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Autorinnen und Gastbeiträge

Mit Atomwaffen kein echter Friede.
Ukraine-Krieg

Nach der russischen Invasion in der Ukraine wird in Europa ein neuer Eiserner Vorhang fallen. Danach wird es darum gehen müssen, Atomwaffen endlich definitiv zu ächten.

Die Schreckensbilder aus den beschossenen und ausgehungerten Städten des Ostens der Ukraine, das Leid der Eigeschlossenen und Flüchtenden, der unglaubliche Mut und die Entschlossenheit von Regierung und Verteidigungskräften der Ukraine werden uns noch wochenlang begleiten. Wenn Putin sein Diktat für einen Waffenstillstand (Demilitarisierung, Neutralität, Abtretung widerrechtlich besetzter Gebiete) nicht durchsetzt, wird er die nächste Garnitur an Waffen und militärischen Einheiten einsetzen bis zu den tschetschenischen Terrormilizen von Kadyrow, seinem Statthalter in Grosny, das er bis 2009 dem Erdboden gleich gemacht hat. Wie weit Russland zu gehen bereit ist, hat das Regime im Kreml in Aleppo und anderen Städten gezeigt. Wenn die Welt nach Syrien (und wohlgemerkt auch nach der Invasion des NATO-Staats Türkei in Afrin und Rojava) wieder zur Tagesordnung zurückkehrt, warum sollte das nach Putins »Militär-Sondereinsatz« im Nachbarland nicht auch so sein?

Mit Sicherheit geht diese Rechnung des Kremls nicht mehr auf, und das schafft Hoffnung. Konnte Europa in Tschetschenien und Syrien noch wegschauen und die Annexion der Krim und die von Russland herbeigeführte De-facto-Abspaltung des Donbass mit schwachen Sanktionen hinnehmen, ändert dieser Krieg alles. Zunächst hat er die Ukraine vereint, ein Land mit dutzenden Minderheiten. Er hat die EU zu einer ungekannten Geschlossenheit geführt, hinter Hilfslieferungen, Sanktionen, Flüchtlingsaufnahme ist auch die Perspektive eines baldigen EU-Beitritts einer freien Ukraine konkret geworden. Er hat für die NATO geklärt, dass sie auch konventionell zur gemeinsamen Verteidigung gerüstet sein muss. Er hat aber auch zur bitteren Erkenntnis geführt, dass hochgerüstete Autokratien zu allem bereit sind, solange sie auf ihr Militär zählen können.

Die Zeitenwende, die deutsche Politiker ausgerufen haben, betrifft nicht nur die Sanktionierung Russlands, sondern auch das Ende der Friedensdividende, der Friedensordnung, die sich nach der Schlusserklärung von Helsinki 1975 und der Gründung der OSZE ergeben hat. Das Putin-Regime hat dem souveränen Staat Ukraine das Existenzrecht und das Recht auf territoriale Integrität abgesprochen, einem ganzen Volk das Recht auf demokratische Selbstbestimmung genommen und damit die Grundlagen des Friedens in Europa aus den Angeln gehoben.

Angesichts eines dermaßen eklatanten Bruchs des Völkerrechts müsste die Weltgemeinschaft eigentlich geschlossen den Notstand ausrufen und zur Verteidigung des angegriffenen Landes schreiten. Das ist in einzelnen Fällen auch schon geschehen, wie z.B. in Korea 1950-1953, in Kuwait 1991 und dann im Kosovo 1999, dort allerdings ohne Zustimmung des von China und Russland blockierten Sicherheitsrats. Gegen das Votum der Autokratien ist dann eine Art Notwehrrecht eines angegriffenen und von Völkermord bedrohten Landes anerkannt und eine humanitäre Intervention ermöglicht worden. Das geschieht jetzt nicht: Russland hat nicht nur eine High-Tech-Armee, sondern ist die quantitativ größte Atommacht und dem Putin-Regime ist jede Eskalation zuzutrauen.

Die völkerrechtstreue Staatengemeinschaft – immerhin 141 von 193 UN-Mitgliedstaaten, die den russischen Angriff verurteilt haben – wird sich auf eine andere Strategie einigen müssen, wenn sich der Ukraine-Krieg nicht wiederholen soll. Leider werden es zunächst massive Investitionen in die Rüstung sein, die zu Lasten des Klimaschutzes gehen. In Europa wird die Stärkung der NATO unvermeidlich sein. Dann wird es ein weltweit koordiniertes Regime für Wirtschaftssanktionen gegenüber verbrecherischen Autokratien brauchen, was nicht nur für Russland gilt. Die UN wird sich eine neue demokratische Struktur und eine viel robustere Eingreiftruppe geben müssen, wenn sie Angriffskriege und Völkermord verhindern will. Schließlich wird es einen Durchbruch zur nuklearen Abrüstung brauchen. Es kann im 21. Jahrhundert nicht mehr sein, dass sich autoritäre Mächte unter dem militärischen Schirm ihrer Atomwaffen alles erlauben. Dann bliebe dem Faustrecht immer Spielraum sowohl für Erpressung als auch für konkreten Angriff. Putin braucht nur mit »noch nie gekanntem Ausmaß an Gewalt« zu drohen und kann über Nachbarländer herfallen. Die entsprechende Konvention gibt es bereits, den Atomwaffenverbotsvertrag. Er ist am 22. Jänner 2021 in Kraft getreten. 86 Staaten haben ihn unterzeichnet, 56 haben ihn ratifiziert. Natürlich die heutigen Atommächte nicht. Die offiziellen und De-facto-Atommächte haben damals gar nicht an den Verhandlungen teilgenommen. Doch genau das ist die Herausforderung der nächsten Zeit: nicht nur einen Atomwaffensperrvertrag mit allen Mitteln einhalten (geschieht derzeit gegenüber dem Iran), sondern auch den Atomwaffenverbotsvertrag endlich zu einem Pfeiler einer echten globalen Friedensordnung zu machen.

Siehe auch ‹1 ‹2

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Banaler Nationalismus in Katalonien. Und Südtirol.

Eine Leserin hat mich auf eine Abhandlung von Dr. Hans-Ingo Radatz über Katalonien hingewiesen. Sie ist darauf gestoßen, weil sie ausgehend vom Eintrag zum banalen Nationalismus im Netz recherchiert hat.

Der Text des Professors am Institut für Romanistik der Universität Bamberg ist einer der besten überhaupt, die ich je zu den auf behandelten Themen gelesen habe.

Aus der Abhandlung von Dr. Radatz zitiere und kommentiere ich hier deshalb einige auch längere Passagen, in denen es zwar um Katalonien geht, die aber außerordentlich gut auch zur Situation in Südtirol passen. Die Unterstreichungen sind von mir.

In Deutschland stoßen [die katalanischen] Forderungen auf wenig Verständnis, da man in ihnen vor allem den Ausdruck einer gefährlichen und verachtenswürdigen politischen Ideologie sieht: des Nationalismus. Dabei wird übersehen, dass [sie] nicht zuletzt auch die erschöpfte und verzweifelte Reaktion auf einen tief verwurzelten spanischen Staatsnationalismus sind, der, im Sinne von Michael Billigs banal nationalism, im Verborgenen wirkt und im Ausland praktisch nicht thematisiert wird.

— Dr. Hans-Ingo Radatz

Genauso wird der italienische Staatsnationalismus in Südtirol — aber auch gegenüber den anderen noch nicht vollständig assimilierten Minderheiten in Italien — als normal empfunden und Widerstand dagegen meist als etwas völlig Unverständliches dargestellt (‹1 ‹2 ‹3).

Geht es [in deutschen bzw. ausländischen Medien] um die spanische Seite, ist die Rede vom “spanischen Ministerpräsidenten”; der genauso demokratisch gewählte katalanische Minsterpräsident wird dagegen nicht selten als “Separatistenführer” bezeichnet.

— Dr. Hans-Ingo Radatz

Die insgesamt ablehnende Haltung gegenüber den katalanischen Bestrebungen ist Bestandteil eines mehrheitsfähigen nationalismuskritischen Diskurses, der deswegen nicht explizit gemacht wird, weil er der gebildeten Öffentlichkeit als selbstverständlich gilt und allein durch das Thema der Unabhängigkeitsforderung evoziert wird. Eine Nation kann demzufolge nur ein Volk innerhalb staatlicher Grenzen sein und “Nationen ohne Staat” sind demgegenüber folglich keine Nationen, sondern “Unruheprovinzen”, insbesondere dann, wenn wir davon ausgehen können, dass die Staaten demokratisch regiert werden. Nach dieser Überzeugung ist Katalonien also höchstens eine “Region”, aber von Natur aus niemals eine Nation; Regionen ihrerseits sind aber naturgemäß eine interne Angelegenheit des betreffenden Staats. Und in keinem Fall unsere. Kurioserweise ist es also für unsere nationalismuskritische Öffentlichkeit eine Selbstverständlichkeit, dass wir uns in solche internen Belange nicht einzumischen haben, weil die Souveränität von Nationalstaaten – also die Nation – eines der höchsten Rechtsgüter überhaupt ist. Der unverbrüchliche Respekt vor dem Nationalismus der Staaten ist ein zentrales Element des üblichen antinationalistischen Diskurses.

Insofern gibt es für uns auch kein echtes Katalonienproblem: Katalonien ist demnach wesensmäßig und unabänderlich eine spanische Region und anderslautende Forderungen können daher nur als unseriös gelten. Nach dieser Sichtweise entsteht der Konflikt dadurch, dass Spanien in vernünftiger Weise den Rechtsstaat verteidigt, während katalanische Rebellen eine offensichtlich irrationale Position verteidigen. Diese selbstverständlichen Argumente muss man in deutschen Medien nicht ausformulieren; die begleitenden Leserbriefe übernehmen die Ausführung verlässlich: “Anachronismus, jetzt wo Europa zusammenwächst”, “korrupte Rattenfängerelite führt das katalanische Volk ins Unglück”, “Katala-Nazis wollen Spanien zerstören”, “Vorwand, um sich vor der Solidarität mit Andalusien zu drücken” … Interessant an dieser liberal auftretenden Kritik ist allerdings, dass sie ausschließlich Unabhängigkeitsbewegungen betrifft, die ihr Ziel (noch) nicht erreicht haben. Ist der neue Staat erst einmal etabliert, verstummen sie sofort: aus Respekt vor der Souveränität des neuen Nationalstaats!

— Dr. Hans-Ingo Radatz

Die etablierten Nationalstaaten erhalten dabei den Nimbus grundvernünftiger, ja nahezu naturgesetzlicher Notwendigkeiten; sie werden unantastbar und unhinterfragbar und ihr Nationalismus wird diskursiv zu einem harmlosen Patriotismus euphemisiert. Alle Bewegungen und Gruppierungen aber, die eine Veränderung dieses status quo anstreben, um ihrerseits einen eigenen Nationalstaat zu erringen, werden als gefährliche Brandstifter hingestellt, die den labilen Konsens der Staatsgrenzen in Frage stellen und so die Gefahr erneuter nationalistischer Kriege heraufbeschwören. Diese Gruppen werden in der öffentlichen Wahrnehmung als gefährliche “Nationalisten” gesehen.

— Dr. Hans-Ingo Radatz

Der britische Soziologe Michael Billig hat 1995 in seinem Buch Banal Nationalism überzeugend gezeigt, dass unser Diskurs über (und gegen) den Nationalismus von einer Wahrnehmungsstörung geprägt ist, die uns Nationalismus nur dort sehen lässt, wo nicht-staatliche Gruppen auf Veränderung drängen, nicht aber dort, wo der alltägliche, banale Nationalismus der etablierten Nationalstaaten am Werke ist[.]

— Dr. Hans-Ingo Radatz

Billig bezeichnet diesen unbemerkten Alltagsnationalismus als banal nationalism; von der Nationalismuskritik wird er höchstens am Rande wahrgenommen und kann in jedem Fall auf Milde hoffen.

— Dr. Hans-Ingo Radatz

Während der reivindikative Nationalismus nicht-staatlicher Akteure in westlichen Gesellschaften vehement zurückgewiesen wird, ist der eigene “banale” Nationalismus kein Thema.

Niemand würde es daher mehr wagen, das Kleinstaaterei-Argument auf Irland, Lettland, Norwegen oder Slowenien anzuwenden oder diese Staaten heute noch für ihren historischen Separatismus kritisieren.

Dass sie allesamt ihre staatliche Unabhängigkeit erst in jüngster Zeit durch eine völkerrechts- und verfassungswidrige Loslösung von Großbritannien, der Sowjetunion, Dänemark oder Jugoslawien erkämpft haben, ist vergeben und vergessen. Dabei macht es für die öffentliche Wahrnehmung offenbar keinen Unterschied, ob die Loslösung von einem diktatorischen Unrechtsstaat oder von einer parlamentarischen Demokratie erfolgte! Der Erfolg lässt jeden Makel der Illegalität oder des “nationalistischen Fanatismus” verschwinden und der neugeborene Nationalstaat kann nun auf dasselbe Wohlwollen der Nationalismuskritiker hoffen, das seinerzeit, in der heißen Phase des Konflikts, nur der ehemaligen Titularnation entgegengebracht worden war. Von den 29 Mitgliedsstaaten der EU hat fast ein Drittel die Unabhängigkeit erst im Lauf des 20. Jahrhunderts erlangt[.]

— Dr. Hans-Ingo Radatz

Außerhalb der EU könnten [sic] man zudem noch das Kosovo und Montenegro nennen. In allen Fällen gab es Rechtsbrüche, gewaltsame Auseinandersetzungen, Völkerrechtsverstöße, die aber heute höchstens noch in historischer Perpektive diskutiert werden, den betreffenden Staaten aber im öffentlichen Diskurs nie mehr vorgehalten werden.

— Dr. Hans-Ingo Radatz

[Die Zurückdrängung der baskischen, galicischen und katalanischen Sprache] ist nicht einfach nur sprachdarwinistisches Schicksal, sondern durchaus auch Ergebnis überkommener spanischer Sprachenpolitik, die die Regionalsprachen zwar heute nicht mehr aktiv unterdrückt, wohl aber noch asymmetrisch behandelt: Alle Bürger der Region dürfen die Regionalsprache verwenden; als Bürger Spaniens aber müssen sie zugleich die spanische Sprache beherrschen. Faktisch bedeutet das nicht nur für den Amtsverkehr: Ein einziger monolingualer Spanier kann damit regelmäßig alle anderen Anwesenden zum Sprachwechsel veranlassen.

— Dr. Hans-Ingo Radatz

Dies ist uns auch in Südtirol trotz formalen Rechts auf Gebrauch der Muttersprache bestens bekannt.

Dass diese politische Lösung, das sogenannte Individualprinzip, nicht selbstverständlich ist, sieht man an der Behandlung von Regionalsprachen z.B. in Kanada, der Schweiz oder Belgien, wo das Territorialprinzip gilt: Hier garantiert der Staat seinen Bürgern, dass innerhalb der betreffenden Territorien die Regionalsprache obligatorisch ist und damit als vollwertige Alltags-, Kultur- und Amtssprache fungiert.

Das heißt beispielsweise für die Bürger des kanadischen Québec, dass sie ihr gesamtes Leben in französischer Sprache abwickeln können, ohne je gezwungen [!] zu werden, im Kontakt mit Behörden das Englische zu verwenden. Flamen müssen [!] kein Französisch und Wallonen kein Niederländisch sprechen, um vollwertige belgische Staatsbürger zu sein. Und in vielen Orten des Engadins im Kanton Graubünden ist gar Vallader (einer der sieben traditionellen Schriftdialekte des Bündnerromanischen) einzige Behörden- und Schulsprache. Was also in Spanien wie eine höchst großzügige Sprachenpolitik wirkt, ist es im internationalen Vergleich mit anderen mehrsprachigen oder multinationalen Staaten nicht unbedingt.

Dazu kommt noch, dass Katalonien als wichtige Industrie- und Tourismusregion bevorzugtes Ziel innerspanischer Migration war und immer noch ist. Der spanische Sprachnationalismus und seine gesetzliche Ausgestaltung sorgen dafür, dass den Zuwanderern staatlicherseits bescheinigt wird, dass eine sprachliche Integration in Katalonien nicht nötig ist und dass das Katalanische eine Angelegenheit ist, die nur die Katalanen betrifft.

— Dr. Hans-Ingo Radatz

Auch Südtirol als wirtschaftlich erfolgreiches Land zieht viele Menschen aus Italien an, jedenfalls im Verhältnis zur Einwohnerinnenzahl. Und auch hier haben Zuwandernde (von innerhalb und außerhalb Italiens) eine sprachliche Integration ins Deutsche oder gar Ladinische sehr häufig nicht nötig.

Im Alltag bedeutet dies, dass ein Leben auf Katalanisch ein ständiger Kampf ist. Die Kassiererin im Supermarkt versteht natürlich, was der Kunde ihr auf Katalanisch sagt (“Ein[e] Plastiktüte, bitte!”), hat aber keine Lust, es zu verstehen. Es sind die alltäglichen kleinen Machtkämpfe: “Sprechen Sie Spanisch, ich verstehe Sie nicht!” Die meisten einsprachigen Zuwanderer haben nicht das Gefühl, dass ihnen ohne die Landessprache etwas fehlte. Im Gegenteil: Die Haltung ist, dass wir hier schließlich in Spanien sind und niemand mit einer “fremden” Sprache belästigt werden sollte. Also wechselt der Kunde im Supermarkt ins Spanische, weil alle Katalanischsprecher (oft zu ihrem Nachteil) perfekt zweisprachig sind. Oder er insistiert und wiederholt seine Bitte auf Katalanisch. Die Schlange in seinem Rücken rollt mit den Augen. Bei der dritten Wiederholung wird ihm die Kassiererin schließlich wütend eine Plastiktüte hinwerfen, weil sie plötzlich doch versteht, was gewünscht war. Jeder Katalanischsprecher kennt diese Situationen bis zum Überdruss. Das Nicht-Beherrschen der Landessprache beschämt die Einsprachigen normalerweise nicht etwa; man hört immer wieder “Wie bitte!?”, “Auf Spanisch, wir sind hier in Spanien!”

— Dr. Hans-Ingo Radatz

Wir kennen das (‹1 ‹2).

Diese kleinen Alltagskämpfe enden fast immer zugunsten der monolingualen Spanischsprecher, denn der Sozialdruck der Umstehenden drängt stets, sich nicht so anzustellen. Schließlich können wir doch alle Spanisch. In großen historisch katalanischsprachigen Städten wie Valencia oder Palma hört man die Sprache immer weniger und auf den Schulhöfen passen sich die bilingualen katalanischsprachigen Kinder wie selbstverständlich ihren monolingualen spanischsprachigen Schulkameraden an; selbst in Barcelona kann zwar fast jeder Katalanisch, aber gewohnheitsmäßig gesprochen wird es dort gerade noch von einem Drittel der Bevölkerung.

— Dr. Hans-Ingo Radatz

In Bozen ist gar nur noch ein Viertel der Bevölkerung deutscher Muttersprache.

Interessant ist bei alledem die zugrundeliegende scheinbar pragmatische, im Grunde aber nationalistische Annahme, die [viele über Katalonien berichtende Journalistinnen] hier an den Tag legen: die Überzeugung nämlich, dass die Sprache der spanischen Nation automatisch wichtiger ist als das Katalanische, dem es ansonsten an nichts als nur an dieser Würde mangelt: eine Staatssprache zu sein.

Die allgegenwärtige Intuition, dass der banale Nationalismus der etablierten Nationalstaaten unproblematisch sei, macht es auch hier überflüssig, das Argument überhaupt auszuformulieren. Spanisch ist eben eine echte, vollwertige Sprache (mit “Armee und Flotte”, wie es der Jiddisch-Sprachforscher Max Weinreich einmal formuliert haben soll), das Katalanische dagegen irgendein Folkloreprodukt, ein Dialekt, eine Halbsprache.

— Dr. Hans-Ingo Radatz

Selbst die deutsche Sprache in Südtirol — obschon Teil eines größeren Sprachraums — wird nicht selten mit allseits bekannten, aber größtenteils völlig erfundenen Argumenten wie »die sprechen nur einen unverständlichen Dialekt«, »das ist kein Deutsch«, »die beherrschen ihre eigene Sprache gar nicht richtig« oder »die werden in Deutschland/Österreich nicht einmal verstanden« in die Ecke des Folkloreprodukts, der Halbsprache gedrängt. Auch das ist wohl ein Reflex, der auf banalem Nationalismus beruht (‹1).

[Manche] kritisieren es scharf, wenn in Barcelona das Katalanische das Spanische verdrängen sollte. Ihre Kritik bleibt allerdings ein wenig ahistorisch am gegenwärtigen Einzelfall hängen, in dem eine einzelne kleine Sprache sich gegen eine übermächtige Staatssprache zu behaupten sucht. Ein solcher Kampf ist demnach eine anachronistische Eulenspiegelei. Hat ein solcher Kampf allerdings erst einmal zum Erfolg geführt, verschwindet der betreffende Fall sofort spurlos aus diesem kritischen Diskurs: Dass das einst schwedische Helsingfors heute Helsinki heißt und Finnisch spricht, ist in diesem Kontext nämlich nie Thema. Ebensowenig wie der Sprachwandel Revals (Tallinn) zum Estnischen oder der von Wilna vom Polnischen zum Litauischen (Vilnius). Der eigene Nationalstaat heilt alle Sünden der Vergangenheit!

— Dr. Hans-Ingo Radatz

Der Originaltext ist vom 14. Oktober 2019 (Erstveröffentlichung auf der Website von Peira – Gesellschaft für Politisches Wagnis e.V).

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 | 1› 2›

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Autorinnen und Gastbeiträge

Missachtetes Selbstbestimmungsrecht als Konfliktursache.
Berg-Karabach – Republik Arzach

Derzeit wird die kleine Bergregion Karabach von aserbaidschanischen Truppen mit türkischer Unterstützung großflächig bombardiert. Über tausend Menschen sind umgekommen, 75.000 Bewohner, die Hälfte der Bevölkerung von Arzach, sollen schon geflohen sein. Die 1991 selbst erklärte Republik Arzach ist eine armenische Enklave in Aserbaidschan, deren Status in der Sowjetzeit nie zufriedenstellend gelöst worden ist. In den Kriegen seit 1991 sind mehr als 40.000 Menschen umgekommen, davon 23.000 Armenier. Auch an die 600.000 Azeris sind aus den umstrittenen Gebieten geflüchtet. Mithilfe Armeniens hat die Republik Arzach nämlich eine größere Pufferzone besetzt, um sich gegen neue Offensiven Aserbaidschans militärisch abzusichern.

Das autoritäre Regime in Baku wird von der Erdogan-Despotie militärisch unterstützt, die diesen Kriegseintritt zugunsten des „Brudervolks“ von Aserbaidschan auch im großen Stil propagandistisch ausschlachtet. Diktator Alijev setzt auf die nationale Solidarität im Kampf gegen den äußeren Feind, zumal es in seinem Land wirtschaftlich und sozial immer mehr bergab geht. Auf der anderen Seite steht das demokratische Armenien. Der nach einem demokratischen Frühling gewählte Präsident Paschinjan hat im August 2019 in Stepanakert, der Hauptstadt der Republik Arzach, klipp und klar gesagt: „Arzach ist und bleibt Armenien.“

Die Türkei eröffnet mit der Intervention zugunsten Aserbaidschans einen neuen Kriegsschauplatz gegenüber Armeniens Schutzmacht Russland, neben Syrien und Libyen, um seine Verhandlungsposition auszubauen. Erstaunlich: die Erdogan-Despotie ist trotz ihrer völkerrechtswidrigen und aggressiven Außenpolitik immer noch NATO-Mitglied, also unser Bündnispartner. Nicht erstaunlich: die EU hat wie gewohnt keine einheitliche und klare Position zu diesem Konflikt.

Voraussichtlich wird es, vermittelt durch Russland, die USA und die sog. Minsker Gruppe der OSZE, zu einem neuen Waffenstillstand kommen mit einer Korrektur der heutigen Pufferzone. Das wäre wiederum keine dauerhafte stabile Lösung. Der 1918 gegründete Staat Aserbaidschan erhielt das Gebiet 1921 und erhebt heute Anspruch auf die Wiederherstellung seiner staatlichen Integrität. Die UN und der Europarat haben in Resolutionen die Rückgabe von Arzach an Aserbaidschan gefordert: eine Fehlentscheidung, die von den Armeniern von Arzach komplett abgelehnt wird: es ist, als ob die Staatengemeinschaft aus 100 Jahren leidvoller Erfahrung nichts gelernt hätte.

Eine stabile Lösung kann nur durch die in verschiedenen UN-Konventionen grundgelegte Anwendung des Selbstbestimmungsrechts erreicht werden, indem den Menschen das Recht auf freie Entscheidung über ihren politischen Status erlaubt wird. Die Staatengemeinschaft muss sich zur Anwendung dieses demokratischen Grundrechts als Friedensinstrument durchringen. In einem zweiten Schritt kann sich das Volk von Arzach für die Integration in den Staat Armenien entscheiden, da diese Mini-Republik als unabhängiger Staat kaum überlebensfähig ist.

Warum Selbstbestimmung? Die Armenier von Berg-Karabach (Arzach, armenische Schreibweise Artsakh) wurden schon vor genau 100 Jahren Opfer eklatanter Fehlentscheidungen der Staaten. Ihr Siedlungsgebiet gehört seit Jahrhunderten zum Kern armenischer Gebiete im Kaukasus. Die Friedenskonferenz von Paris konnte sich bezüglich Karabach nicht entscheiden, das schon damals zu 90% von Armeniern bewohnt war. Zwischen Dezember 1920 und Juni 1921 waren sowohl Nachitschewan (heute „autonome“ Region von Aserbaidschan) als auch Berg-Karabach Sowjetarmenien überlassen worden. Auf Drängen der kemalistischen Türkei schlug die Sowjetunion im Juli 1921 beide Gebiete Aserbaidschan zu. Die Armenier von Berg-Karabach wurden einfach übergangen, beharrten aber im 20. Jahrhundert immer auf Wiedervereinigung. Die Anträge des pseudoautonomen Oblast (Kreis) Berg-Karabach aus Aserbaidschan entlassen und Armenien angegliedert zu werden, wurden pauschal abgelehnt. In der Reformperiode seit 1988 bildete sich eine Volksbewegung unter der Losung „Miazum!“ (Vereinigung), die von Aserbaidschan ignoriert wurde. Als sich daraufhin Karabach praktisch geschlossen loslöste, überzog Aserbaidschan die kleine Bergregion mit Krieg.

Somit erleben die Armenier von Arzach derzeit eine neue Runde eines 100 Jahre alten Konflikts. Wenn man heute tausende weiterer Opfer vermeiden will, müssen — nach 100 Jahren Missachtung des Selbstbestimmungsrechts einer kleinen Volksgruppe — die beiden betroffenen Staaten, die Minsker Gruppe der OSZE und die UNO die schwerwiegenden Fehler von damals korrigieren. Beispiel ist der Fall Kosovo: obwohl schon 1913 mit großer Mehrheit von Albanern bewohnt, wurde es nicht Albanien, sondern Serbien zugeschlagen mit allen bekannten Folgen. Es hat nach Krieg und Vertreibung 1999 eine „Sezession als Akt der Notwehr“ erreicht, die international mehrheitlich anerkannt worden ist. Tragisch ist heute die geschichtliche Kontinuität von Völkermordverbrechen: die Nachkommen der Opfer des osmanischen Völkermords an den Armeniern von 1915 werden von Aserbaidschan mit Drohnen aus israelischer Produktion bombardiert, die von der Erdogan-Despotie an Baku geliefert werden, ein Staat, der den Genozid an den Armeniern nie anerkannt hat.

Zur Vertiefung: zahlreiche Publikationen der Armenien-Spezialistin im deutschen Sprachraum, Tessa Hofmann.

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BBD

Landtag für Schaffung einer Sprachstelle.

Gestern hat der Südtiroler Landtag einen wichtigen Schritt hin zu einer echten Sprachstelle gemacht, wie es sie in vielen anderen mehrsprachigen Gebieten weltweit bereits gibt.

So vereint allein die International Association of Language Comissioners Mitglieder aus dem Baskenland, Flandern, Irland, fünfmal Kanada (New Brunswick, Ontario, Nunavut und Northwest Territories sowie den gesamtstaatlichen Comissioner of Official Languages), Katalonien, Kosovo und Wales. Aber auch Québec, País Valencià, Nordkatalonien oder die Bretagne haben sich ähnliche Büros gegeben.

Die einschlägige Tagesordnung der Freiheitlichen, die sich auch die SVP zueigen gemacht hat, sieht im verpflichtenden Teil vor:

  1. die derzeit bestehende Beschwerdestelle „Verletzungen der Bestimmungen über den Sprachgebrauch in der öffentlichen Verwaltung” in eine vollständige Sprachstelle umzuwandeln und unter anderem mit folgenden Aufgaben zu betrauen:
    • a) proaktive Kontrolle und Sensibilisierung der öffentlichen Ämter, Körperschaften und Konzessionsnehmer auf die Einhaltung der Zwei- und Dreisprachigkeitsbestimmungen im Sinne des D.P.R. vom 15. Juli 1988, Nr. 574 und anderer Gesetze, die die Sprachrechte betreffen;
    • b) Hilfe- und Beratungsstelle für Ämter, öffentliche Körperschaften, Konzessionsnehmer und Privatunternehmen in Zusammenhang mit der vorgeschriebenen Zwei- und Dreisprachigkeit und darüber hinaus;
    • c) Ombudsstelle für Bürgerinnen und Bürger, die ihre Sprachrechte verletzt sehen, auch zum Zweck der Ahndung in Zusammenarbeit mit den dafür zuständigen Stellen;
    • d) Sensibilisierungs- und Informationskampagnen sowohl für die Gesamtbevölkerung als auch für einzelne lnteressensgruppen (Privatfirmen, Berufskammern, Vereine, Verbände usw.);
    • e) Erfahrungsaustausch mit den Sprach- und Ombudsstellen anderer mehrsprachiger Gebiete;
    • f) den Fachwortschatz (Bistro) in den Südtiroler Amtssprachen in Zusammenarbeit mit den Universitäten Innsbruck und Bozen sowie mit der Eurac auf dem neuesten Stand halten, auf eine korrekte Implementierung achten und dementsprechende Empfehlungen zu veröffentlichen;
    • g) regelmäßige Ausarbeitung und Veröffentlichung von Tätigkeitsberichten und einschlägigen Erhebungen zur Sprachsituation (z. B. in Zusammenarbeit mit dem ASTAT).
  2. Die Sprachstelle mit entsprechendem Personal und finanziellen Mitteln auszustatten.
  3. In Bälde die Zuständigkeit für die Ahndung von Zwei- und Dreisprachigkeitsverstößen im Sinne des D.P.R. vom 15. Juli 1988, Nr. 574 einzufordern und an den Landeshauptmann zu übertragen.

Wenn dieser nunmehrige Beschluss tatsächlich und mit der nötigen Ernsthaftigkeit umgesetzt wird, handelt es sich meiner Meinung nach um einen wirklich großen Wurf. Gerade die starke Fokussierung auf Information, Kooperation, Beratung, Sensibilisierung kann sehr viel bewirken, sodass die Ahndung von Verstößen in den Hintergrund geraten könnte. So gesehen wäre dann Punkt 3 zwar wichtig, aber nicht notwendigerweise ausschlaggebend für den Erfolg der Maßnahme.

Auf hatten wir die Schaffung einer solchen Sprachstelle vor rund zwei Jahren ebenfalls angeregt.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 | 1› 2›

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BBD

De Zayas on Catalonia and international law.
Quotation

Today the trial of 12 Catalonian politicians who, persuant to their electoral campaigns — they were democratically elected to the Catalan parliament… these 12 politicians did what they had to do: to organize a referendum on the issue of self-determination. Self-determination, as you know, is ius cogens, self-determination is article 1 of the Covenant on civil and political Rights, and article 1 of the Covenant on economic, social and cultural Rights, self-determination is affirmed in the UN Charter and it is one of those pillars of the United Nations Organization. Notwithstanding, Spain says that self-determination means only decolonisation. And as I told some spanish professors and advisors of the then prime minister Mariano Rajoy, “I’m afraid, you guys stayed in the 1960s and never percieved the fact that there is a progressive development of international law. You’ve never felt that the dissolution of the Soviet Union into 15 separate, sovereign entities or the dissolution of Yugoslavia into seven separate entities, or the friendly divorce of the Czech Republic from the Slovak Republic actually created precedents.” And one thing that I reminded them… “please read paragraph 80 of the advisory opinion of the International Court of Justice on Kosovo.” The serbs asked the question which principle or which norm has priority: territorial integrity or self-determination? And the Court was very candid, the Court said “every time that in a United Nations document, resolution, in the UN Charter itself — article 2 paragraph 4 —, where territorial integrity is invoked is to regulate the relations between states.” Meaning: state A cannot invade state B, state A cannot annex the territory of state B. Never is it used in the internal context, and it cannot be, because self-determination is one of the pillars of United Nations, self-determination is a right of ius cogens. And it says very clearly: every people has the right of self-determination. And article 1 paragraph 3 says [that] every state party has the obligation to promote the realisation of the right of self-determination by all peoples. So, when the advisors of Rajoy say that it does not apply in Spain I say: “There again, you’re wrong. Read your own constitution. Article 10, paragraph 2 and article 96 are very clear that international law takes priority over national law and that national law must be interpreted in the light of international law, in particular in the light of the Universal Declaration of Human Rights and the other human rights instruments of which Spain is a state party.”

Madrid does not want to negotiate, Madrid doesn’t show any good faith at all. […] It’s not just shocking that you have political prisoners in Spain, meaning within the European Union, not just shocking that persons whose only “crime” is conducting a self-determination referendum, speaking in favour of self-determination, they have been kept in preventive detention under infra-human conditions for 16 months. Now we’re not talking about a banana republic, we’re not talking about an under-developed country, we’re talking about a country member of the European Union, bound by the Treaty of Lisbon, bound by article 2 of the Treaty of Lisbon that obliges every country in the European Union to respect and promote democracy, the rule of law and human rights. So here you have massive violations of human rights by the central government in Madrid and they’re moving ahead with a kangaroo trial based on the supposed crimes of rebellion and sedition.

I mean, it’s clear that they all have the right of the freedom of expression and freedom of peaceful assembly, which by the way the Catalans have observed rigorously. It’s amazing what perseverance and what patience the Catalans have shown. And for being a democratically elected parlamentarian, who was elected on a platform to conduct a referendum, to have these people criminalised and to have Brussels saying nothing about it… I mean Brussels has been opening investigations and the article 7 proceeding under the Treaty of Lisbon against Hungary and against Poland, while the situation in Spain is many times worse than that in Hungary and Poland.

Whether Madrid likes it or not, there are at least 3 million Catalans who are committed to self-determination, which does not necessarily mean secession, does not necessarily mean full independence. But at least there is an obligation on the part of the Government to negotiate.

Here we have a situation of institutionalised intransigence, I mean this is just brute force, this is just power.

It is the obligation of the European Commission to defend the right of the Catalans who happen to be european citizens. It’s not like they are interfering in the affairs of some countries in Africa or Asia. We’re talking about Europe, we’re talking about european citizens, and european citizens who are both democratic and peaceful.

Transcription and highlightings:

Alfred De Zayas, former UN Special Rapporteur, interviewed by Geopolitics & Empire (excerpts).

See also ‹1 ‹2 ‹3 ‹4

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Autorinnen und Gastbeiträge

Die Medizin der friedlichen Loslösung.

Ginge es nach Ulrich Ladurner (ff Nr. 41/2017) sollten die Katalanen die Unabhängigkeit vergessen und sich einfach der spanischen Obrigkeit fügen. Schon bedauerlich, dass er dabei die gewaltsame Repression eines demokratischen Prozesses bagatellisiert, als würden 800 statt 900 Verletzte einen Unterschied machen. Sogar das Serbien Milosevics hatte es 1991 dem Kosovo erlaubt, eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit abzuhalten. „Ihr berechtigtes Anliegen nach mehr Autonomie, nach einem besseren Finanzausgleich hat jetzt Schaden genommen“, schreibt Ladurner, als ob mehr Autonomie nach der Wahl zur Generalitat von 2015 überhaupt noch auf der Tagesordnung stünde. Diese Option haben schon 2010 einige spanische Verfassungsrichter vermasselt, als sie wesentliche Teile des neuen Autonomiestatuts kippten, das 2006 in einem Referendum von 73,2% der Katalanen gutgeheißen worden war. Die Schuld am Scheitern des Ausbaus der Autonomie schiebt Ladurner Barcelona zu: welch ein Fehlschluss. Hat doch gerade Katalonien seit 2010 immer wieder zu Verhandlungen gedrängt, während die unnachgiebige Haltung Madrids die maßgeblichen Parteien Kataloniens auf den Kurs Richtung Unabhängigkeit gedrängt hat.

Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist kein „Gift der Separation“ (Ladurner), sondern ein Grundrecht, das gar nicht so selten demokratisch in Anspruch genommen wird. Seit 1991 haben weltweit 55 Unabhängigkeitsreferenden in substaatlichen Einheiten stattgefunden, weitere 4 sind bis 2019 schon angesetzt. 27 davon haben zur Unabhängigkeit geführt, meist zugunsten weit kleinerer Völker als den Katalanen. Die anderen sind im bisherigen Staat verblieben, weil die Mehrheit gegen die Sezession oder die Fragestellung anders gelagert waren. Die Staatspraxis zeigt, dass Regionen und Staaten immer wieder solche Prozesse friedlich vereinbaren und durchführen. In den meisten Fällen gingen den Referenden Verhandlungen voraus. 14 der heutigen Staaten Europas waren vor 1991 bloße Gliedstaaten größerer Einheiten. Sind all diese Länder infolge der Separation jetzt „vergiftet“, Herr Ladurner? Von den 55 seit 1991 abgehaltenen Referenden über die Souveränität eines Gebiets sind 28 ohne Zustimmung des Nationalstaats erfolgt, 27 mit Einverständnis. Dennoch sind sie in den meisten Fällen als souveräne Staaten anerkannt worden, auch von der EU bzw. den meisten EU-Staaten.

Katalonien bildet also keine so extreme Ausnahme. Es wird schwer zu bestreiten sein, dass die Katalanen als eigenständige Sprach- und Kulturgemeinschaft mit tausendjähriger Geschichte das gleiche Recht haben wie Slowenen und Slowaken, Esten und Letten, Litauer und Moldawier, Mazedonier und Montenegriner, Kosovaren und Schotten. Spanien muss dringend klären, nicht ob, sondern wie das von Madrid selbst ratifizierte Völkerrecht auf Selbstbestimmung in Katalonien angewendet werden soll, wenn dieses Recht überhaupt noch eine Bedeutung haben soll. Die Katalanen sind zwar kein unterdrücktes Volk wie die Kosovaren in den 1990er Jahren, dennoch können sie beanspruchen, über ihre Zukunft selbst zu befinden. Alles andere wäre Gift für Demokratie und Völkerrecht. Mit dem Dogma der Unteilbarkeit des Staats kann der demokratische Wille der Mehrheit der 7,5 Millionen Katalanen nicht auf Dauer unterdrückt werden.

Heute kann nur ein genuin demokratischer Prozess die von Madrid ausgelöste Eskalation einbremsen, nicht das Beharren auf dem besagten Verfassungsartikel zur Unteilbarkeit des Staats. Die Selbstbestimmung kleinerer Nationen Spaniens muss als demokratisches Verfahren rechtlich geregelt werden. Nach britischem Vorbild könnten sich Madrid und Barcelona auf die Verfahrensschritte bis zur Trennung einigen. Dieses Verfahren muss möglichst durch den Europarat oder die EU überwacht werden, wollen doch beide Kontrahenten Mitglied der EU bleiben. Unsinnig das Argument der „Spaltung“ der katalanischen Gesellschaft durch einen demokratischen Prozess, als wäre Katalonien vorher ein „einig Volk“ gewesen, als wäre Spanien dies in vielen politischen Fragen. Volksabstimmungen sind und bleiben die beste Methode der politischen Legitimation einer Entscheidung über die Souveränität eines Gebietes in einem demokratischen System, weil jeder mitbestimmen kann.

Heute steht in diesem Konflikt der spanische Nationalismus gegen den nationalen Emanzipationswillen der Katalanen. Wenn nicht wie in den letzten drei Jahrhunderten wieder das Recht des Stärkeren gelten soll, gestützt auf einen von den Katalanen nicht geteilten Verfassungsartikel, gibt es in einer Demokratie nur den Weg der Verhandlungen und einen demokratischen Volksentscheid. Spanien kann den Katalanen nicht auf Dauer vorschreiben, wie sie sich politisch zu organisieren haben. Staaten und Verfassungen sind von Menschen gemacht und auch abänderbar, wenn es die Mehrheit einer Nation in freier Abstimmung wünscht. Ladurner irrt, wenn er meint, die Katalanen gingen geschwächt aus diesem Konflikt hervor. Im Gegenteil: die Neuwahlen zum Regionalparlament können eigentlich nur die Unabhängigkeitsplattform „Junts pel Sí“ stärken, die die Unabhängigkeit ausrufen wird. Die Anwendung des Art. 155 zur Aussetzung der Autonomie Kataloniens wird ein weiteres Eigentor der Regierung Rajoy.

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Einheit ohne Nationalstaat.
Quotation

Es ist doch nicht gottgegeben, dass ein unabhängiges Katalonien erst erneut eine Mitgliedschaft in der EU beantragen muss wie das Kosovo. Die Weigerung der EU, in diesem Punkt eine Moderationsrolle zu übernehmen, behindert den Lösungsprozess. Und wer glaubt, es gibt in der Katalonien-Krise keinen dritten Weg, macht an einer entscheidenden Stelle einen Denkfehler, indem er am Nationalstaat als einzig möglichen konstitutionellen Träger einer europäischen Einheit festhält. Das muss nicht so sein.

Ulrike Guérot in einem Kommentar für die Zeit.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5 ‹6

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Autorinnen und Gastbeiträge

Selbstbestimmungsrecht und Volksabstimmungen.
Neues POLITiS-Dossier 13/2017

Selbstbestimmungsforderungen und Unabhängigkeitsbestrebungen haben in den vergangenen 9-10 Jahren, also seit der Unabhängigkeit des Kosovo, neuen Schwung erhalten. Auch die Ablehnung wesentlicher Teile des neuen Autonomiestatuts Kataloniens durch das spanische Verfassungsgericht 2010 war ein Treibsatz dafür. Selbstbestimmung wird in der EU auf demokratischem und rechtlich geregeltem Weg über politische Verhandlungen angestrebt, in Osteuropa teils mit militärischer Gewalt und einseitiger Sezession, z.B. Ukraine, Krim und Moldawien und auf dem Balkan (serbisch besiedelter Norden des Kosovo). In Katalonien könnte, nach Schottland 2014, im Oktober 2017 das nächste Referendum über die Souveränität einer Region stattfinden; in Neukaledonien (Frankreich) 2018 das übernächste. Auch Schottland wird wahrscheinlich nach erfolgtem Brexit eine neue Volksabstimmung über die Unabhängigkeit abhalten wollen. Rechtlich nicht bindende Volksbefragungen über die Erweiterung der Regionalautonomie stehen am 22. Oktober 2017 in Venetien und in der Lombardei an. In weiteren Regionen ist Selbstbestimmung häufig Thema der politischen Debatte, nicht zuletzt in Südtirol.

Referenden sind die klassische Methode der politischen Legitimation einer Entscheidung über den völkerrechtlichen Status eines Gebiets in einem demokratischen System. Volksabstimmungen sind nicht nur bei Gründung eines souveränen Staates, sondern auch bei anderen Veränderungen des politischen Status sinnvoll und demokratisch geboten: so standen bei zahlreichen Abstimmungen in Teilgebieten von EU-Ländern (Frankreich, Niederlande, Vereinigtes Königreich, Dänemark) nicht nur die Unabhängigkeit, sondern auch freie Assoziation, Autonomie, eine erweiterte Autonomie und andere Arten des politischen Status zur Wahl. Nicht immer gingen die Abstimmungen zugunsten des Ausbaus der Eigenständigkeit aus, wie etwa auf Korsika 2003, in Schottland 2014, auf Puerto Rico 2017.

Einen Überblick über solche Abstimmungen bietet das neue POLITiS-Dossier 13/2017. Dabei werden nicht die vielschichtige Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts und seine Anwendung in der konkreten Politik ausgelotet, sondern ein Überblick über die 53 seit 1994 abgehaltenen Volksabstimmungen über den politischen Status eines Gebiets geboten und einige Schlussfolgerungen gezogen.

Im zweiten Teil des Dossiers wird auf die Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts in Italien eingegangen, das über die Verankerung der “Unteilbarkeit der Republik” in der Verfassung jeder Sezession oder einseitiger Änderung des Status einer Region einen Riegel vorgeschoben zu haben scheint. Welche Tendenzen sich aus diesen jüngsten Erfahrungen für Italien ableiten lassen und welche Implikationen die aktuelle Anwendung des Selbstbestimmungsrechts für Südtirol hat, darauf geht der dritte Teil des Dossiers kurz ein.

Das Dossier kann von www.politis.it frei heruntergeladen werden.

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