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Carabinieri: Schwarze gehören nicht hierher.

Wie Teseo La Marca für Barfuß berichtet, soll ein Schwarzer, der in einer Landegemeinde unweit der Landeshauptstadt wohnhaft ist, mehrmals von den Carabinieri des Ortes bedrängt und schikaniert worden sein.

Unter anderem sei er mit der unfassbaren Aussage konfrontiert worden, dass Menschen wie er nicht in ein Tourismusdorf gehörten, sondern nach Bozen.

Seit den Vorfällen habe Lamin Angst, den Uniformierten wieder zu begegnen.

Die Möglichkeiten, Beschwerde gegen die schwer rassistische Behandlung seitens der Beamten einzulegen, sind begrenzt — unter anderem kann dazu die Antidiskriminierungsstelle der Volksanwaltschaft angerufen werden.

Wie auch La Marca beschreibt, ist aber das Misstrauen von Betroffenen in die Institutionen durch derartige Vorfälle meist bereits so groß, dass sie sich gar nicht mehr trauen, sich für Rat und Hilfe an sie zu wenden. Ständig schwingt die Befürchtung mit, dass sie sich durch selbstbewusste Inanspruchnahme ihrer Rechte in einem als feindlich wahrgenommenen Umfeld in noch größere Schwierigkeiten bringen könnten.

Besonders besorgniserregend finde ich, dass der Besuch von Schulungen zum Thema Rassismus und Diskriminierung für Beamtinnen der italienischen Exekutivorgane dem Bericht zufolge freiwillig sein soll.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5

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Beschmierte Girlaner Ortstafel.
Auf Differenzierungsentzug

Am 25. Jänner wurde in der Gemeinde Eppan eine Ortstafel beschmiert, wobei der italienisch klingende Name von Girlan übermalt wurde. Ob es sich bei dieser Sachbeschädigung um eine rassistische antiitalienische Aktion oder um einen misslungenen Akt zivilen Widerstands gegen die aufgezwungene, künstliche Zwei- und Dreinamigkeit handelt, ist schwer feststellbar. Die Indizien sprechen für ersteres.

Ziviler Widerstand gegen das Erbe von Tolomei wäre meiner Meinung nach legitim. Umso mehr, als der Südtiroler Landtag vor wenigen Jahren sprachgruppenübergreifend ein Ortsnamengesetz beschlossen hatte, das dann — auf Zuruf post- und neofaschistischer Kräfte! — von Rom hintertrieben wurde.

Doch um seinen Zweck zu erfüllen, hätte der Akt sich auf die Toponyme beschränken müssen, wohingegen zweimal auch der Zusatz »Comune di« ausgelöscht wurde. Unter Umständen hätte zudem das historisch gewachsene »Appiano« verschont werden müssen.

Anlass für dieses Posting ist aber auch ein Artikel von Teseo La Marca auf Barfuss, wo sonst meist wohltuend unvoreingenommen argumentiert wird. In diesem Fall jedoch werden die Ebenen derart durcheinandergeschmissen, dass eine Rückkehr der Diskussion in einen überwunden geglaubten, undifferenzierten Grabenkampf droht. 

Drei Gründe nennt La Marca, warum nicht »allein die deutschen und ladinischen Orts- und Flurnamen […] historisch gewachsen [sind] und somit eine Existenzberechtigung [haben]«. Schon diese Prämisse ist falsch, denn das behauptet eigentlich niemand.

Aber sehen wir uns die Argumente im Einzelnen an:

1. Die Ortsbezeichnung „Cornaiano“ wurde von den italienischen Faschisten gar nicht erfunden. „Cornaiano“ hat als Ortsname eine mindestens 800 Jahre alte Geschichte und geht auf das romanische „Corneianum“ zurück. Insofern sollte niemand, der sich über die Willkürlichkeit faschistischer Toponomastik aufregt, mit der italienischen Bezeichnung für Girlan ein Problem haben. Es sei denn, man stört sich gar nicht so sehr an der faschistischen Geschichte bestimmter Ortsnamen, sondern daran, dass sie einfach nur italienisch sind.

Zu behaupten, »Cornaiano« sei keine Erfindung, weil die Bezeichnung »Corneianum« (1210) belegt ist, ohne dass zwischen beiden eine historische Kontinuität bestünde, ist genauso Humbug, wie die Vorstellung des faschistischen Regimes, dass das Italien von 1920 der Nachfolger des römischen Reiches wäre. La Marca begibt sich hiermit auf die argumentative Ebene von Tolomei, der womöglich überzeugt war, mit seinem Fälschungswerk nur die verlorengegangene Italianität Südtirols wieder freizulegen.

2. Die selbsternannten Antifaschisten, die fast einem Drittel der Südtiroler Bevölkerung die Verwendung einer eigenen Toponomastik untersagen wollen, vergessen wohl, wie wichtig Sprache ist, um die Welt um sich herum zu erfassen. Eine Welt, deren Begriffe und Bezeichnungen fremdartig klingen, ist auch an sich fremd und kann nie zur Heimat werden. Italienische Ortsnamen – ob „historisch gewachsen“ oder nicht – sind daher eine Notwendigkeit, damit sich im Jahr 2020 alle Südtiroler – nicht nur die deutschsprachigen – zuhause fühlen. Italienische Ortsnamen zu entfernen, würde daher bedeuten, einem Drittel der Südtiroler die Heimat zu verweigern. Und das ist eine Praxis, die ironischerweise gerade von den Faschisten mit Vorliebe gepflegt wurde.

Erstens will niemand einem Drittel der Südtiroler Bevölkerung die Verwendung von irgendwas untersagen, denn es geht bei der Debatte einzig um die Amtlichkeit. Im nichtamtlichen Bereich sind alle ohnehin frei, jeden Ort so zu nennen, wie sie möchten. Dies ist schon heute mit Exonymen (Venedig, Florenz, Rom – Vienna, Monaco, Amburgo) der Fall. Völlig hanebüchen ist zweitens aber auch das Ubi-nomen-ibi-patria-Prinzip: Dieser Logik zufolge könnten sich Italienerinnen in Aosta, Französinnen auf Korsika, Spanierinnen im Baskenland oder englischsprachige Kanadierinnen in Québec niemals zuhause fühlen. Schlimmer noch: Keinen Zuwandernden von außerhalb des deutschen und des italienischen Sprachraums könnte Südtirol jemals zur Heimat werden, es sei denn, wir engagieren Dutzende neuer Tolomeis, die unsere Ortsnamen in alle Sprachen der Welt übersetzen. Mit einem derartigen Argument spielt man nicht zuletzt Rassistinnen in die Hände.

3. „Historisch gewachsen“ ist eine relative Kategorie. Die italienischen Orts- und Flurnamen sind inzwischen seit mindestens 75 Jahren in Gebrauch. Während dieser Zeit haben Südtiroler aller Sprachgruppen gelernt, friedlich und konstruktiv miteinander zusammenzuleben. Die Geschichte, wie ein Begriff entstanden ist, kann nicht von der Geschichte getrennt werden, wie der Begriff seither gebraucht wurde. Und noch weniger kann sie von der Gegenwart getrennt werden. Wer heute also italienische Ortsnamen verwendet, verherrlicht dadurch keinen Faschismus, genauso wenig, wie jemand, der sich einen Volkswagen kauft, ein Nazi ist.

»Historisch gewachsen« ist vor allem dann eine relative Kategorie, wenn man es mit »historisch« verwechselt (vgl. Punkt 1). Doch ein aufoktroyierter Name wird auch nach 500 Jahren nicht »historisch gewachsen« sein.

Natürlich sind nicht alle, die einen von Tolomei erfundenen Ortsnamen benutzen, Faschistinnen — so wie nicht alle, die Ayers Rock statt Uluru sagen, Kolonialistinnen sind. Aber diese vorbelasteten Namen haben per se keine Berechtigung, amtlich zu sein.

Auch Cristian Kollmann, Toponomastik-Experte der [Süd-Tiroler] Freiheit, hat dies in Ansätzen anerkannt. Als Kriterien für die „historische Fundiertheit“ nennt er unter anderen einen „hohen Verkehrswert des Namens auf Grund der Relevanz des benannten Objekts für den italienischen Sprachraum“. Das dürfte im Falle von „Cornaiano“ in der Gemeinde Eppan, wo sich 13,29 Prozent der Einwohner bei der letzten Volkszählung der italienischen Sprachgruppe zugerechnet haben, eindeutig zutreffen.

Was der Verkehrswert eines Namens mit der »historischen Fundiertheit« zu tun haben soll, ist mir genauso unverständlich, wie La Marcas Gleichsetzung von  13,29% italienischsprachigen Einwohnerinnen in der Gemeinde Eppan mit »dem italienischen Sprachraum«. Aber natürlich können Prozentlösungen ein Anhaltspunkt dafür sein, ob ein Ortsname offiziell sein soll. Auf eine solche Lösung und auf einen entsprechenden Schwellenwert müsste man sich aber demokratisch einigen — und im internationalen Vergleich sind 13% nicht unbedingt eine Garantie für die Amtlichkeit einer Bezeichnung. Nicht zuletzt wäre ohnehin zu klären, ob die Prozentlösung nur auf historisch gewachsene Ortsbezeichnungen angewandt werden soll oder auch (und unter welchen Voraussetzungen) auf die Erfindungen von Tolomei.

Die gute Nachricht: Wenn manchen Südtirolern wirklich so viel an der Aufarbeitung der faschistischen und nationalsozialistischen Geschichte Südtirols liegt, dann gibt es in der Gemeinde Eppan noch viel zu tun. In Hochfrangart steht ja immer noch – von weitem sichtbar – eine als Kunst ausgegebene, geschmacklose Riesenkugel, errichtet vom Herrn Karl Nicolussi-Leck, Mitbegründer des völkischen Kampfringes, SS-Hauptsturmführer und Nazi-Fluchthelfer, der sich durch geschäftliche Beziehungen zu geflüchteten Nazis in Argentinien finanziellen Wohlstand verschafft hatte. Was wäre, wenn sich hier einmal nächtliche Randalierer ans Werk machten? Aber dann müsste man, um ganz konsequent zu sein, auch gleich die Claudiana und das Museion (beide vom besagten Herrn Altnazi gegründet) abreißen. Und das geht ja nun wirklich nicht.

Was ein (schönes oder hässliches) Kunstwerk, eine Schule oder ein Museum, auch wenn sie von einem Altnazi errichtet/gegründet wurden, mit Geschichtsaufarbeitung zu tun haben sollen, ist mir (anders als etwa bei Benennungen von Schulen, Museen oder Straßen nach Altnazis!) völlig schleierhaft. Nirgendwo werden Kunstwerke eingestampft oder Bauwerke geschleift, weil sie mit irgendeinem Nazi in Verbindung stehen. Eine Erklärung für diese doch etwas abstruse Analogie bleibt La Marca leider schuldig.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5 ‹6 ‹7 ‹8 ‹9 ‹10

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Zur Doppelpass-Umfrage.

Weil wir schon beim Thema »Fragebögen« sind: Salto, barfuss und ut24 führen gemeinsam mit vier Journalismus-Studenten der Fachhochschule Joanneum in Graz eine Umfrage zum Thema »Doppelpass« durch. Sie besteht aus

  • fünf Fragen zur Einordnung der Teilnehmenden (E-Mailadresse, Altersgruppe, Sprachgruppe, Geschlecht und Wohnort) sowie
  • zwei inhaltlichen Fragen, wobei sich nur eine auf die doppelte Staatsbürgerschaft (und die andere auf die Unabhängigkeit Südtirols) bezieht.

Diese eine Kernfrage zeugt von großer Professionalität:

  • Während in der deutschen Fragestellung darauf hingewiesen wird, dass es sich um die italienische und die österreichische Staatsbürgerschaft handelt, ist dies in der italienischen Fragestellung nicht der Fall.
  • Während auf Deutsch danach gefragt wird, ob man die doppelte Staatsbürgerschaft »befürworten« würde (warum nicht, ob man sie »befürwortet«?), wird auf Italienisch gefragt, ob man sie »unterstützen« möchte.
  • Die Antwortmöglichkeit »Ja« lautet auf Italienisch »si Eher«, dafür fehlt dieses »Eher« dann bei der dritten Antwortmöglichkeit, die wohl »Eher nein« lauten müsste.
  • »Sì« auf Italienisch korrekt (nämlich mit Akzent) zu schreiben, wäre gerade bei einer Umfrage auch ein nettes Feature gewesen.

Darüberhinaus wird

  • man gebeten, personenbezogene Daten (einschließlich der E-Mailadresse) anzugeben
  • vermutlich die IP-Adresse erfasst, aber
  • nicht informiert, wer die Daten erhebt und verwahrt oder ggf. zu welchem genauen Zweck in welcher Form verwendet oder gar weitergibt/veröffentlicht.

Nachtrag (1): Inzwischen wurde zumindest der gröbste Schnitzer korrigiert… und das Wort »eher« an den richtigen Ort verschoben.

Nachtrag (2): Das Formular wurde auch um eine kurze Datenschutzinformation ergänzt.

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Fehlender Kontext.
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Hat das Dokumentationszentrum [am Bozner ‘Siegesdenkmal’] die offene Wunde etwas heilen können?

Ja, es ist vieles besser geworden, seit es das Dokumentationszentrum gibt. Das Denkmal wurde historisiert und steht nun auf einem neutralen Sockel. Aber der Platz und der Park sind immer noch nicht wirklich Teil des Ganzen geworden; und auch die Umgebung, also der sogenannte „italienische” Teil von Bozen, wartet meiner Meinung noch darauf, dass er in einen Kontext gesetzt wird.

aus dem Barfuss-Interview mit Adina Guarnieri, die dem Thema ihre Abschlussarbeit in ‘Beni Culturali’ an der Universität Trient gewidmet hat.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5 | 1›

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Autorinnen und Gastbeiträge

Selbstbestimmung von links.

Nach einem spannenden Gespräch mit Simon Constantini, das in Teilen auf barfuss.it erschienen ist, habe ich versucht, Informationen und Meinungen zur “Brennerbasisdemokratie” zusammenzutragen, um ein möglichst objektives Bild davon zu erhalten, was eigentlich ausmacht. Ich wurde enttäuscht. Beiträge über , die ehrlich versuchen, sie einzuordnen und zu beschreiben, halten sich in Grenzen. Nachfolgend mein Versuch in diese Richtung.

von Julian Nikolaus Rensi

Südtirol ist etwas ganz besonderes. Davon überzeugen wir gerne uns selbst wie auch Gäste, in der Hoffnung, sie mögen kommen und wiederkommen. Das mag nicht nur bei Äpfeln, Skipisten und Bergen gelten, sondern auch hinsichtlich der Beziehung, die wir zur „Selbstbestimmung“ pflegen. Das Reizwort findet sich zwar noch im Statut der Volkspartei, dürfte aber von unsereins sofort mit deren Opponenten am rechten Rand assoziiert werden. Selbstbestimmung, das ist Sache von Knoll, Mair & co, Sache der Rechten. Eigentlich merkwürdig, wenn man bedenkt, wer sie sich in Europa über Jahrzehnte auf die Fahne geschrieben hat – die Linken. Und verblüffend, wenn man sich vor Augen führt, wie sich zahlreiche Bewegungen nationaler Minderheiten programmatisch definieren – links. Die Katalanen sind hierfür nur ein prominentes Beispiel. Europaweit scheint Sezession eher ein linkes denn rechtes Thema zu sein. Genau hier setzt auch in Südtirol eine kleine Gruppe rund um die Blogger Simon Constantini und Harald Knoflach an; nicht alle werden sie kennen, Aufmerksamkeit verdienen sie allemal. Brennerbasisdemokratie () ist keine klassische politische Bewegung und verfügt über keine Organisation im parteilichen oder Vereins- Sinne. Man kann sie auch nicht als Think-Thank bezeichnen. – das beschränkt sich im Kern auf eine kleine Gruppe von überzeugten Akteuren, Blogger, die sich auf artikulieren. Im weiteren Sinne sind freilich auch Anhänger und Unterstützer gemeint – wie viele das sind, lässt sich kaum abschätzen – die sich um ein sogenanntes „Manifest“ scharen, das so ziemlich am Anfang des Blogs stand, die wesentlichen Forderungen darlegt und in einem Dokument über die „häufigsten Fragen an “ inhaltlich präzisiert wird. Was „manifestieren“ die Brennerbasisdemokraten, wohin treiben sie?

Los von Rom kann auch links sein

Darauf kann hier nur zusammenfassend eingegangen werden. strebt eine Loslösung von Italien an, die auf friedlichem Weg erfolgen, die institutionelle und soziale Trennung der Sprachgruppen aufheben und mit wirtschafts-, umwelts- und sozialpolitische Reformen einhergehen soll, das alles im Rahmen eines vereinten Europas, das auf Regionen statt Nationalstaaten setzt. Erst die Sezession bzw. ein unabhängiges Gemeinwesen eröffne den Südtirolern aller Sprachen unverhoffte, neue Möglichkeiten, ihr Zusammenleben zu gestalten, da der Druck wegfiele, sich gegen Rom wehren zu müssen. In wirtschaftlicher Hinsicht vorteilhaft: Man wäre nicht mehr Teil eines maroden, steuerverschlingenden Bürokratiekonstrukts namens Italien. Die „Machbarkeit“ steht als Frage nicht im Raum; sich aufdrängende Zweifel nach der Art „Sind wir denn da noch in der EU“ werden mit einer Portion Optimismus (diese sei allen Lesern des Blogs empfohlen) besänftigt. Es zählt das Was, weniger das Wie. Wichtiges Unterscheidungskriterium den üblichen Verdächtigen in Sachen „Los von Rom“ gegenüber ist die generelle kulturliberale Haltung und – wie gesagt – eine sozialreformatorische Perspektive. Deren Gestaltung ist recht offen, aber von einer diffusen Kapitalismuskritik durchzogen, die eher auf humanistischem oder ökologischem denn klassisch-marxistischem Boden steht. In einem Gespräch lässt Constantini durchblicken, dass man sich in Fragen der post-sezessionalen Ordnung uneins sei, aber auch radikale Gedanken wie die Schaffung rätedemokratischer Strukturen oder die Vergesellschaftung zentraler Wirtschaftszweige intern keinem Tabu unterlägen. Trotz aller Verschwommen- und Zaghaftigkeit durchfließt also auch wirtschaftspolitisch eine ganz andere Grundströmung als die rechte Opposition mit ihrer marktliberalen Zielsetzung. Ein markanter Gegensatz zu Freiheitlichen, Süd-Tiroler Freiheit und Anhang liegt auch darin, dass sich bewusst nicht auf das Völkerrecht beruft, um ihren Unabhängigkeitswillen zu rechtfertigen. Man weiß, dass nach herrschender Lehre nur solchen Minderheiten das Sezessionsrecht zugestanden wird, die ihrer fundamentalen Menschen- und Bürgerrechte beraubt werden. Und systematische Verletzungen dieser Art könne man Italien nicht unterstellen, so Constantini. Das Völkerrecht kritisiere man aber ohnehin, ist es doch „von Nationalstaaten für Nationalstaaten geschaffen.“ Vielmehr folge man einem „zivilen Bedürfnis“ nach einem Leben in echter, freier Demokratie. Dieses Leben kann es hierzulande nur ohne Nationalstaat geben, so das Credo, mit dem alles steht und fällt.
Gegen den Versuch eines Außenstehenden, die Brennerbasisdemokratie ideologisch einzuordnen habe man nichts, wurde mir erklärt. Es bleibt aber auch beim bloßen Versuch: mag ein kleines Sammelbecken für Idealisten sein, doch Ideologen – Fehlanzeige. Die traditionell-tirolerische Häme gegen Linke, sie seien dogmatisch, muss hier leider entfallen. Ausdrücklich wollen sich die Brennerbasisdemokraten nicht als rein links, sondern auch liberal beschrieben wissen. Ob nun aus Überzeugung oder im Bewusstsein, dass dezidiert linke Bewegungen nie weit kamen in Südtirol. Begnügen wir uns also, so zu benennen, wie sie sich selbst definiert: „ökosozialdemokratisch.“

Ein Novum in der Südtiroler Politik

Es fällt allerdings schwer, die objekive Stellung und Funktion der in der politischen Realität Südtirols zu bewerten, jedenfalls, wenn der Analyse das klassische Schema „linker David – konservativer Goliath“ zugrundegelegt wird. Denn die lässt sich kaum in die Reihe jener linker Oppositionsbestrebungen einordnen, die im Laufe der Nachkriegszeit den bürgerlich-bäuerlichen Komplex um Volkspartei, Bauernbund und Kirche aufzulockern suchten. Dafür haben sich zum einen die materiellen, sozioökonomischen Rahmenbedingungen zu sehr verändert, zum anderen scheint die thematische Kontinuität mit den Forderungen der außer- und innerparlamentarischen Opposition, sprich den Ideen der alten SH, der Jugendbewegung, wie auch Langers Neuer Linken oder Egmont Jennys „Sozialer Fortschrittspartei“ nur begrenzt. Während diese sich vor allem auf das hic et nunc bezogen und reale Machtverhältnisse, soziale Ungleichheit und die ethnische Trennung denunzierten, fokussiert sich die bekanntlich auf eine hypothetische Zukunft und ein „linkes“ Los von Rom. Das gab es so nie. Zudem ist die Aura der alten grünroten Einzelkämpfer längst verblasst, ihr Wirken, ja überhaupt ihre Existenz soweit vergessen (und bewusst totgeschwiegen) worden, dass sie kaum noch identitätsstiftende Größen darstellen für gegenwärtige politische Bewegungen. Nun sind die Brennerbasisdemokraten aber auch nicht etwa lokale Anhängsel einer italienweit tätigen Organisation – das käme ja auch einem absurden Widerspruch gleich – d.h., selbst diese oftmals (auch polemisch) gebrauchte Kategorisierung verbietet sich in unserem Falle. Die Brennerbasisdemokratie stellt also in der Tat ein wahres Novum in der Südtiroler Politik dar.
Ihrem gesellschaftlichen Charakter nach ist sie erwartungsgemäß einem akademisch geprägten, kulturell urbanen Milieu zuzuordnen, wobei dies nur hinsichtlich der aktiven Autoren im Blog wirklich nachweisbar ist. Wen die Texte auf brennerbasisdemokratie.eu insgesamt erreichen, lässt sich kaum sagen – nach Constantini jedoch auch Leute im Ausland (Südtiroler Studierende etwa) und Politiker, „von denen man es sich nicht erwarten würde“, sprich auch aus konservativen Reihen. Wo sich die Anhängerschaft (oder sollte man besser sagen: Leserschaft?) politisch verortetet, ist also durchaus nicht einheitlich zu verorten. Wer aber mit den Zielen und Ideen der übereinstimmt, dürfte typischerweise grün wählen, so Constantini, sich aber nicht zur Gänze bei den Grünen beheimatet fühlen. So pflege man zur Umweltpartei den Dialog, tausche sich in begrenztem Rahmen aus. Sozialpolitisch sei man sich eins, in puncto Selbstbestimmung freilich scheiden sich die Geister. Geradewegs spiegelverkehrt gestaltet sich die Beziehung zur deutschen Rechten im Land. Es sei durchaus zu thematisch einschlägigen Begegnungen gekommen. Doch jede eingehendere Zusammenarbeit lehnen die Brennerbasisdemokraten ab. Zu verschieden ist doch der Kontext, in dem man sich bewegt. Die Schnittmenge „Los von Rom“ ist da zu schwach: „Es ist uns wichtig darauf hinzuweisen, dass es außer dieser punktuellen Gemeinsamkeit wenig bis keine andere gibt.“

Kritisieren ist richtig, ignorieren nur ignorant

Bei rund 100.000 Aufrufen im Jahr fragt man sich zu Recht, wieso die Brennerbasisdemokraten nicht den Sprung in die analoge Welt der Politik wagen. Vorstöße dazu habe es gegeben, wird mir versichert. Ausgeschlossen wurde jedenfalls der Einstieg in die Parteipolitik; angedacht waren hingegen Formate wie Diskussionsrunden, Gesprächsabende und Vorträge oder einzelne Publikationen. Sie seien aber „letzendlich immer an Zeitmangel“ gescheitert. So wird die vorerst ein, wenn man so will, digitales Phantom bleiben. Existent, aber ohne praktische Konsequenzen in der Politik. Wenn überhaupt, wird sie mit ihren Ideen das Bewusstsein der BürgerInnen so nur langsam prägen. Doch genau das birgt „Gefahren“: Leistet die nicht der Süd-Tiroler Freiheit oder den Freiheitlichen Schützenhilfe, wenn sie das Thema „Selbstbestimmung“ auch in linksliberalen Kreisen salonfähig macht? Könnten die nicht der Versuchung erliegen, dann frisch das „Original“ zu wählen – bzw. die derzeit einzige Option, wenn man für die Selbstbestimmung überhaupt ist, nämlich eine Partei der Südtiroler Rechten? Auf Nachfrage räumt Constantini ein, dass dies nicht auszuschließen sei, weist aber im selben Atemzug auf das Versäumnis der Südtiroler Linken – im Grunde heißt das: der Grünen – hin, die Selbstbestimmung zu thematisieren. Man überlasse so das Feld, ein für die Südtiroler Wählerschaft nicht belangloses dazu, den Rechten, die es dank ihrer Diskurshoheit reaktionär deuten. Auch in einem weiteren Punkt bleibt es fraglich, ob die Brennerbasisdemokratie ungewollt rechten Gruppen in die Hände spielt: Reproduziert man nicht rechte Denkmuster, wenn man davon ausgeht, Deutsche und Ladiner müssten sich „schützen“ vor Rom, solange sie zu Italien gehören? Und verkennt man nicht die eigentlichen Ursachen „ethnischer“ Spannungen, nämlich Ungleichheit in der materiellen Verteilung des Wohlstands zwischen Sprachgruppen, was ein wirtschaftliches, nicht staatsrechtliches Problem ist? Auch der von der Brennerbasisdemokratie propagierte Individualismus bzw. das Verlangen nach Freiheit von Kategorisierungen steht in einem gewissen Widerspruch zur Bestärkung kollektiver Identitäten, die das Festhalten am Antagonismus zwischen Südtirol und Italien – bei aller Beteuerung, diesem eine linke Lesart zu geben – unweigerlich hervorruft. Man müsse dies aber in Kauf nehmen und versuchen, scharf zu unterscheiden zwischen der italienischen Bevölkerung und Kultur und dem Staat Italien, gegen den man sich stelle. Den nationalistischen Unabhängigkeitskampf bedienen ja auch schon die Rechten.
Eine zentrale Schwachstelle im gesamten Narrativ der bleibt die nur vage behandelte Frage, wie, wann und warum der Unabhängigkeitsfall eintreten sollte. Hierin unterscheidet sich die in keinster Weise von den Sezessionsfans rechter Prägung. Und ob nun der Einwand, man müsse doch über Utopien und Alternativen zumindest nachdenken können, genügt, um eine für die Sezession nötige Massenbewegung aufzubauen, sei dahingestellt. Der wünschenswerte Gegensatz zu der von Teilen der etablierten Politik gepflegten „Alternativlosigkeit“ sollten konkrete, reale Utopien sein, die schon jetzt zum Handeln und Umdenken ermuntern und taugen. Es wäre aber falsch, die deshalb schlechthin zu ignorieren. Denn es gehört ein wenig Mut dazu und verdient zumindest Anerkennung, wenn Menschen in einem so konsensorientierten Land wie Südtirol bereit sind, sich Themen neu anzueignen und zu interpretieren, und zwar jenseits der überkommenen und scheinbar starren Linien, die Geschichte und Parteienlandschaft vorgeben. Man möchte hoffen, dass der neue Impuls, den die Brennerbasisdemokraten in diesem Sinne seit einigen Jahren setzen, in der Südtiroler Linken (und darüber hinaus?) zumindest diskutiert wird; und dass die Kreativität, der Ideenreichtum und das Vermögen, sich die eigenen Inhalte selbst und selbstbewusst auszusuchen, inspirierend wirkt. Denn ungeachtet aller Bedenken, wie sie weiter oben geäußert wurden, scheinen viele Südtiroler sich nicht mehr mit bloßer Sachpolitik zu begnügen, sondern von ihren Vertretern durchaus auch Antworten zu Grundlegenderem zu erwarten, wie es jüngst die Debatten im Autonomiekonvent gezeigt haben. Man muss kein Katalanenfan sein, um das zu erkennen.

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Fehlender Korpus.
Quotation

Die Universität Bozen und die Eurac beschäftigen sich recht gut mit dem Dialekt, ja. Was mir während meines Studiums aber immer wieder gefehlt hat, ist ein guter Südtiroler Korpus. Ein Korpus ist eine Datenbank, in der Sprachmaterial gesammelt wird. Es gibt zwar bereits einen Korpus Südtirol, der beinhaltet jedoch kein dialektales Material, sondern nur Südtiroler Zeitungsartikel. Das ist ein großes Manko: Interessante Analysen beziehen sich ja besonders auf den gesprochenen Dialekt.

Ich war dieses Jahr in Burmingham [sic] auf einer Korpus-Linguistik-Konferenz und habe mir da ein paar Vorträge angehört: In Wales wird momentan ein Welsh-Korpus angelegt und in Irland ein Gälisch-Korpus. Mich hat dabei fasziniert, wie oft betont worden ist, wie wichtig eine solche Datenbank gerade für eine Minderheitensprache ist. Und mich hat fasziniert zu sehen, dass in anderen Regionen dafür auch Ressourcen bereitgestellt werden. Denn es ist ja klar: Erst, wenn man eine Aufnahme des Ist-Zustandes des Dialektes hat, kann man überhaupt sagen: Moment, wir haben sehr viele Italianismen drin, wir müssen auf unseren Dialekt aufpassen. Aber wir können ja keine Aussagen darüber treffen, weil wir de facto nicht wissen, wie sich der Dialekt in den letzten Jahrzehnten verändert hat.

Isabel Meraner, Romanistin, im BarfussInterview

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4

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Logischer Vorgang.
Quotation · Migration und Sprache

Durch diese neue Migration haben sich aber die traditionellen Trennlinien zwischen den drei Landessprachen verhärtet, zumal Migranten als erstes die italienische Sprache lernen. Das ist an und für sich ein logischer Vorgang, weil sie in Italien den Asylantrag stellen.

Zeithistorikerin Eva Pfanzelter im Barfuss-Interview.

Aussagen wie diese bestätigen, dass die Autonomie außerstande ist, die intrinsischen Mechanismen des Nationalstaats im Sinne einer plurilingualen Gesellschaft wie der unseren außer Kraft zu setzen. Obschon das ihr eigentlicher Zweck sein sollte. Dabei muss der Nationalstaat gar nicht aktiv tätig werden, damit die »selbstverständliche« Wirkung seines »Nationalismus« greift. Darüberhinaus wird in Südtirol auch nicht (wie woanders) versucht, durch asymmetrische Maßnahmen (affirmative action) für mehr Gleichgewicht zu sorgen. Stattdessen

  • ist zum Beispiel für eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung nach wie vor ausschließlich der Nachweis der Staatssprache vorgeschrieben;
  • werden ZuwandererInnen teils Italienischkurse kostenlos angeboten, während Deutschkurse kostenpflichtig sind;
  • ist man selbst in Südtiroler Landgemeinden oft der Auffassung, dass Italienisch für Migrantinnen die »bessere« Sprache sei, weil angeblich leichter zu erlernen.

Gerade in mehrheitlich deutschsprachigen Ortschaften wirken sich derartige Ansätze zudem ausschließend auf die neuen Mitbürgerinnen aus. Solche für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wichtigen Überlegungen in die rechte Ecke zu stellen — nur weil sie aus durchsichtigem politischem Kalkül auch von den Rechten angestellt werden — halte ich für brandgefährlich.

Einwanderung ist zumindest bei den Migrationsnetzwerken immer noch ein “italienisches” Phänomen – mehr als vier Fünftel der Vereinigungen bedienen sich der Referenzsprache Italienisch und weniger als 20 Prozent der deutschen.

Historiker und Konfliktforscher Kurt Gritsch auf Salto.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5 ‹6 ‹7 ‹8 | 1›

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Thailändische Verhältnisse.

Unter “normalen” Umständen wäre die Geschichte höchstens eine kleine Randnotiz in den Lokalmedien. Doch der mediale und gesellschaftliche Umgang mit den beiden Südtirolern, die in Thailand der “Fahnenschändung” bezichtigt wurden, offenbarte ein ziemlich düsteres Sittenbild und eine wohl recht weit verbreitete, verquere Auffassung von juristischer Verhältnismäßigkeit.

Es steht außer Frage, dass die beiden Burschen einen Fehler gemacht haben und dass sie für ihr Handeln Verantwortung übernehmen müssen. Mutwillige Sachbeschädigung ist nicht in Ordnung – ganz egal ob Alkohol sowie Unwissenheit bezüglich der Gesetze im Spiel waren und was die Vorgeschichte war.

Sowohl der Umgang mit dem Fall als auch die rechtlichen Voraussetzungen werfen jedoch ein paar Fragen auf:

Ist es verhältnismäßig, dass auf die “Herabwürdigung staatlicher Symbole” sowohl in Thailand als auch hierzulande bis zu zwei Jahre Gefängnis stehen?
In vielen Staaten (USA, Belgien, Norwegen usw.) wäre das Zerstören einer Flagge eine Sachbeschädigung wie jede andere auch. Die Zerstörung solcher Symbole wird in diesen Ländern – vorausgesetzt natürlich, dass man Eigentümer der Gegenstände ist, ansonsten wäre es eben Sachbeschädigung – als Ausdruck der Meinungsfreiheit gewertet. In den USA ist dies durch einen Spruch des Supreme Courts sogar verfassungsmäßig geschützt. In Dänemark hingegen ist nur die Zerstörung der dänischen Flagge legal. Die Herabwürdigung ausländischer Symbole ist aus diplomatischen Gründen illegal.

Wenn Staaten ihre Symbole mit derart drakonischen Strafen schützen, ist das meines Erachtens ein Ausdruck von Schwäche und übersteigertem Nationalismus. Die beiden Südtiroler haben eine Sachbeschädigung im Ausmaß von schätzungsweise nicht einmal 20 Euro begangen. Ein nach meinem Dafürhalten angemessener Umgang mit einer solchen Tat wäre die Einforderung einer Entschuldigung (Erleichterungsgrund Reue), die finanzielle Wiedergutmachung (Kompensation für den Schaden) und ein paar Stunden Sozialarbeit. Bei der pubertären Aktion der beiden Jugendlichen sind nämlich keine Menschen zu Schaden gekommen und der materielle Schaden war minimal; die Tat ist somit leicht wiedergutmachbar – ganz im Gegensatz zu den in Thailand allgegenwärtigen Sextouristen, die ein Leben nach dem anderen zerstören und nicht wiedergutmachbare körperliche und psychische Schäden anrichten.

Als Tourist muss man aber doch die Kultur und die Gesetze des Gastlandes respektieren?
Selbstverständlich muss man das. Das heißt jedoch nicht, dass man bestimmte Aspekte nicht kritisieren darf. Extrembeispiel: Wenn in Dubai ein Vergewaltigungsopfer für 16 Monate ins Gefängnis muss (Grund: Sex außerhalb der Ehe), dann ist das – bei allem Respekt – skandalös. Ungleich skandalöser zwar als zwei Jahre Gefängnis für eine Fahnenschändung, aber vergleichbar was fehlende Verhältnismäßigkeit betrifft. Wenn man dann noch bedenkt, dass Thailand – wenngleich offiziell eine Demokratie und ein wurnderbares Urlaubsland mit wunderbaren Menschen und noch wunderbarerem Essen – ein quasi-autoritärer Staat mit katastrophalen Haftbedingungen ist, in dem allein die Kritik am Königshaus mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft werden kann (Stichwort: Meinungsfreiheit), während tausende Sextouristen und Zuhälter meist unbehelligt von der Polizei unschuldige Mädchen sexuell ausbeuten, dann muten Kommentare aus Südtirol, man möge an den beiden ein Exempel statuieren, sie die Kraft des Gesetzes spüren lassen und sie möglichst hart bestrafen, mehr als befremdlich an. Zumindest herrschten in Thailand, im Gegensatz zu uns, noch ordentliche Verhältnisse, indem mit “Verbrechern” hart umgegangen und ihnen Respekt abgenötigt wird – so der Tenor.

Ist Flagge gleich Flagge und welche Rolle spielt die Intention?
Die Umstände der Tat sind ein weiterer Aspekt, der differenziert zu betrachten ist. Ich unterstelle den beiden Jugendlichen jetzt einmal, dass es ihnen bei der Aktion nicht darum ging, den thailändischen Staat bzw. das “thailändische Volk” zu beleidigen. Wären anstelle der thailändischen Flaggen dort Coca-Cola-Fahnen gehangen, hätten sie wohl auch diese heruntergerissen. Eine bewusste Schmähung kann ich in diesem Fall nicht erkennen.

Auch könnte man, wie die Schweiz es tut, einen Unterschied zwischen dem privaten und hoheitlichen Gebrauch von Flaggen machen. In der Schweiz ist das Zerstören der Schweizer Flagge erlaubt, solange es sich um keine “offizielle” Flagge handelt; also keine solche, die als Hoheitszeichen und Ausdruck der Staatsgewalt an einem öffentlichen Gebäude oder dergleichen angebracht ist. Soweit ich das auf dem Überwachungsvideo erkennen kann, waren die thailändischen Flaggen, die die Jugendlichen heruntergerissen haben, keine “amtlichen” Flaggen, sondern private, wie sie in Thailand allgegenwärtig sind. In der Schweiz wäre das demnach eine reine Sachbeschädigung.

Haben die beiden Burschen mit ihren Taten und Aussagen nicht Schande über Italien und uns Südtiroler gebracht?
Die Jugendlichen haben sich ungebührlich benommen. Dies jedoch zu einem Beleg für ein Versagen der Eltern in der Erziehung und einen Verfall der Südtiroler Gesellschaft hochzustilisieren, wie das in sozialen Netzwerken gemacht wurde, ist lächerlich und niederträchtig den betroffenen Familien gegenüber. Mit Genuss wurde der mittelalterliche Pranger, der in Thailand gang und gäbe ist, auch in Südtirol auf den Dorfplatz gezerrt, die jungen Männer mit vollem Namen und Foto in allen Medien (mit Ausnahme von barfuss.it, wo anonymisiert wurde) gezeigt. Die Empörung über die “schwarzen Schafe” kochte derart hoch, dass die thailändische Justiz in nicht wenigen Kommentaren bestärkt wurde, die Südtiroler hart zu bestrafen und ins berüchtigte Gefängnis “Bankok Hilton” zu stecken. Dass dadurch das Leben zweier junger Landsleute und deren Familien wegen einer dummen Bagatelltat zerstört werden würde, schien völlig egal zu sein. Die vermeintliche moralische Überlegenheit einiger Kommentatoren ließ sie in ethische Untiefen absinken.

Den Gipfel der menschlichen Niederträchtigkeit bestieg der ehemalige Forza-Italia-Jungpolitiker Alessandro Bertoldi, der – wohl irritiert durch die unbedachte und in einer Extremsituation getätigten Aussage eines der beiden Verhafteten, dass die Flagge in seiner Heimat nicht so wichtig sei – politisches Kleingeld zu lukrieren versuchte und in aller Tatsächlichkeit den thailändischen Botschafter in Italien anschrieb, um ihn darin zu bestärken, die beiden Südtiroler zu bestrafen.

Zumindest ging der Fall am Ende glimpflich aus. Vor dem Militärgericht (!) kamen die zwei jungen Männer mit einer Bewährungsstrafe davon. Sie werden des Landes verwiesen und sollen bald nach Südtirol zurückkehren dürfen.

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