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Autorinnen und Gastbeiträge

Nestor Machno.
Die Ukraine der Machnowtschina

von Wolfgang Mayr

Der Bauern-Anarchist Nestor Machno behauptete seine Ukraine der Arbeiter und Bauern fünf Jahre lang gegen den Ansturm der zaristischen, deutschen, österreichischen und Roten Armee.

Die russische Propaganda über die ukrainischen »Nazis« zeigt überraschenderweise Wirkung, setzt sich auch in Köpfen im Westen fest. Als Beweis für die Richtigkeit der russischen Fake News verweisen Pazifisten, Kriegsgegner und Linke auf das rechtsradikale Asow-Regiment, das sich der Ideologie von Stepan Bandera verpflichtet fühlt. Putin will mit seinem Krieg die Ukraine »Entnazifizieren«, so die Begründung für den russischen Eroberungskrieg. Die Linke im Westen, im Schatten US-amerikanischer Raketen und der damit garantierten Freiheit, applaudiert ihrem »Führer« zu. Zynisch oder dümmer geht immer.

Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder, Autor der »Bloodlands«, erinnert daran, dass im Zentrum des deutschen Vernichtungskrieges im Zweiten Weltkrieg vor allem die Ukraine stand. Snyder zitiert russische Historiker, laut denen mehr Einwohner der Sowjet-Ukraine starben als Einwohner Sowjetrusslands. Die Ukrainer, Opfer der Hitler-Ideologe der »slawischen Untermenschen«.

Es gab nicht nur den Nationalisten und Antisemiten Bandera, der für einen ukrainischen Staat kämpfte. Die Nazis ließen Bandera 1941 außerdem fallen, einige Angehörige seiner Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) wurden von den Nazis ermordet. Die OUN war zweifelsohne antipolnisch, antirussisch und antisemitisch.

Aber nicht nur Bandera kämpfte, eingezwängt zwischen den deutschen Nazis und den sowjetischen Kommunisten, für eine eigenständige Ukraine. Es gab noch eine ganze lange Reihe von Persönlichkeiten, die für die Ukraine den aufrechten Gang einforderten. Und das schon Jahre zuvor.

1917, im letzten Jahr des Ersten Weltkrieges, knickte das zaristische Russland im Krieg gegen Deutschland ein. Grund: In diesem Jahr brach die Revolution aus, die zaristische Armee wandte sich vom äußeren Feind ab hin zum inneren Feind. Der in Moskau wegen anarchistischer Aktivitäten bereits 1908 zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilte Nestor Machno kehrte in den Revolutionswirren in die Ukraine zurück.

Der Sohn russischer Kleinbauern organisierte die bäuerliche Guerillabewegung »Machnowtschina«. Machno gelang es, in der zentralen Südukraine mit mehreren Millionen Menschen eine Keimzelle für eine unabhängige Ukraine zu verwirklichen. Diese Anarcho-Ukraine glich der spanischen Republik von 1936, in der die Anarchisten in Katalonien tonangebende politische Kraft waren. In der Ukraine setzten Machno und seine Bewegung schon vor der Oktoberrevolution eine weitreichende Bodenreform durch, die Großgrundbesitzer wurden kurzerhand enteignet, viele auch ermordet. Die Nestor-Anarchisten gingen äußerst gewalttätig gegen die alte Herrscher-Elite vor.

Während die Bauern auf dem Land zuerst die Großgrundbesitzer und dann die zaristische Armee samt deutschen und österreichischen Verbündeten vertrieben, wurde in Kyjiw von der Zentralna Rada, der Vollversammlung der Nationalbewegung, die unabhängige Ukrainische Volksrepublik ausgerufen. In Charkow proklamierten die Bolschewiki die Ukrainische Sowjetrepublik.

Das Anarchisten-Experiment in der russischsprachigen südlichen Zentralukraine, das zaristische Russland ließ dort im 18. Jahrhundert russische Bauern ansiedeln und nannte das Land »Neurussland«, provozierte überraschende Koalitionen. Es formierte sich eine Allianz aus Kriegsgegnern, so ging das zaristische Heer gemeinsam mit der deutschen und der österreichischen Armee gegen die ukrainischen Bauern vor.

Die Mittelmächte drängten die Rote Armee zurück, die gesamte Ukraine – von Don bis Bug – kam unter die Kontrolle des deutschen Kaiserreiches und von Österreich-Ungarn. Der erste ukrainische Staat entstand. Die Koalition mit der Ukrainischen Volksrepublik der Zentralna Rada zerbrach, die Mittelmächte unterstützen den Putsch des russischen Großgrundbesitzers und zaristischen Generals Pawlo Skoropadskyj.  Er revidierte Entscheidungen des Volksrepublik Ukraine, kehrte zur zaristischen Eliten-Politik zurück und nannte sein Staatswesen »Ukrainischer Staat«.

Im Frühling 1918 gelang es also den national-ukrainischen und österreichisch-ungarischen Truppen in der südlichen Zentral-Ukraine – in der Machno-Hochburg – die Anarchisten zu vertreiben, die Sowjets wurden abgeschafft. Machno floh nach Sowjetrussland, traf sich dort mit führenden Bolschewiki und Anarchist*innen, um den Partisanenkampf in der Ukraine zu organisieren. Illegal kehrte Machno in die Ukraine zurück, als Verbündeter der Sowjets.

Im November 1918 brach der ukrainische Staat zusammen, dem General gingen die Alliierten verloren. Deutschland und Österreich-Ungarn zogen nach ihrer Kriegs-Niederlage die Truppen zurück. Die Rote Armee nutzte das Vakuum und flutete das Land. Sie stieß aber auf Widerstand, auf ihren vermeintlichen Partner Nestor Machno.

Machno war nicht vorrangig ein Verfechter der staatlichen Unabhängigkeit. Im Gegensatz zu den russischen und ukrainischen Sozialdemokraten trat Machno nie für die Idee eines unabhängigen ukrainischen Staates ein. Er wollte »das Leben des Dorfes in die eigenen Hände nehmen« und nicht einem Nationalstaat überlassen.

Besonders diese Position machte Machno zum Gegner der bolschewistischen Revolutionsregierung im russisch-ukrainischen Krieg von 1917 bis 1922. Die bolschewistische Regierung agierte russisch, wollte die im Krieg und durch die Revolution verloren gegangenen Gebiete, Polen, das Baltikum und die Ukraine wieder zurückholen in ein großrussisches Reich unter dem Firmennamen Sowjetunion.

Die Bewegung von Mancho wehrte sich gegen die Vereinnahmung aus dem kommunistischen Russland, die Bauern wurden zur tragenden Säule im Kampf um die Unabhängigkeit der Ukraine. Obwohl Mach­no gegen die antibolschewistische Weiße Armee auf der Seite der Kommunisten kämpfte, wurde die Machnowstschina von Kriegskommissar Leo Trotzki und General Frunse hartnäckig gejagt und brutal niedergeschlagen. Die Kommunisten waren geschickte Staatspolitiker. Solange sie Machno brauchten, ha­ben sie ihn ausgenutzt. Als sie ihn nicht mehr brauchten, wurde er liquidiert.

Das blutige Ende der Machno-Bewegung und ihrer basisdemokratischen Ukraine besorgte also nicht die Bourgeoisie. Zwischen 1917 und 1922 hatten die Bolschewiki viermal die »Machnowzi« gegen ihren gemeinsamen zaristischen Feind um Hilfe angefleht. Die gutgläubigen Machnowzi waren verlässliche Verbündete der Roten Armee, die Bolschewiki von Lenin hingegen ließen die ukrainischen Anarchisten bei Bedarf immer wieder fallen.

Ende 1921 wurde Machno bei Kämpfen schwer verletzt. Er war verwundet, die 1917 erkämpfte Freiheit von den Bolschewiki abgeschafft. Seine Truppen waren zerschlagen, nur einige wenige kämpften noch hartnäckig bis Anfang 1922 weiter. Bauern, die Sympathie für die Machnowtschina zeigten, wurden von den Rot-Armisten niedergemetzelt. Schätzungen sprechen von bis zu einer Million Menschen. Zehn Jahre später erklärte Lenin-Nachfolger Stalin den ukrainischen Bauern den Krieg. Kulaken, angebliche Großbauern, wurden zwangskollektiviert, die Folge war eine Hungersnot riesigen Ausmaßes. Eine politisch herbeigeführte Katastrophe mit drei bis sechs Millionen Toten.

Die Bolschewiki gingen nach ihrem Sieg über die Zaristen brutal gegen die linke Konkurrenz vor. Gegen Matrosenräte von Kronstadt, gegen Arbeiter- und Bauernräte, nichtkommunistische Linke, Linke, die in nichtrussischen Regionen ihre eigenen Staatsgebilde errichten wollten.

Machno floh vor seinen kommunistischen Killern über Ungarn und Deutschland nach Frankreich. Dort lebte er als gebrochener und mittelloser Mann bis zu seinem Tod 1935 in einem Armenasyl.

Die bolschewistische Propaganda versuchte nachträglich, ihren ehemaligen Verbündeten und späteren Widersacher Nestor Machno anzuschwärzen — als radikalen Antisemiten. Als Initiator von Pogromen gegen Juden mit mindestens 30.000 Toten. Die übliche bolschewistische Umschreibung der Geschichte. Verantwortlich dafür war aber die Armee der bürgerlichen Ukrainischen Volksrepublik von Symon Petljura.

Desinformationen und Fake News waren schon immer eine besondere Spezialität der russischen Bolschewiki. Der politische Erbe, Wladimir Putin, verfeinerte diese Tradition der Miesmachung und Verunglimpfung politischer Kontrahenten.

Weitere Links zu Nestor Machno:

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Gegen den Alpiniaufmarsch in Trient.
Anarchistische Szene nimmt Stellung

Trientner Anarchistinnen machen gegen den fürs Wochenende vom 11. bis 13. Mai geplanten Alpiniaufmarsch in ihrer Stadt Stimmung. In einem Blogbeitrag bezeichnen sie die Veranstaltung als eine Invasion von »besoffenen, handgreiflichen und sexistischen Männern«.

»Willkommensbanner, Tricolori, Flaggen und ähnliche Abscheulichkeiten« würden überall aufgehängt, um ein verhältnismäßig kleines Gebiet auf die Ankunft von 600.000 Männern vorzubereiten. Dabei hätten Unbekannte während der letzten Nächte Dutzende von Flaggen und sogar ein Transparent verschwinden lassen. Es sei offensichtlich, dass die Anwesenheit der Alpini in der Stadt nicht allen passe.

Auch wenn der Alpini häufig als Helden gedacht wird oder als Menschen, die der Gemeinschaft Dienste (welche?) erweisen, vergisst man immer ihre wahre Rolle in der Geschichte. Man vergisst die Vergewaltigungen in Russland, Albanien, Griechenland; dass der Korps dem Faschismus und der Monarchie treu war; und all die Gewalt und die Frevel der weltweiten »Friedensmissionen« (Somalia, Irak, Afghanistan, Libanon); stets mit jener verfluchten Feder am Hut, die aber mit unschuldigem Blut getränkt ist, das nicht vergessen werden darf.

— aus dem Blog ‘romperelerighe’

Übersetzung:

Abschließend bezeichnen die Anarchistinnen die Alpini noch als »ein Rudel von Mördern«, denen man — klar ironisch — einen warmen Empfang wünsche.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5 ‹6

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Freiheit ist kein Geschenk.
Quotation

[Immanuel Kant insists] that freedom is the precondition for acquiring the maturity for freedom, not a gift to be granted when such maturity is achieved.

[Immanuel Kant betont,] dass Freiheit die Vorbedingung ist, um reif für die Freiheit zu werden, nicht ein Geschenk, das gewährt wird, sobald diese Reife [schon] erreicht ist.

Aus: Noam Chomsky, On Anarchism, Penguin Books, 2014 (S. 8)

Übersetzung:

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5 ‹6

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Chomsky über Anarchie.
Quotation

Zahlreiche Kommentatorinnen lehnen den Anarchismus als utopisch, formlos, primitiv oder anderswie mit der Realität einer komplexen Gesellschaft inkompatibel ab. Man könnte jedoch auch anders argumentieren: dass unsere Sorge zu jedem Zeitpunkt der Geschichte jene sein muss, die Formen von Autorität und Unterdrückung aufzulösen, die seit einer Zeit überlebt haben, in der sie aus Gründen der Sicherheit, des Überlebens oder der wirtschaftlichen Entwicklung gerechtfertigt gewesen sein mögen, die aber nun zu materiellen und kulturellen Mängeln beitragen, anstatt sie zu mildern.

Anarchie als eine Sozialphilosophie hat niemals »Chaos« bedeutet — tatsächlich haben Anarchistinnen typischerweise an eine hoch organisierte Gesellschaft geglaubt, bloß an eine, die demokratisch von unten organisiert ist.

Das Grundprinzip, das ich den Menschen mitteilen möchte, ist die Idee, dass jede Form von Autorität und Herrschaft und Hierarchie, jede autoritäre Struktur, beweisen muss, dass sie gerechtfertigt ist — denn sie hat nicht a priori eine Rechtfertigung.

Und wenn sie nicht gerechtfertigt werden kann, ist sie nicht legitim und sollte aufgelöst werden. Um die Wahrheit zu sagen, halte ich Anarchismus für nicht viel mehr als das. Soweit ich das sehe, ist das nur die Auffassung, dass die Leute das Recht haben, frei zu sein, und wenn es diesbezügliche Beschränkungen gibt, müssen sie gerechtfertigt sein.

Aus: Noam Chomsky, On Anarchism, Penguin Books, 2014 (S. 2, 28, 32 f.)

Übersetzung:

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4

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Radikale Demokratie statt Nationalstaat.
Quotation

Wie kann die nachhaltige Revolution gelingen?

Der Nationalstaat mit seinen monopolisierenden nationalen Gedanken — eine Heimat, eine Sprache… — das funktioniert nicht. In der Türkei hat das sogar dazu geführt, dass nach dem Zusammenfall des Osmanischen Reiches eine Republik ausgerufen wurde. Vorab wurde noch der Genozid an den Armenieren verübt, danach wurden Kurden und Griechen umgebracht. Das hat alles mit der Idee Nationalstaat zu tun, die nur eine Identität für gültig erachtet.
Ich komme einfach zum Schluss, dass eine radikale Demokratie und Rätestrukturen viel eindeutiger die gesellschaftliche Realität widerspiegeln, als das System des Nationalstaates.

Dilar Dirik, Aktivistin der kurdischen Frauenbewegung, im Salto-Interview von Martin Hanni.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3

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Autorinnen und Gastbeiträge

Was bedeutet Selbstbestimmung in einem Land wie Syrien?
Westkurdistan (Rojava)

“Demokratischer Konföderalismus” lautet die Formel für die Art von politisch-sozialer Organisation, die sich die Region Rojava (“Westen” auf kurdisch) gegeben hat. In diesem nördlichen Teil Syriens längs der Grenze zur Türkei leben mehrheitlich Kurden und andere Minderheiten wie Assyrer, Araber, christliche Chaldäer. Die Region hat sich im Jänner 2014 zur demokratischen Autonomie erklärt, eine Regionalverfassung verabschiedet und am 16. März 2016 ihren autonomen Status als “Föderation Nordsyrien – Rojava” bekräftigt.

Die Kurden der PYD und politische Kräfte der anderen Volksgruppen haben in Rojava in diesen Jahren des Bürgerkriegs in Syrien eine erstaunliche Entwicklung eingeleitet. Mitten in den Kriegswirren behauptet sich eine radikale Alternative staatlicher Organisation zum autoritären Staat im sonstigen arabischen Raum. Dieses Modell hat den arabischen Frühling robust überlebt und wird wahrscheinlich demnächst auf die Türkei ausgreifen.

Dabei hat Rojava auch Abschied genommen von den früheren Vorstellungen eines sozialistischen Kurdenstaats, der beim Kampf der PKK für Selbstbestimmung in der Türkei jahrelang Oberziel war. Abdullah Öcalan selbst, seit 1999 Gefangener der Türkei auf der Insel Imrali, hat mit seinen Schriften diese Wende eingeleitet. Man könnte das Konzept auch kommunalistisch nennen: die Revolution muss von unten kommen und die Gesellschaft in ihrer alltäglichen Herrschaftsausübung demokratisieren. So legt Rojava gleich viel Wert auf die Gleichberechtigung der Frauen wie auf Demokratie und kulturelle Selbstbestimmung. Frauen müssen nach dem Prinzip der Doppelbesetzung auf allen führenden Posten vertreten sein und in den Räten mindestens 40% der Mitglieder stellen. Die Frauen stellen auch eigene Einheiten der Selbstverteidigungskräfte Rojavas (YPJ=Einheit zum Schutz der Frauen) und der Polizei. Westkurdistan strebt nicht nach Unabhängigkeit, sondern ist bereit, sich in ein demokratisches und föderalistisches Syrien einzuordnen. Das neue Syrien wird seinen Kurden demnach mindestens jenen Status zusichern müssen, den die Autonome Region Kurdistan im Irak genießt.

Dennoch haben sowohl das Assad-Regime in Damaskus als auch die syrische Opposition die Erklärung zur demokratischen Autonomie Rojavas abgelehnt. Mit Demokratie, Frauenrechten und Föderalismus können solche Kräfte nichts anfangen. Natürlich auch die Türkei, die jeden Ansatz von kurdischer Autonomie innerhalb und an ihren Grenzen im Keim ersticken will. Deshalb ist Ankara in den letzten Monaten auch schon militärisch in Syrien interveniert, um die Bildung eines zusammenhängenden Gebiets der Kurden Rojavas zu verhindern. Schließlich hat die Türkei auch alles getan, um Rojava von jeder humanitären Hilfe und Wiederaufbauunterstützung abzuriegeln, was in der Blockade von Kobane gipfelte, das im Sommer 2015 beinahe vom IS eingenommen worden wäre. Unter größten Verlusten konnten die kurdischen Kämpferinnen die Terrormiliz zurückschlagen und drängen heute den IS immer mehr nach Süden zurück.

Rojava hat sich eine Art demokratisches Rätesystem gegeben, ist die einzige Region Syriens mit einigermaßen Sicherheit, Religionsfreiheit und Demokratie und wirbt international um Unterstützung. Das Modell strahlt auch in Syrien aus, denn auch in anderen befreiten Gebieten sind autonome Selbstverwaltungen ausgerufen worden.

Doch steht Rojava noch ein langer Weg der Anerkennung und Selbstbehauptung bevor. So wurde die autonome Region, auf Druck der Türkei und des Iran sowie wegen mangelnder Unterstützung Europas, gar nicht in die Friedensverhandlungen Genf III einbezogen. Wie üblich ist die EU gegenüber Rojava lauwarm und engagiert sich zu wenig und zu wenig koordiniert. Die USA könnten zum wichtigsten Bündnispartner Rojavas und des PYD werden, das aber keinen Zweifel daran lässt, dass es nicht als Bodentruppe für die geostrategischen Interessen irgendeiner Großmacht missbraucht werden will.

Kann der demokratische Konföderalismus für die Region Rojava eine stabilere Zukunft bringen, indem diese Regierungsform das friedliche Zusammenleben zwischen der kurdischen Mehrheit und den ethnischen sowie religiösen Minderheiten fördert? Welche Schwachpunkte hat diese Verwaltungsform? Wie unterscheidet sie sich von anderen Mechanismen des Umgangs mit ethno-kultureller Vielfalt? Kann diese Form der Autonomie eine Rolle in der Lösung des Konflikts in Syrien und in anderen Regionen des Nahen Ostens spielen? Diese Fragen erörtern Experten aus dem In- und Ausland auf einer Tagung am 21. April 2017 in Bozen, organisiert von der Eurac, der Gesellschaft für bedrohte Völker – Südtirol und dem kurdischen Informationsbüro in Italien (Ufficio d’Informazione del Kurdistan in Italia/UIKI Onlus).

Zur Vertiefung ein ausgezeichnetes Buch über Rojava:
Michael Knapp – Ercan Ayboga – Anja Flach
Revolution in Rojava
Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo
Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2015
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Westkurdistan: Tagung in Bozen.

Am 21. April findet ab 14.30 Uhr in der Bozner Eurac eine Tagung zum Thema

»Demokratischer Konföderalismus: Entwicklungen und Perspektiven der Autonomieerfahrungen in Rojava/Nordsyrien«

statt. Aus dem Flyer der Veranstaltung:

Die grundlegenden Werte des demokratischen Konföderalismus sind das Einhalten der Menschenrechte, die demokratische Beteiligung und Gleichheit, die ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt und die Trennung zwischen Staat und Religion. Der demokratische Konföderalismus ist eine Selbstverwaltungsform, die in der autonomen Föderation Nordsyrien – Rojava eingeführt wurde, um die durch den Krieg entstandene politische Lücke zu schließen.

Kann der demokratische Konföderalismus für die Region Rojava eine stabilere Zukunft bringen, indem diese Regierungsform das friedliche Zusammenleben zwischen der kurdischen Mehrheit und den ethnischen sowie religiösen Minderheiten fördert? Welche Schwachpunkte hat diese Verwaltungsform? Wie unterscheidet sie sich von anderen Mechanismen des Umgangs mit ethno-kultureller Vielfalt? Kann diese Form der Autonomie eine Rolle in der Lösung des Konflikts in Syrien und in anderen Regionen des Nahen Ostens spielen? Diese Fragen erörtern Experten aus dem In- und Ausland auf einer Tagung am 21. April. Organisatoren der Tagung sind das Institut für Minderheitenrecht von Eurac Research, die Gesellschaft für bedrohte Völker – Südtirol und das kurdische Informationsbüro in Italien (Ufficio d’Informazione del Kurdistan in Italia/UIKI Onlus).

Die Teilnahme ist kostenlos. Es sind Simultanübersetzungen (Deutsch, Italienisch und Englisch) vorgesehen.

Das detaillierte Programm kann hier heruntergeladen werden.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3

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Autorinnen und Gastbeiträge

Südtirol unterstützt West-Kurdistan.
Beschlussantrag angenommen

Rojava nennen die Kurden den Nordosten Syriens, der vor allem von Kurden und anderen Minderheiten besiedelt ist. Seit Anfang 2014 hat sich das Gebiet zu einer multikulturellen, demokratischen, säkularen “Autonomen Region” als Teil Syriens erklärt und sich vor allem gegen den IS erfolgreich verteidigt. Jetzt bekommt diese vom Assad-Regime nicht anerkannte Region auch Anerkennung und Unterstützung vom autonomen Südtirol.

Die Landtagsmehrheit bietet nicht so oft Gelegenheit für Lob, weshalb ich es hier kräftig tun will. Denn der Beschlussantrag Nr. 663/16 (Erstunterzeichner Dieter Steger) “Solidarität und Unterstützung für die Bevölkerung und die demokratischen Bestrebungen im Gebiet von Rojava” würde dem Europaparlament alle Ehre machen. Ausführlich und fundiert wird die dramatische Situation in West-Kurdistan dargelegt. Die vorläufige Verfassung von Rojava bilde

die Grundlage eines politischen und sozialen Organisationsmodells, welche dem friedlichen Zusammenleben der Gesellschaftsschichten, der Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten des Pluralismus, der demokratischen Partizipation, dem Prinzip der Gleichheit sowie der Trennung von Staat und Religion beruht

— Beschlussantrag

Die Gleichstellung der Geschlechter ist in Rojava nicht nur in der Regionalverfassung verankert, sondern wird auch konsequent angewandt bis hin zu den Frauen-Verteidigungseinheiten YPJ. Rojava hat unzählige Jesiden aus dem Irak gerettet und beherbergt Zehntausende Flüchtlinge aus dem Syrien-Krieg.

Mit seiner Resolution schließt sich der Landtag der römischen Abgeordnetenkammer an, die Italien und die UN am 17.9.2014 aufgefordert hat, in Rojava humanitäre Hilfe zu leisten und die Zugänge dafür speziell über die Türkei zu öffnen (was die Türkei konsequent ignoriert hat). Auch der Europarat hat sich diesem Aufruf angeschlossen. Der Landtag ruft die Landesregierung, die selbst komplett unterschrieben hat, auf, sich für Initiativen zum Schutz des Gebiets und zur Förderung seiner Autonomie einzusetzen. Südtirol solle sich für die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Kooperation im Rahmen seiner Entwicklungszusammenarbeit einsetzen. Im Rahmen seines Soforthilfeprogramms für den Mittelmeerraum und Nahost wird das Land demnächst konkrete Hilfsprojekte in Rojava unterstützen. Auch eine Tagung zu diesem Thema ist für 2017 geplant.

So löblich das Anliegen, so überraschend kleinkariert die Reaktion der Tirol-patriotischen Parteien. Zimmerhofer (STF) mokierte sich darüber, dass das Multikulturelle zu positiv dargestellt werde. Stocker (F) meinte, man solle besser in Mittelitalien helfen, Atz-Tammerle (STF) sorgte sich vor allem darüber, ob die Mittel korrekt eingesetzt würden. Parteikollege Knoll, sonst über Selbstbestimmungsbewegungen immer gut informiert, gab an, über Rojava zu wenig informiert zu sein. Ein Blick in die Wikipedia hätte genügt. Pöder meinte gar, der Antrag sei zu detailliert (hier wär’s wirklich detaillierter).

Dagegen verwies Hans Heiss (Grüne) auf die Lieferungen von IVECO-Militärfahrzeugen, die heute in Syrien zum Einsatz kämen. Verkauft wurden sie allerdings vor allem an die Türkei. Köllensperger (5SB) monierte vor allem, dass die Bevölkerung von Rojava heute hauptsächlich seitens der Türkei unter Beschuss stehe, die die Bildung einer demokratischen und autonomen Region in Nordsyrien partout abwürgen will. Italien solle Druck auf den NATO-Partner ausüben, der zuerst Rojava abriegle und jetzt die Kurden bekämpfe. Genau hier liegt der Knackpunkt: Was macht eigentlich Italien, was macht die EU, um das freie, autonome Rojava vor dem Erdoğan-Regime zu schützen?

Dieser Beitrag wurde auch auf Salto veröffentlicht.

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