukraine. Nichts mit Annexion. Stalin hatte während des Zweiten Weltkrieges die Ureinwohner der Krim, die Krimtataren, kollektiv deportieren lassen, in die zentralasiatischen Sowjetrepubliken. Weiß Ulli Mair, worüber sie gerade schwafelt?

Und noch ein Versuch einer Erklärung, wer Ulli Mair ist: Im fernen 2002, vor 20 Jahren, polemisierte Mair gegen die Spendeninitiative Jüdischer Gedenkstein auf dem Bozner Friedhof in Oberau. Mair wetterte damals gegen diese Initiative und wandte sich gegen BürgerInnen, die privates Geld für den Gedenkstein spenden wollten. Das ist Ulli Mair – derzeit als Pressesprecherin von Wladimir Putin tätig.

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Südtirol und der Donbass.

Der ehemalige Landeshauptmann Luis Durnwalder warb in der Ostukraine für Autonomie.

Es ist lange her. Vor sieben Jahren stellte Durnwalder auf Einladung der »Volksrepublik« Donezk die Südtiroler Autonomie vor. Er empfand sich als Botschafter der Autonomie und — so seine Aussage damals — als möglicher Stichwortgeber für eine friedliche Lösung des Konflikts.

Vertreter von Forza Italia, der Partei von Silvio Berlusconi, animierten Durnwalder, das Modell Südtirol vorzustellen. Immerhin warben auch italienische Spitzenpolitiker wie Ministerpräsident Matteo Renzi und Außenminister Paolo Gentiloni bei ihren Besuchen in Moskau für Südtirol als Lösungsmodell des Konflikts in der östlichen Ukraine, verteidigte Durnwalder die Annahme der Einladung.

Eingeladen wurde der Ex-Landeshauptmann von Jean-Luc Schaffhauser, Europaparlamentarier des rechtsradikalen Front National. Durnwalder sollte auf dem Internationalen Forum »Donbass: Gestern, heute morgen« über die Lösung von Minderheitenproblemen sprechen. Neben Durnwalder waren weitere westeuropäische Gäste mit dabei, Alessandro Bertoldi von der Parteijugend von Forza Italia in Südtirol, Alessandro Musolino, auch er von Forza Italia, ein ausgewiesener Putin-Propagandist in einem rechten Netzwerk und zwei griechische Parlamentsabgeordnete von Nea Dimokratia und der linksradikalen Syriza.

Seine Zusage zu dem obskuren Treffen begründete Durnwalder mit dem Argument, zu einer Lösung beitragen zu wollen. Es gebe eine Ähnlichkeit zwischen dem Donbass und Südtirol, führte Durnwalder aus. Auch in Donezk und Luhansk sei die Zusammensetzung der Volksgruppen mit jener Südtirols vergleichbar: »Dort sind zwei Drittel Russen und ein Drittel Ukrainer. Sie haben viele Fragen gestellt und nach den Möglichkeiten der Autonomie gefragt… Sobald ich über jene Bereiche gesprochen habe, die beim Staat geblieben sind, wie etwa Außenpolitik, Heer, Polizei und Steuern, waren die Reaktionen eher negativ«, erinnert sich Durnwalder.

Seine Aufgabe bestand damals darin, zu informieren, ohne sich politisch vereinnahmen zu lassen, wies Durnwalder Kritik an seinem Auftritt zurück. Durnwalder reiste über Moskau in die »Volksrepublik« Donezk ein, die ukrainische Regierung erklärte den ehemaligen Landeshauptmann von Südtirol zur unerwünschten Person. Seine ehemalige Partei, die Südtiroler Volkspartei, betonte, dass Durnwalder als Privatperson und nicht als Vertreter der SVP oder Südtirols in den inzwischen russisch besetzten Donbass reiste.

Durnwalder hatte als Landeshauptmann ein Faible für den starken Mann im Kreml und für seine Anhänger. Schon 2009 gründete Durnwalder mit Wladimir Jakunin, Präsident der russischen Eisenbahn und Putin-Vertrauten, das Russische Zentrum Borodina in der Südtiroler Kleinstadt Meran. Ziel, die Beziehungen zwischen Südtirol und Russland zu fördern. Jakunin, er stand bereits auf der EU-Sanktionsliste, war als Präsident des Zentrums der nationalen Ehre nach Südtirol gekommen.

Zu den Gründungsmitgliedern des neuen Borodina-Vereins zählen das Land Südtirol, die Gemeinde Meran, die Handelskammer, die Freie Universität Bozen und eine Reihe russischer Institutionen, darunter auch die russische Botschaft in Rom.
Jakunin wurde zum Präsidenten des neuen Borodina-Vereins ernannt. An der Gründungsfeier nahmen hochkarätige russische Persönlichkeiten teil wie der Sport- und Tourismusminister Vitali Mutko, der Präsident der russischen Handelskammer und Ex-Premier Yevgeny Primakov, der russische Botschafter in Rom, Alexey Meshkov oder der Präsident des russischen Skiverbands, Andrey Bokarev.

Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass es einen traditionsreichen russischen Kulturverein in Meran seit langer Zeit schon gab. In der Habsburger Monarchie hatte sich in der Meraner Kurstadt eine russische Gemeinde eingerichtet. Diese Gemeinden sind heutzutage meist zu Lautsprechern für Putin geworden.
Putin-Russland ließ in Südtirol auch einen Honorarkonsul wirken, Bernhard Kiem. Er drängte auf weitere Partnerschaften zwischen Russland und Südtirol, Vorbild die Zusammenarbeit Südtirols mit Kamtschatka. Dort lässt das Moskauer Regime Land und Leute ausplündern. Die Zusammenarbeit brachte für Südtiroler Unternehmen einige Aufträge aus Russland. Während der damaligen »Krim-Krise« warb der Honorarkonsul für eine »objektive Betrachtung« der Annexion.

Dem nicht genug. Die ehemalige Familienreferentin in der Stadtverwaltung der Gemeinde Brixen, inzwischen SVP-Landtagsabgeordnete, Paula Bacher nahm 2014 an einer Familientagung in Moskau teil. Die Botschaft dieser »Familientagung«, Kampf gegen die liberale Demokratie, gegen Abtreibung und Homosexualität.
Die in den USA von extremen Rechten (dazu zählen viele Republikaner um Ex-Präsident Donald Trump) getragene World Congress of Families wird in Russland von potenten Förderern unterstützt. Allen voran Wladimir Jakunin, damals Chef der russischen Staatsbahn und enger Vertrauter Wladimir Putins. Seine Frau Natalia wurde mit ihrer Stiftung Heiligkeit der Mutterschaft sehr aktiv.
Der Kreis schließt sich, über die christliche US-Rechte bis zu gewichtigen US-Republikanern um Ex-Präsident Trump und Putin-Russland. Dazwischen das autonome Land Südtirol.

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Wir und der Rest.

Auch anderswo in den kleinen Ecken und abgelegenen Enden der Welt ringen indigene Völker und Minderheiten ums Überleben, um Anerkennung und Autonomie. Die Eurac stellt ab morgen im Filmclub in Bozen eine Filmreihe zum Thema vor. Anlass ist der 50. Geburtstag der Paket-Autonomie.

Den Auftakt macht Regisseurin Chloé Zhao mit The Rider. Die Geschichte des Lakota-Rodeo-Reiters Brady Blackburn vom Pine Ridge-Reservat im US-Bundesstaat South Dakota, der nach einem verhängnisvollen Sturz das Reiten aufgeben muss. Schauspieler Brady Jandreau spielt mit anderen Laiendarstellern vom Pine-Ridge-Reservat seine Lebensgeschichte. Zhao lernte den Lakota Jandreau 2014 beim Dreh ihres Debütfilms Songs My Brother Taught Me im Reservat kennen.

Als Gast mit dabei ist der Münchner Journalist Claus Biegert, seit den 1970er Jahren Chronist des indian country, Beirat der Gesellschaft für bedrohte Völker und Mitbegründer des World Uranium Hearings.

10. Februar 20 Uhr, Filmclub Bozen – The Rider, Gast ist Claus Biegert

In den USA appellieren Solidaritätskomitees an Präsident Biden, den seit fast einem halben Jahrhundert einsitzenden Leonard Peltier vom American Indian Movement zu begnadigen. Peltier zählte in den 1970er Jahren zu den führenden Köpfen der indianischen Bürgerrechtsbewegung. Bei einem Schusswechsel zwischen AIM-AktivistInnen und dem FBI im Pine-Ridge-Reservat wurden zwei FBI-Agenten getötet. Peltier wird als Mörder ausgemacht und zu zweimal lebenslänglich verurteilt. Der ehemalige ermittelnde Staatsanwalt wandte sich an Präsident Biden, Peltier aus der Haft zu entlassen. Er war nicht der Mörder, begründete der ehemalige Staatsanwalt seine Forderung.

Claus Biegert stellt den Fall Peltier vor, die manipulierten Prozesse gegen Peltier und die bisher ergebnislosen Versuche, eine Amnestierung zu erreichen.

Auf dem Blog Voices, dessen Herausgeber er ist, gestaltete Claus Biegert eine sechsteile Podcast-Serie über Leonard Peltier und über das American Indian Movement.

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Autorinnen und Gastbeiträge

Parteiisch, für die Betroffenen.

Der Münchner Journalist Claus Biegert und sein neues Projekt „GfbV-Voices“

Seit Ende der 60er Jahre arbeitet Claus Biegert als Journalist. In der Frühphase für die Abendzeitung und später beim Bayerischen Rundfunk. Biegert machte sich auch einen Namen als Buch-Autor, Schwerpunkt „die Indianer in den USA.“ Nach Büchern und Radio-Sendungen produziert Biegert auch Filme. Seine neueste Arbeit ist dem Physiker Hans-Peter Dürr gewidmet.

„Die Corona-Krise zwang mich zu einem Exil am Staffelsee,“ schreibt Claus Biegert auf seiner Homepage. Ein Exil in einem Paradies, in dem sich untertauchen lässt: „Alte Pläne, Utopien, Ideen verschaffen sich in der Verlangsamung ihren Raum, werden nicht mehr von der Hektik einer arbeitsintensiven und termingeprägten Agenda zur Seite gedrängt“.

Biegert bearbeitete mit seinem Cutter Mike Förster über Skype seinen Dürr-Film, den er 2017 begann. Im September 2020 wurde abgemischt. Aus dem geplanten Filmessay ist ein 103 Minuten langer Kinofilm geworden: „VOM SINN DES GANZEN – Das Netz des Physikers Hans-Peter Dürr“.

VOM SINN DES GANZEN

Der Physiker Hans-Peter Dürr (1929 – 2014), Nachfolger von Werner Heisenberg am Max-Planck-Institut in München, im Spannungsfeld zwischen den Physikern Edward Teller und Josef Rotblat. Teller und Rotblat gehörten zum „Manhattan Project“ in Los Alamos, wo unter der Leitung von Robert Oppenheimer jene Bomben konstruiert wurden, mit denen die USA 1945 Hiroshima und Nagasaki zerstörten. Beide gingen entgegen gesetzte Wege: Teller wurde als „Vater der Wasserstoffbombe“ bekannt, Rotblat erhielt den Friedensnobelpreis für die Gründung der „Pugwash-Bewegung“. Dazwischen ist Dürr: Als Student Doktorand bei Teller, ohne dessen Hintergründe zu kennen, später glühender Verehrer von Rotblat und Anhänger von Pugwash. Von Werner Heisenberg zum Nachfolger ernannt, leitet er das Max-Planck-Institut für Astrophysik und mischt gleichzeitig in der Friedensbewegung mit. Er macht sich Feinde – und viele neue Freunde. Zu Wort kommen: Rudolf zur Lippe, John D. Liu, Rupert Sheldrake, Konstantin Wecker, Erhard Seiler, Ernst-Ulrich von Weizsäcker, Andreas Weber, Heinrich Saller, Frauke Liesenborghs, Franz Alt, Ulrich Warnke, Isabelle Krötsch, Giselle Full, Daniel Dahm.

© 2020 Biegertfilm

Claus Biegert erinnert daran, dass sich unsere Industriegesellschaft weltweit holt, was wir zur Aufrechterhaltung unseres Lebensstils brauchen. Die Folge, sagt Biegert, „wir zerstören dabei, was wir alle zum Leben brauchen. Die indigenen Völker sind die Hüter der letzten Rohstoffvorräte, die wir auch noch plündern werden“.

Mit der Abkehr von Uran und Kohle hin zu grünen Energie ist es noch nicht getan, ist sich Biegert sicher, weil auch die erneuerbaren Energien Metalle und seltene Erden benötigen, müssen also abgebaut werden.

Auch um diese Themen geht es in dem neuen Projekt
GfBVVoices. Gemeinsam mit Freunden aus dem Aktionskreis der Gesellschaft für bedrohte Völker geht der Blog Voices morgen (24. Juni) um 15.00 Uhr online. Auftakt ist die Geschichte um Leonard Peltier (International Leonard Peltier Defense Committee), seit den 70er Jahren inhaftiertes Mitglied des American Indian Movement. Biegert bietet dazu eine Podcast-Serie an.

Voices wird also jenen eine Stimme geben, die keine haben oder über die niemand spricht. Es gibt Menschen, die können nicht anders. Sehen sie ein Unrecht, schreiten sie ein. Schreiben, schreien, streiten, singen, malen, dichten, vertonen, demonstrieren, mahnen, stellen sich in den Weg. Künstler und Aktivisten sind es vor allem, Grassroots, immer häufiger kommen sie aus den indigenen Gesellschaften dieser Welt, heißt es im Voices-Manifest.

Ihre Geschichten tauchen nicht auf in den großen Medien. Wir, sagen Tjan Zaotschnaja, Jan Diedrichsen und Claus Biegert, wollen daher Verbündete sein für jene, von denen niemand spricht. „Und wir wollen Stellung nehmen“. Provokant, parteiisch, kritisch aber auch selbstkritisch.

Im Voices-Manifest heißt es:

Wir wollen eine Stimme für jene sein, die keine Stimme haben. Wir werden auf die katastrophale Situation der Schwächsten, der ethnischen, religiösen, sprachlichen, autochthonen Minderheiten und Nationalitäten sowie der indigenen Völker weltweit aufmerksam machen. Wir wollen dazu beitragen, die Schönheit der Minderheiten, Nationalitäten und indigenen Völker bekannter zu machen. Die sprachliche und kulturelle Vielfalt ist weltweit vom Aussterben bedroht. Wir wollen jenen eine Stimme geben, die überhört werden.

Es geht um Geschichten großer Tragik und um Geschichten über große Schätze. Es werden Geschichten sein, über kleine Völker, denen die Erde heilig ist, die in den letzten noch weitgehend unzerstörten Refugien dieser Erde leben. Voices steht für einen grenzenlosen Dialog auf Augenhöhe. Denn, alle haben eine Geschichte zu erzählen. Diese Geschichten sollen hörbar werden. Alle haben eine Meinung. Diese Meinungen wollen offen diskutiert werden. Der Dialog darf provokant sein, hofft Claus Biegert. Es geht um die Zukunft der bedrohten Völker, Minderheiten und Nationalitäten weltweit.

Wir und die Anderen. Die Anderen und Wir.

Die Anderen leben meist am Rande. Bedrohte Völker sind kleine Völker am Rande, isoliert und ohne Mitsprache am Geschehen der Nationalstaaten, von deren Grenzen ihre angestammten Territorien häufig durchschnitten werden. Religiöse und ethnische Minderheiten werden diskriminiert und verfolgt, weil ihr Glauben, ihre Werte, ihre Lebensweise nicht den herrschenden Systemen entsprechen, an deren Rand sie leben. Die dominante Gesellschaft und ihre Machthaber sorgen dafür, dass sie alle ihren stummen Platz nicht verlassen. Ihre Schicksale tauchen nicht in den großen Medien auf.

Als indigene Aktivisten in den siebziger Jahren begannen, sich der modernen Kommunikationsmedien zu bedienen, war es neben dem bedruckten Papier das Radio, das ihren Bedürfnissen entgegenkam: Am Mikrophon kann sofort reagiert werden, können bedrohte Sprachen zu Wort kommen, kann die Tradition der Oral History wiederbelebt werden, können Menschen sich begegnen und austauschen. Mit den sozialen Medien erweitern sich die Möglichkeiten. Neben der audiovisuellen Information von Podcast und Video wird diese Plattform auch einen schriftlichen, unmittelbaren Austausch im Blog bieten. Dabei geht es nicht um den objektiven Journalismus, denn der ist eine Täuschung.

Die Auseinandersetzung mit der globalen postkolonialen Ära steht ebenso auf der Agenda. Nationen ohne Staat und autochthone Minderheiten in Nationalstaaten werden verfolgt ob ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Religion, ihrer Sprache, ihrer Gesellschaftsform. Ihre Kulturen laden ein zur Begegnung und suchen Verständigung. Es ist der Rand, durch dessen Isolierung nicht nur Diskriminierung drohen, sondern auch Modelle der Selbstbestimmung keimen und blühen können.

Deshalb, es werden auch Geschichten sein, die den Weg aus der Krise zeigen können. Das Autorenkollektiv von Voices schreibt:

Vergessen wir nicht: Dieser koloniale, kapitalistische Wahnsinn wurde von uns geschaffen, nicht von den Völkern, denen die Erde heilig ist. Wir hingegen führen einen globalen Krieg gegen die Erde und damit auch gegen die indigenen Gemeinschaften, denn die letzten noch weitgehend unzerstörten Refugien dieser Erde sind ihre Lebensräume. Sie können unsere Verbündeten sein, unsere Wegweiser aus dem Chaos der industriellen Zivilisation, die die restlichen Ressourcen des Planeten verbraucht.

Voices wünscht sich einen Dialog, der keine Grenzen kennt und ein Zusammenwirken, in dem sich alle auf Augenhöhe begegnen. Alle haben eine Geschichte zu erzählen. Diese Geschichten interessieren Voices. Alle haben eine Meinung. Diese Meinungen sollen diskutiert werden. „Es geht um die Zukunft der bedrohten Völker und der verfolgten Minderheiten“, sagt die Itilmenin Tjan Zaotschnaja aus dem sibirischen Kamtschatka. „Ihr Ende wäre unser Untergang und ihre Zukunft ist auch unsere Zukunft,“ ist Biegert überzeugt.

Die sprachliche und kulturelle Vielfalt ist weltweit bedroht. Das belegen Zahlen der UNO. Sie sollen in Voices zu Wort kommen, Stimmen erhalten, die überhört werden. Wie nationalen Minderheiten sowie Nationen ohne Staat, von Schottland bis Kurdistan. Ihr mangelnder Schutz schürt Konflikte in der Welt, heißt es im Grundsatzprogramm der GfbV: Ein effektiver Minderheitenschutz und Autonomie tragen daher auch zur Konfliktprävention bei. Deshalb werden auch Vertreter autonomer ethnischer Regionen in Voices eine Plattform finden.

Die Opfer der Globalisierung mit ihrem Raubbau an Rohstoffen und Großprojekte sind weltweit meist indigene Völker. Auf der Online-Plattform Voices wird auch für die Umsetzung der UN-Deklaration über die Rechte indigener Völker und der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO geworben werden.

Voices steht auch jenen offen, die unter Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermord leiden. Auch hier gilt, die GfbV-Plattform Voices engagiert sich für die bedingungslose Umsetzung der UN-Völkermordkonvention und für die Schaffung einer Konvention zur Ahndung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Auf der Seite von Biegert-Film ist ein Trailer über Peltier und über Winona LaDuke (Winona LaDuke | Center for Humans & Nature) zu sehen. Zwei Geschichten über zwei indigene Persönlichkeiten, die in den letzten 40 Jahren eine wichtige Rolle im Indian Country spielten.

Film | Biegert Film (biegert-film.de)
Claus Biegert | International Uranium Film Festival
Uranatlas 2019 (bund.net)

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Autorinnen und Gastbeiträge

Die Droge des Zentralismus.

Die spanische Volkspartei PP hat mit ihrem beinharten zentralistischen Kurs das Land in die Krise gestürzt. Die bisher autonome Region Katalonien wird kommissarisch verwaltet.

Rächt sich die konservative PP an den ungehorsamen Katalanen, weil sie kaum Partito Popular wählen? Bei den vergangenen Parlamentswahlen stimmten nur acht Prozent der katalanischen Bürger für den PP. Eine parlamentarische Watschn für eine Partei, die seit Jahrzehnten die Regionalisierung des Staates boykottiert und eine Reform der katalanischen Autonomie erfolgreich verhindert hat. Die PP-Regierung in Madrid kriminalisierte von Anfang die katalanische Referendumsbewegung.

Die spanische Regierung hat inzwischen wieder die verfassungsmäßige Ordnung hergestellt, das heißt die autonome Region Katalonien wird kommissarisch verwaltet, die Finanzzahlungen an Barcelona ließ die Regierung bereits einstellen, das Parlament in Barcelona wird aufgelöst, der katalanische Ministerpräsident Puigdemont von der liberalen Partei PDeCAT und sein Vize Oriol Junqueras von der katalanischen Linken ERC müssen sich wegen Hochverrats vor Gericht verantworten. Möglicherweise könnten auch noch jene katalanischen Parteien verboten werden, die die Unabhängigkeit als Ziel verfolgen. Ähnliches passierte ja schon im Baskenland.

Aus der Traum der katalanischen Unabhängigkeit, die Zentrale nimmt die Peripherie an die Kandare. Die katalanischen Nationalisten haben sich von der konservativen spanischen Volkspartei PP in die Sackgasse treiben lassen. Der verfassungsmäßigen Revanche aber nicht genug: Im Jänner soll das katalanische Parlament neu gewählt werden, verkündeten die sozialdemokratische PSOE und die liberale Partei Ciudadanos. Mit beiden Parteien setzte Ministerpräsident Rajoy die Maßnahmen gegen die katalanische Regionalregierung um und durch. Von den 135 Sitzen im katalanischen Parlament halten die Sozialisten 16 und die Liberalen 25 Sitze. Mit der Neuwahl, so die Hoffnung in Madrid, verlieren die Unabhängigkeitsparteien ihre Mehrheit. Vielleicht müssen die Katalanen so lange wählen, bis Madrid das Ergebnis passt.

Das Kartell schlägt zurück

Die EU als Kartell der Nationalstaaten verweigerte eine Vermittlung zwischen Madrid und Barcelona. Auf Seite des spanischen Zentralstaates und der EU agieren auch die Konzerne, mehr als tausende Firmen verlegten bereits ihre Hauptsitze aus Barcelona. Das Kartell der Mächtigen hat zurückgeschlagen, gegen den bürgerlichen Ungehorsam jener Katalanen, die einen eigenen Staat fordern. Das mag zwar anachronistisch sein, ist aber die Folge eines mehrjährigen autonomiepolitischen Stillstandes. Gewollt und angestrebt von der spanischen Volkspartei PP, der Verteidigerin des einheitlichen Zentralstaates.

Kurz zurück in die Vergangenheit: In der Spanischen Republik in den 30er Jahren zählte das weitgehend autonome Katalonien zu den Stützen der demokratischen Republik, auch deshalb rächte sich der faschistische Putschist Franco an den Katalanen. Nach seinem Tod 1975 wagten die Reformer, ein Bündnis aus Reform-Franquisten, Konservativen, Sozialisten, Kommunisten und katalanischen, baskischen sowie galicischen Nationalisten, den Bruch. Die neue Verfassung von 1978 ist ein radikaler Gegenentwurf zum autoritären Zentralstaat. Die Verfassung anerkennt die Völker Spaniens und ihr Recht auf Autonomie. Eine Art Wiedergutmachung für die Verbrechen während der Franco-Ära und ein Kompromiss zwischen der Zentrale und den ethno-territorialen „Peripherien“.

Staat der Regionen

Nicht nur Katalanen, Basken und Galicier erhielten 1979 autonome Regionen, weitere 14 Regionen wurden mit Autonomiestatuten ausgestattet. Auf diese Weise wurde die Sonderrolle der Nationalitäten relativiert. Die meisten Regionen drängten aber ebenso auf einen Umbau des Regional- in einen Bundesstaat. Gegen diese Entwicklung putschten im Februar 1981 Teile der Militärpolizei Guardia Civil, in der Franco-Zeit ein Instrument der Repression.

Alles erlogen? Man weiß aus der Geschichte Spaniens und gerade des Baskenlandes, dass die Folter bei der Guardia Civil zur Tagesordnung gehörte und gehört. Amnesty International, die Folter-Kommissionen der UNO und der EU berichten jedes Jahr erneut von Folter auf spanischen Polizeistationen. Die Regierung Aznar weist die Vorwürfe verärgert zurück, verhindert aber die Beseitigung der Missstände: Die wenigen wegen Folter verurteilten Polizeibeamten wurden begnadigt. Auch die spanischen Medien wollen die Berichte nicht zur Kenntnis nehmen, das Thema Folter ist Tabu. Ob die Journalisten freiwillig schweigen oder dazu gezwungen werden, sei dahingestellt. 2000 hat die Regierung Aznar jedenfalls die Internetseiten der Vereinigung gegen die Folter in Madrid sperren lassen. Dabei belegen selbst die offiziellen Zahlen den dringenden Handlungsbedarf: Von 1992 bis 2001 wurden im Baskenland 950 Fälle von Folter angezeigt; allein 2002 waren es 150. Elektroschock, Erstickung, sexuelle Gewalt, vorgetäuschte Exekutionen und – in diesem Repertoire geradezu selbstverständlich – Schläge gehören zu den von Madrid großzügig geduldeten Verhörmethoden. Seit 1977 sind sieben baskische Häftlinge an den Folgen der Folter gestorben.

Der Putsch blieb nicht folgenlos, die Franco-Sachverwalter in der rechtskonservativen Alianza Popular (aus der später die Volkspartei PP hervorging) und in der christdemokratischen UCD sorgten dafür, dass die Verfassung „nachgebessert“ wurde. Im Artikel 8 heißt es: „Den Streitkräften obbliegt es, die Souveränität und Unabhängigkeit Spaniens zu gewährleisten und seine territoriale Integrität und verfassungsmäßige Ordnung zu verteidigen“. Putschisten als Mit-Autoren der Verfassung.

Die Regionen zeigten sich unbeeindruckt und forderten mehr Kompetenzen. Die Staatsparteien UCD und PSO befürchteten eine Machterosion. Sie vereinbarten, die Regionalisierung einzufrieren: Mit dem Gesetz „Ley Organica para la Armonizacion del Proceso Autonomico“ (Loapa) sollte der Zentralstaat ausgebaut, der Staat der Regionen zusammengestutzt werden.

Dieser Gesetzentwurf wurde nicht umgesetzt, weil aufgrund einer Klage der baskischen und katalanischen Nationalisten das Verfassungsgericht Teile als verfassungswidrig erklärten. Trotzdem, die Regionalisierungsprozesse wurde eingefroren. Aus der Reihe tanzten nur die Basken und Navarra, sie setzen eine Finanzautonomie durch, gegen den Widertand der Madrider Zentrale. Wahrscheinlich erzwangen auch die Wahlsiege von ETA-nahen Parteien im Baskenland für ein Einlenken der spanischen Regierung. Seitdem herrscht autonomiepolitischer Stillstand, orchestriert von der spanischen Volkspartei PP und sekundiert von den Sozialisten, die sich von ihren frühen bundesstaatlichen Plänen verabschiedet haben. Die Droge Zentralismus garantierte den gesamtstaatlichen Machterhalt.

Keine Chance für neue Autonomiestatute

1989, zehn Jahre nach der Ratifizierung des ersten katalanischen Autonomiestatuts, verabschiedete das Parlament in Barcelona eine Resolution für die Selbstbestimmung: Die Anerkennung der Verfassungsordnung durch Katalonien bedeute nicht ein Verzicht auf die Unabhängigkeit. 1990 verabschiedete das baskische Parlament eine ähnlich lautende Resolution. Hochrangige Militärs bekundeten während der Militär-Weihnacht 1990 deshalb einmal mehr ihre Bereitschaft, „die Einheit Spaniens mit allen notwendigen Mitteln zu verteidigen“ (El Pais, 7. 1. 1990).

2003 kündigten Basken und Katalanen die Überarbeitung ihrer erstarrten Autonomiestatute an, weitere Regionen wollten sich anschließen. Ein gewaltiger Stress für die PP. 2005 wurde die katalanische Filiale der PSOE stärkste Kraft im Parlament von Barcelona. Gemeinsam mit den unterlegenen katalanischen Autonomisten wurde ein neues Autonomiestatut ausgearbeitet.

Ein weitreichendes Statut mit 223 Artikeln, im Dialog ausgehandelt, von den Parlamenten in Barcelona und Madrid gutgeheißen, ebenso von den katalanischen Bürgern. Widerspruch kam von der damals oppositionellen PP und ihrer Parlamentsfraktion und von PP verwalteten Regionen. Das Autonomiestatut wurde ausgesetzt. Das war 2010. Stillstand total. Ein voller Erfolg für die nationalkonservative PP, kastilisch national und zentralistisch.

Die Katalanen wählten die vom PSOE dominierte Regionalregierung ab, Artur Mas von der CIU gewann die Wahlen, die linke ERC unterstütze die Minderheitsregierung von Mas. In seiner Amtszeit setzte Mas ein Referendum zur Unabhängigkeit an, das Verfassungsgericht untersagte das Referendum. Stattdessen führte die CiU-Regierung eine unverbindliche Volksbefragung über die politische Zukunft Kataloniens durch. Dafür wurde er vom obersten Gericht Kataloniens zu einer Geldstrafe verurteilt. Außerdem darf er für zwei Jahre keine politischen Ämter bekleiden.

Ähnlich entwickelte sich die Lage im Baskenland. Das vom baskischen Parlament genehmigte neue Autonomiestatut wurde vom spanischen Parlament 2005 wegen des Hinweises auf das Recht auf Selbstbestimmung abgelehnt, auf Betreiben der PP wurde das baskische Gesetz einer Volksbefragung über die Zukunft des Baskenlandes 2008 vom Verfassungsgericht zurückgewiesen, weil verfassungswidrig. Es fand kein Dialog statt zwischen Madrid und Donostia/San Sebastian. Die Hüter der Verfassung, die Richter am Verfassungsgericht, agieren wie ihre politischen Auftraggeber, sie sind höchstrichterliche Vertrauensleute der beiden großen Parteien. Katalanen, Basken und Galicier, die immerhin ein Drittel der spanischen Bevölkerung stellen, sind im Verfassungsgericht nicht vertreten.

Nachdenkliche Verfassungsrichter

Das Verfassungsgericht folgte der eigenen Vorgabe und kassierte dann auch die Souveränitätserklärung des katalanischen Parlaments, die eine Reaktion auf die Ablehnung des neuen Autonomiestatuts war. In dem Urteil 2014 stellten die Höchstrichter aber auch kritisch fest, dass es nicht weiterhin instrumentalisiert werden will, „um bei der Lösung von politischen Konflikten tätig zu werden“. Die Verfassungsrichter anerkennen die Wirklichkeit Kataloniens, es sei aber nötig, über eine verfassungsrechtliche Anerkennung die Katalanen zu einem rechtlichen Subjekt zu erheben. Sie regten deshalb einen Dialog an, um die Verfassung zu reformieren, auch zugunsten eines Staatsteils, der seinen Rechtsstatus ändern will.

Der Dialog blieb aber aus, der Frust, die folgende Wut und die anschließende nationalistische Militanz ließ die Unabhängigkeitskoalition Junts pel Si aus der liberalen Partei Convergencia Democratica de Catalunya (CDC) und die linksrepublikanische ERC die katalanischen Parlamentswahlen gewinnen. Die linksnationalistische CUP sicherte mit ihren Mandaten der Koalition Junts pel Si die absolute Mehrheit im katalanischen Parlament.

PP erzwingt Scheitern

Der Präsident der Regionalregierung Carles Puigdemont verfolgte eine Politik des bürgerlichen Ungehorsams ohne Alternativen und möglichen Auswegen. Mit den bekannten Folgen. Die Rechnung der PP ging auf. Sie wird die nächsten Parlamentswahlen gewinnen, mit allen Auswirkungen auf den Staat der Autonomien, auf die eingefrorenen baskischen und katalanischen Autonomien. Vergessen sein werden die Prügelorgien der Guardia Civil vom 1. Oktober, die Verhaftungen und die Schließung von Webseiten.

Literatur
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Autorinnen und Gastbeiträge

Verlogene spanische Justiz.

Nach dem Tod des Diktators Franco wurden seine kriminellen Anhänger generalamnestiert. Die spanische Justiz verfolgt hingegen baskische und katalanische Nationalisten mit aller Härte.

Der von der spanischen Regierung abgesetzte katalanische Regionen-Präsident Puigdemont und seine Minister kommen vor Gericht. Anklage: Rebellion, sie haben damit die Einheit des Staates gefährdet. Die ist laut Verfassung sakrosankt. Vor die Richter kommen auch Mitarbeiter der Regionalregierung sowie Jordi Sánchez vom Katalanischen Nationalkongress und Jordi Cuixart von Òmnium Cultural. Der Staat und seine Justiz greifen durch, gegen die Initiatoren des illegalen Unabhängigkeitsreferendums. Wehrhafte Verteidigung der Demokratie?

Ein Missverständnis. Die demokratische Justiz des spanischen Rechtsstaates hat einen Geburtsfehler. Nach dem Tod von General Franco 1975 sorgten die politischen Vertreter des Militärs, der Sicherheitskräfte und der Franco-Partei erfolgreich dafür, dass 1977 eine Generalamnestie erlassen wurde. 2014 verlangte Argentinien von Spanien die Auslieferung von 20 ehemaligen Vertretern des faschistischen Franco-Regimes (zu den Beschuldigten gehören die früheren Minister Rodolfo Martín Villa und José Utrera Molina). Wegen Verbrechen an der Menschlichkeit zwischen 1939 und 1975. Die spanische Republik lehnte das Ansuchen ab. Es gelte seit 1977 eine Amnestie.

Ohne diese Amnestie hätte es 1977 wahrscheinlich keinen demokratischen Neustart gegeben. Der Franco-Apparat sorgte auch dafür, dass die territoriale Integrität Spaniens und die Einheit des Vaterlandes als oberster Verfassungsgrundsatz gelten. Die Franco-Erben führten den Krieg gegen die Feinde von damals, die Verteidiger der spanischen Republik in den 30er Jahren, fort – mit der Heiligsprechung des Vaterlandes.

Putsch gegen verfassungsmäßige Ordnung

Franco hatte 1936 gegen die Republik geputscht, links regiert mit Unterstützung der baskischen und der katalanischen Nationalisten. Franco führte einen Krieg mit Hilfe aus dem faschistischen Italien und aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Eine halbe Million Menschen wurden abgeschlachtet. Viele der 500.000 Opfer sind bis heute nicht gefunden. Während der Diktatur zwischen 1939 und 1975 verschwanden zehntausende Regimekritiker. Auch diese Toten bleiben ungesühnt.

Die Gefallenen der putschistischen Seite wurden fast alle exhumiert und bestattet, ihre Familienangehörigen materiell und sozial entschädigt. Der Feind hingegen sollte ein für alle Mal aus Spanien verbannt, sollte real und ideell »mit der Wurzel ausgerottet« werden.

Spanien kopierte offensichtlich erfolgreich das Nachkriegs-Deutschland und das Nachkriegs-Italien. Bundeskanzler Adenauer hatte 1963 gesagt, die NS-Strafverfolgung ist für das Ansehen Deutschlands in der Welt unerträglich. Deshalb wurden von 170.000 Beschuldigten wegen NS-Verbrechen nur 7.000, von 6.500 SS-Leuten der KZ-Truppe in Auschwitz gerade mal 30 in Deutschland verurteilt. Von den insgesamt 200.000 österreichischen und deutschen Holocaust-Tätern wurden von den West-Allierten, von den Osteuropäern und den Deutschen 100.000 verurteilt. Die Mörder blieben unbehelligt, wie auch die Bürokraten des Holocausts, viele machten im neuen Deutschland Karriere.

Deutschland als Vorbild für das Spanien nach Franco. Die neu entstandenen Parteien nach dem Tod des Diktators, die Union de Centro Democratio, die Alianza Popular (die Keimzelle der heute regierenden spanischen Volkspartei PP) des ehemaligen Franco-Ministers Manuel Fraga und die Sozialisten von der PSOE, einigten sich auf einen Pakt des Schweigens. Niemand wurde für die Verbrecher zur Verantwortung gezogen. Nach dem Schweigen folgte das Vergessen.

Generalamnestie für Killer

Der spanische Staat verweigert eine Aufarbeitung der mörderischen Franco-Vergangenheit. Das 1977 erlassene Amnestiegesetz sichert allen Franco-Tätern Straffreiheit zu, Forderungen nach strafrechtlicher Aufarbeitung und Wiedergutmachung werden wegen der geltenden Amnestie abgelehnt. Der einzige spanische Richter, der es wagte, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, bezahlte dies 2012 mit einem Berufsverbot. Es handelte sich um Spaniens bekannten Ermittler Baltasar Garzón, der durch seine Jagd auf südamerikanische Diktatoren wie den chilenischen Ex-Diktator Augusto Pinochet weltberühmt wurde.

In einem Interview mit swissinfo sagte Carla del Ponte, ehemalige Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien sowie für den Völkermord in Ruanda in Den Haag: Die Verbrechen, die während der Franco-Diktatur verübt wurden, sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Darüber gibt es keinen Zweifel. Wenn nun die Opfer Gerechtigkeit verlangen, wäre es politisch richtig, die Amnestie aufzuheben. Alles hängt vom Anspruch der Opfer ab“. Das schert die spanische Justiz nicht.

Unerwünschte Erinnerung

In Madrid – und nicht nur dort – gibt es bis heute mehr als 200 Straßen und Plätze, die nach Persönlichkeiten der Franco-Zeit benannt sind, obwohl das »Gesetz des historischen Andenkens« von 2007 entsprechende Umbenennungen vorschreibt. Anfang 2016 wollte die damals der Podemos nahestehende Stadtregierung von Bürgermeisterin Manuela Carmena diesen Zustand ändern. Eine – mehrheitlich konservative zusammengesetzte – Kommission einigte sich auf einen Minimalkonsens: 52 Straßen sollten einen neuen Namen erhalten. Bei der Gemeinderatssitzung am 15. September 2016 sprachen sich ehemalige Angehörige der Spanischen Legion – eine Elitetruppe der Armee und in den 30er Jahren an der Niederschlagung von Berber-Protesten in „Spanisch-Marokko“ eingesetzt – öffentlich gegen die Namensänderung aus und bezichtigten Podemos des Terrorismus. Am 24. September protestierten im Zentrum von Madrid etwa 300 Rechtsradikale gegen die Namensänderung, unter anderem mit einem Plakat auf dem ohne jede Ironie zu lesen war: »Gegen Rache und Unterdrückung«.

In der erwähnten Gemeinderatssitzung wandte sich auch die konservative Volkspartei, Partido Popular (PP), gegen die Namensänderung. Nach einem Mehrheitsbeschluss im Madrider Stadtrat am 4. Mai 2017 aber schien der Neubenennung nichts mehr im Weg zu stehen – bis am 24. Juli die Stadtregierung bekanntgab, dass sie »eine richterliche Entscheidung« hinsichtlich der Namensänderungen abwarten würde, da mehrere Einsprüche gegen die Umbenennungen eingebracht worden waren. Am 2. August schließlich verbot ein Richter ausdrücklich die Umbenennung.

Pakt des Schweigens

Nach dem Tod von Franco am 20. November 1975 versuchten Vertreter des Franco-Apparates und Opposition die Diktatur reibungslos in eine Demokratie zu „transformieren“. Basken und Katalanen drängten auf Autonomie, Konservative und Sozialdemokraten auf den Umbau, die Kommunisten für ihre Zulassung als Partei. Die KP akzeptierte im Gegenzug die Monarchie und die im wesentlichen von der Franco-Zeit übernommene spanische Flagge. Der Aufbruch endete mit dem Putsch des Oberstleutnants Tejero von der Guardia Civil am 23. Februar 1981. Der gescheiterte Putsch zeigte deutlich, dass der Franquismus und seine Hauptbastionen, das Militär, immer noch mächtig waren. Ihre Forderung nach der Unteilbarkeit des heiligen Vaterlandes musste in der neuen Verfassung festgeschrieben werden. Die beiden großen Parteien, Konservative und Sozialisten, begruben mit ihrem „Pakt des Schweigens“ die Aufarbeitung des Bürgerkrieges und der Franco-Diktatur.

Die demokratischen Regierungen hatten kaum Interesse, die Spuren des Franquismus auszulöschen: Münzen mit dem Konterfei Francos waren bis in die 1990er Jahre im Umlauf, das letzte Reiterstandbild des »Caudillo« wurde erst 2010 entfernt.  1996 zog das rechte Lager einen Schlussstrich unter die eh schon dürftige Vergangenheitsbewältigung. Im März gewann die konservative Volkspartei  PP unter José María Aznar die Wahlen. Die Rechten holten die alten franquistischen Mythen in die politische Öffentlichkeit, Fernseh- und Radiosender, Verlage, Zeitungen und Internetportale verherrlichten ungeniert die Franco-Ära.

Franco-Opfer allein gelassen

Jene, die an die blutige Vergangenheit erinnern, sterben aus. „Schluss mit der Straflosigkeit“, „Wir wollen endlich Gerechtigkeit!“, verlangen die Überlebenden der Diktatur. Die „Plattform gegen die Straflosigkeit“ hatte vor dem „Königlichen Posthaus“ auf dem Platz „Puerta del Sol“ in Madrid protestiert. Während der Franco-Diktatur von 1939 bis 1975 befanden sich dort die Folterkeller der politischen Polizei. Inzwischen residiert die konservative Regionalregierung in dem prachtvollen Bau. Jede Woche ziehen Franco-Opfer und ihre Angehörigen mit Transparenten über den Platz. „Wir wollen, dass die Wahrheit aufgedeckt wird“, steht auf einem Plakat.

Der spanische Staat leistet hingegen keinerlei strafrechtliche und eine nur unzureichende gesellschaftspolitische Aufarbeitung der Verbrechen Francos, der die politischen Gegner während Krieg (1936-1939) und Diktatur (1939-1975) systematisch terrorisieren und vernichten ließ.

Die spanische Justiz kümmert sich also wenig um die Putsch-Täter von damals, die die verfassungsmäßige Ordnung zerstört hatten. Die spanische Justiz geht hingegen gegen katalanische Politiker vor, die mit dem Stimmzettel die Unabhängigkeit erreichen wollten. Eine Rebellion gegen eine Verfassung, die Mitte der 70er-Jahre Vertreter des Franco-Regimes mitgeschrieben haben.

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