von Prof. Paul R. Vogt, Zürich (20. April 2020)
Seit Publikation des Manuskripts und Interviews bei der «Mittelländischen Zeitung» DMZ hat sich mein Office in ein internationales «Virologie-Zentrum» verwandelt. Nebst über 2000 Leserkommentaren per Mail, WhatsApp oder SMS, erhielt ich viele Hinweise von Experten aller Fachrichtungen, so z.B. von Virologen, Immunologen, Statistikern, Epidemiologen oder Infektiologen. Ich bin all diesen Experten zu Dank verpflichtet.
Obwohl viele Fragen offenbleiben, kristallisieren sich Möglichkeiten, welche einen Weg aus dieser Krise zeigen und einen Blick in die Zukunft erlauben, z.B. ob uns dieses Virus konstant begleiten oder «bloss» saisonal wiederkehren wird und wie wir uns dagegen wappnen könnten. Ziel muss sein, menschliches Leid ohne weiteren Lock-down zu verhindern.
COVID-19: gefährlich oder nicht – kleine Statistik
COVID-19 ist hoch-infektiös. Wie man in allen Ländern fast identisch beobachten konnte, steigt die kumulierte Zahl der Infizierten ohne Gegenmassnahmen täglich um rund 40%, was einer Verdoppelung der Infizierten alle 2 Tage entspricht oder einer Verhundertfachung pro Woche. Die Infektionsrate ist auch deshalb höher als die bei einer Grippe, weil man bei COVID-19, im Gegensatz zur Grippe, auf keine zuvor Geimpfte trifft.
Die durchschnittliche Dunkelziffer der Infizierten liegt je nach Land zwischen 30 bis 90%.
Die Sterberate von COVID-19 ist – wie wir aus geschlossenen Populationen (Kreuzfahrtschiffen) wissen – rund 20x höher als die der Grippe.
Der Vergleich der absoluten Zahlen Infizierter und der absoluten Todeszahlen zwischen Ländern oder Kantonen ist Unsinn. Das ist genauso aussagekräftig wie die Behauptung, in den USA hätte es mehr Autos als in Andorra. Damit solche Vergleiche aussagekräftig werden, müssen die Todeszahlen pro 100’000 Einwohner gerechnet werden; und auch die Anzahl Patienten auf den Intensivstationen müssen pro 100’000 Einwohner angegeben werden. Leider steht die Schweiz bei beiden Quoten nicht besonders gut da. Bei den Todeszahlen je 100’000 Einwohner ist man in der «Spitzengruppe» (zusammen mit Italien, Spanien, Frankreich und Grossbritannien). Bei der Zahl der Intensivbetten lediglich im Mittelfeld. Pro Einwohner gibt es in den USA und Deutschland dreimal so viele Intensivbetten.
Der Vergleich der Gesamtzahl der Toten mit der Gesamtzahl der Infizierten vom selben Tag ist ebenso falsch. Richtig wäre, die Anzahl Toter heute durch die Anzahl tatsächlich Infizierter (inklusive Dunkelziffer) vor 16 Tagen zu dividieren, denn vom Zeitpunkt des «Infiziertwerdens» bis zum Tod vergehen durchschnittlich 16 Tage. Und darum muss man die Gesamtzahl der Toten mit der Gesamtzahl der Infizierten vor 16 Tagen vergleichen.
Diese Methode heisst «Kaplan Meier Estimator» und wird von allen Lebensversicherungen benutzt. Wieso wurde diese Methode bei der COVID-19-Pandemie bis jetzt nie angewendet? Weil sie eine höhere Todesrate, d.h. die wahre Todesrate ergeben hätte, die man nicht zur Kenntnis nehmen will.
Ältere COVID-19-Patienten haben zwar absolut ein höheres Sterberisiko. Das haben ältere Personen gemäss allgemeinen Sterbetafeln sowieso. Das relative Risiko, wegen COVID-19 zu versterben, ist deshalb in allen Altersgruppen beinahe identisch und entspricht einer Verdoppelung. Bei einem 85-jährigen Mann erhöht COVID-19 die Wahrscheinlichkeit, das nächste Jahr nicht zu erleben, von 8% auf 16%, bei einem 45-Jährigen von 0.13% auf 0.33%, was sogar mehr als einer Verdoppelung entspricht. In jeder Altersgruppe ist das Sterberisiko bei Männern in etwa doppelt so hoch wie bei Frauen.
Die europäischen Länder haben weder aus China, noch aus Südkorea, Taiwan oder Singapur etwas gelernt. Südkorea, Taiwan und Singapur sind ohne nationalen Lockdown ausgekommen – und haben heute Todeszahlen je 100’000 Einwohner, die einem Bruchteil der unsrigen entsprechen. Zudem verordneten die europäischen Länder ihren Lockdown zu spät. Nimmt man als Referenzmassstab 0.01 Tote je 100’000 Einwohner, so kann man folgendes sehen:
- China: Lockdown am 24.01.2020 bei 0.002 Toten je 100’000 Einwohner und damit 3 Tage, bevor 0.01 Tote erreicht wurden;
- Deutschland: Lockdown am 13.03.2020 bei 0.008 Toten je 100’000 Einwohner und damit 3 Tage, bevor 0.01 Tote erreicht wurden;
- USA: Lockdown bei 0.05 Toten je 100’000 Einwohner = 7 Tage nachdem 0.01 Tote erreicht wurden;
- Italien: Lockdown bei 0.13 Toten je 100’000 Einwohner, 7 Tage, nachdem 0.01 Tote erreicht wurden
- Schweiz: Lockdown bei 0.15 Toten je 100’000 Einwohner, 9 Tage, nachdem 0.01 Tote erreicht wurden.
Da die Verspätung in eine Zeit fällt, in der das Virus sich täglich um 40% ausbreitet, bedeutet eine Verspätung um eine Woche eine um einen Faktor 100 höhere Zahl an Infizierten und Toten – eine Hypothek, die man später nicht mehr aufholen kann. Und dabei hatte man zwei Monate Vorlauf, die Ergebnisse aus Wuhan zu studieren.
Den Vorlauf, bzw. die Jahre zuvor, hätte man natürlich auch nützen können, um 800 Millionen Masken (100 pro Person), 800‘000 Tests und genügend Desinfektionsmittel einzulagern, um so zusammen mit anderen Massnahmen einen Lockdown verhindern zu können. Die Kosten dieser Investitionen liegen bei circa 1 bis 1.5 Milliarden und das entspricht gerade mal 1.6% bis 2.5% des 60-Milliarden-schweren Massnahmenpakets welches der [schweizerische] Bundesrat zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen des Lockdown beschlossen hat und was womöglich gar nicht reichen wird.
Der realitätsnahe Spielfilm «Contagion» hat 2011 alles einmal durchgespielt. Auch dort fängt alles mit einer Fledermaus in China an. Einige der Virologen, die heute täglich interviewt werden, waren damals im Filmteam als Berater tätig. Und die Politiker im Film redeten wie die Politiker heute (“alles im Griff”, “nur eine Grippe”, “das öffentliche Leben muss weitergehen”, “keine Panik”).
Die Pandemie war angekündigt. Die Geheimdienste, zum Beispiel das «National Center for Medical Intelligence» (NCMI) informierten schon Ende November über eine mögliche Pandemie mit einem «cataclysmic effect», d.h. vor einer Katastrophe.