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Die egozentrische Borniertheit des Nationalstaats.
Quotation

Jedes der zwischen den beiden Weltkriegen entstandene Staatsgebilde in [Ost- und Südeuropa] enthielt mehrere Volksgruppen, deren jede den Anspruch auf nationale Souveränität stellte, also auf keinen Fall assimilierbar war. Der damals gefundene Ausweg, den Völkern, die es nicht zum eigenen Staat gebracht hatten, Minderheitenrechte zu garantieren, hat sich bekanntlich nicht bewährt. Die Minderheiten waren immer der Meinung, dass diese Rechte eben mindere Rechte sind, während das Staatsvolk in den Minderheitenverträgen entweder ein Provisorium sah – gültig, bis die vom Nationalstaat prinzipiell geforderte Assimilation erreicht sein würde – oder eine Konzession an die westlichen Mächte, deren man sich bei der nächst besten Gelegenheit entledigen würde, um den Minderheiten so oder anders den Garaus zu machen.

Die Lebensunfähigkeit gerade dieser Staatsform in der modernen Welt ist längst erwiesen, und je länger man an ihr festhält, um so böser und rücksichtsloser werden sich die Pervertierungen nicht nur des Nationalstaats, sondern auch des Nationalismus durchsetzen.

Wirkliche Demokratie aber, und das ist vielleicht in diesem Zusammenhang das Entscheidende, kann es nur geben, wo die Machtzentralisierung des Nationalstaates gebrochen ist und an ihre Stelle die dem föderativen System eigene Diffusion der Macht in viele Machtzentren getreten ist.

So wie wir heute aussenpolitisch überall vor der Frage stehen, wie wir den Verkehr der Staaten unter- und miteinander so einrichten können, dass Krieg als „ultima ratio“ der Verhandlungen ausscheidet, so steht uns heute überall innenpolitisch das Problem bevor, wie wir die moderne Massengesellschaft so umorganisieren und aufspalten können, dass es zu einer freien Meinungsbildung, zu einem vernünftigen Streit der Meinungen und damit zu einer aktiven Mitverantwortung an öffentlichen Angelegenheiten für den Einzelnen kommen kann. Der Nationalismus in seiner egozentrischen Borniertheit und der Nationalstaat in seiner wesensmässigen Unfähigkeit, die eigenen Grenzen legitim zu transzendieren, dürften dafür die denkbar schlechtesten Voraussetzungen bilden.

aus Nationalstaat und Demokratie von Hannah Arendt (1963)

Siehe auch ‹1

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Politik als Verwaltung.
Quotation

[Hannah Arendts] Sorge ist, dass man nicht Politik mit Philosophie vermengen soll. Ich glaube, es ist ein bisschen ein Klischee. […] Warum ist das ein Klischee? Weil — was für ein Bild hat man von der Politik und von der Philosophie? Die Philosophie sei starr, sei tyrannisch, und die Politik sei konkret und…

…aber gibt es da nicht noch eine andere Befürchtung, die man so formulieren könnte: Der Philosoph strebt nach Kohärenz, nach Reinheit, nach Widerspruchsfreiheit und das ist genau das, was er in der Politik niemals finden kann.

Ja, aber ich würde dann fragen: Ist es nicht so, sind die Folgen heutzutage nicht, dass wir auf diese Weise heute eine Politik haben, die ohne Vision ist, eine Politik, die — ich würde sagen — auf eine Verwaltung reduziert ist?

Dass es keinen Horizont, auch keinen utopischen Horizont mehr gibt…

Ja, utopischen Horizont sowieso, aber eine Politik, die wirklich keine Tiefe mehr hat, keine Denktiefe, es ist eine Politik die nur Verwaltung ist und Lösung von Problemen — und nichts anderes.

Wir haben heute diese Neigung, diese Tendenz, die Demokratie eigentlich nur als einen prozeduralen Vorgang zu sehen, als eine ganze Menge Regeln und nichts anderes. Und wir sehen auch die Teilnahme der Bürger, also man wählt nicht mehr. Die Zahlen sagen, dass die Menschen immer skeptischer werden und ich glaube, das ist wirklich eine große, ganz große Gefahr.

Auszüge, Transkription von mir

Die Philosophin Donatella Di Cesare in der Sternstunde Philosophie des SRF vom 7. November 2021

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4

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Conte zwei: Vertrauen von der SVP?

Die grüne Landtagsabgeordnete Brigitte Foppa schreibt auf Twitter:

#JuliaUnterberger hat als einzige in ihrer Parte[i] einen klaren Kopf. Sie hat allerdings auch ein freies Mandat. Ich erwarte mir, dass sie nicht gehorcht. Niemand hat das Recht zu gehorchen. #GovernoConte2 #südtirolervolkspartei

Lassen wir das Hannah-Arendt-Zitat beiseite, das für mich an dieser Stelle völlig fehl am Platz ist. Arendt meinte nämlich, dass sich niemand auf einen Befehl oder ein Gesetz herausreden darf, wenn dieses gegen die Menschlichkeit verstößt.

Was ich aber ebensowenig nachvollziehen kann, ist diese fast schon militante Unterstützung der neuen Regierung Conte von linker (und Südtiroler) Seite. Der alte und neue Ministerpräsident hat bis gestern jede Untat von Matteo Salvini und anderen Lega-Ministerinnen (Pillon!) mitgetragen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Er hat den Innenminister gedeckt und mit die Verantwortung übernommen, als dieser Migrantinnen auf der Diciotti festgehalten hatte. Und er hat seine politische Handlungsfähigkeit gemeinsam mit der (nun wieder maßgeblich an der Regierung beteiligten) 5SB erst begründet und ermöglicht.

Conte und die Grillo-Bewegung haben dieser unsäglichen Koalition noch nicht einmal den Stecker gezogen. Hätte nicht Salvini diesen Schritt gemacht, wären sie noch heute in Eintracht vereint. Knackpunkte waren ohnehin nicht die unmenschlichen Positionen der Lega, sondern Dinge wie die Hochgeschwindigkeit, die Verkleinerung des Parlaments oder die Wirtschaftspolitik.

Und nun sollen Conte und Di Maio von einem Tag auf den nächsten geläutert sein? Die neue Regierung mit PD und LeU hat noch nicht einmal mit Worten einen echten Bruch mit der verfehlten Sicherheits- und Migrationspolitik von Salvini angekündigt.

Warum nun etwa auch für die Südtiroler Grünen derart wichtig ist, dass die SVP (oder Teile von ihr) dieser Regierung ihr Vertrauen ausspricht, ist für mich nicht verständlich. Eine Enthaltung finde ich schon einen großen Vertrauensvorschuss.

Siehe auch ‹1

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Hannah Arendt über den Nationalstaat.
Quotation

Die Lebensunfähigkeit gerade dieser Staatsform – und die Form scheitert an Fragen des Lebens, denn das sind alle wirtschaftlichen Fragen, wenn Sie sie recht betrachten – in der modernen Welt ist längst erwiesen, und je länger man an ihr festhält, umso böser und rücksichtsloser werden sich die Pervertierungen nicht nur des Nationalstaats, sondern auch des Nationalismus durchsetzen. Man sollte nicht vergessen, dass die totale Herrschaft vor allem auch in der Form des Hitler-Regimes, nicht zuletzt dem Zusammenbruch des Nationalstaats und der Auflösung der nationalen Klassengesellschaft geschuldet war. Es war im Grunde ein Zersetzungsprodukt, wenn man es rein objektiv betrachten will. Der Souveränitätsbegriff des Nationalstaats, der ohnehin aus dem Absolutismus stammt, ist unter heutigen Machtverhältnissen ein gefährlicher Größenwahn. Die für den Nationalstaat typische Fremdenfeindlichkeit ist unter heutigen Verkehrs- und Bevölkerungsbedingungen so provinziell, dass eine bewusst national orientierte Kultur sehr schnell auf den Stand der Folklore und der Heimatkunst herabsinken dürfte. Wirkliche Demokratie aber, und das ist vielleicht in diesem Zusammenhang das Entscheidende, kann es nur geben, wo die Machtzentralisierung des Nationalstaats gebrochen ist und an ihre Stelle die dem föderativen System eigene Diffusion der Macht in viele Machtzentren gesichert ist.

Hannah Arendt in ihrem Essay »Wir Flüchtlinge«.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 | 1› 2› 3›

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Mediazione al rialzo.
Quotation // La risemantizzazione dei relitti fascisti

In Italia esiste una città-laboratorio dove da tempo si conducono esperimenti di questo tipo. Si tratta di Bolzano/Bozen, dove i monumenti del ventennio sono comunemente chiamati «relitti fascisti» (in tedesco faschistische Relikte). Lo ha raccontato su Giap Flavio Pintarelli già nel 2013. Nel frattempo, la situazione si è ulteriormente evoluta.

Il percorso che ha portato alla musealizzazione del Monumento alla Vittoria può essere di grande ispirazione, ed è di pochi giorni fa l’avvio della nuova installazione che risemantizza uno dei più ingombranti monumenti fascisti d’Italia, il fregio marmoreo di Hans Piffrader col duce a cavallo, di cui ho scritto anche su Internazionale. Oggi sul grande bassorilievo appare, tradotta nelle principali tre lingue dell’Alto Adige/Südtirol, la massima di Hannah Arendt: «Nessuno ha il diritto di obbedire».

Una soluzione bella e suggestiva, forse un po’ criptica. E troppo facilmente reversibile: basta spegnere l’installazione. Basta che alle prossime elezioni vinca un’amministrazione ostile a quel percorso e faccia un’ordinanza per pigiare il bottone. La pietra è durevole, la luce no.

Intanto, però, quella luce ha fatto imbufalire i neofascisti: «Bolzano, i nuovi talebani tentano di oscurare il bassorilievo di Mussolini», ha titolato Il Primato Nazionale, quotidiano on line di CasaPound. È la conferma che si sta seguendo una buona strada.

Bolzano/Bozen è al momento la realtà dove il dibattito è più avanzato. Ciò avviene, sia chiaro, per via di peculiarità non riproducibili altrove, prodotte dalla coesistenza di due comunità distinte, quasi due mondi accostati uno all’altro. Per semplificare al massimo: gli eredi degli invasori e gli eredi degli invasi. Tale situazione rende impossibile a chiunque blaterare con superficialità di «memoria condivisa». Nell’impossibilità di smussare, appianare, edulcorare, si è dunque spinti a cercare nuove soluzioni, in quella che noi Wu Ming chiamiamo da sempre «mediazione al rialzo».

Tratto da La leggenda dell’«architettura fascista»: un dibattito distorto su memoria e spazio urbano,pubblicato il 29.12.2017 su Giap a firma di Wu Ming 1.

Vedi anche ‹1 ‹2 ‹3 | 1› 2›

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Hannah Arendt über Mussolini.

»Was lange währt, wird endlich gut« — könnte man in diesem Fall wohl über die Historisierung des monumentalen Mussolinireliefs von Hans Piffrader am Bozner Gerichtsplatz sagen. Gestern hatte ich endlich die Gelegenheit, mir das Ergebnis vor Ort anzuschauen.

Natürlich könnte man (speziell: könnte und werde ich wohl) auch einiges aussetzen und kritisieren, doch das sind angesichts der hier vollbrachten Leistung wirklich nur Details.

Der dreisprachige Schriftzug, abends eine Leuchtschrift, ist auch tagsüber — woran ich zunächst gezweifelt hatte — einigermaßen gut sichtbar. Er ist ausreichend verständlich und gleichzeitig ausreichend kryptisch, um sowohl die erwünschte kontextualisierende Wirkung zu erzielen, als auch zum Nachdenken anzuregen. Und er hat das, was meiner Meinung nach dem (sichtbaren) Eingriff am Siegesdenkmal fehlt, nämlich die nötige Ausdrucksstärke, um vor der Wucht und der Monumentalität des faschistischen Artefakts zu bestehen.

So sieht ein gelungener Umgang mit belastetem Kulturgut aus. Man kann sich jetzt schon kaum noch vorstellen, dass so viele Jahre lang gar nichts gemacht wurde.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 | 1› 2›

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True and false.
Quotation

The ideal subject of totalitarian rule is not the convinced Nazi or the dedicated Communist, but people for whom the distinction between fact and fiction, true and false, no longer exists.

Hannah Arendt in The Origins of Totalitarianism

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The New.
Quotation

The new always happens against the overwhelming odds of statistical laws and their probability, which for all practical, everyday purposes amounts to certainty; the new therefore always appears in the guise of a miracle.

— Hannah Arendt

See also ‹1 ‹2

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