Eine Leserin hat mich auf eine Abhandlung von Dr. Hans-Ingo Radatz über Katalonien hingewiesen. Sie ist darauf gestoßen, weil sie ausgehend von meinem Eintrag zum banalen Nationalismus im Netz recherchiert hat.
Der Text des Professors am Institut für Romanistik der Universität Bamberg ist einer der besten überhaupt, die ich je zu den auf behandelten Themen gelesen habe.
Aus der Abhandlung von Dr. Radatz zitiere und kommentiere ich hier deshalb einige auch längere Passagen, in denen es zwar um Katalonien geht, die aber außerordentlich gut auch zur Situation in Südtirol passen. Die Unterstreichungen sind von mir.
In Deutschland stoßen [die katalanischen] Forderungen auf wenig Verständnis, da man in ihnen vor allem den Ausdruck einer gefährlichen und verachtenswürdigen politischen Ideologie sieht: des Nationalismus. Dabei wird übersehen, dass [sie] nicht zuletzt auch die erschöpfte und verzweifelte Reaktion auf einen tief verwurzelten spanischen Staatsnationalismus sind, der, im Sinne von Michael Billigs banal nationalism, im Verborgenen wirkt und im Ausland praktisch nicht thematisiert wird.
— Dr. Hans-Ingo Radatz
Genauso wird der italienische Staatsnationalismus in Südtirol — aber auch gegenüber den anderen noch nicht vollständig assimilierten Minderheiten in Italien — als normal empfunden und Widerstand dagegen meist als etwas völlig Unverständliches dargestellt (01
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).
Geht es [in deutschen bzw. ausländischen Medien] um die spanische Seite, ist die Rede vom “spanischen Ministerpräsidenten”; der genauso demokratisch gewählte katalanische Minsterpräsident wird dagegen nicht selten als “Separatistenführer” bezeichnet.
— Dr. Hans-Ingo Radatz
Die insgesamt ablehnende Haltung gegenüber den katalanischen Bestrebungen ist Bestandteil eines mehrheitsfähigen nationalismuskritischen Diskurses, der deswegen nicht explizit gemacht wird, weil er der gebildeten Öffentlichkeit als selbstverständlich gilt und allein durch das Thema der Unabhängigkeitsforderung evoziert wird. Eine Nation kann demzufolge nur ein Volk innerhalb staatlicher Grenzen sein und “Nationen ohne Staat” sind demgegenüber folglich keine Nationen, sondern “Unruheprovinzen”, insbesondere dann, wenn wir davon ausgehen können, dass die Staaten demokratisch regiert werden. Nach dieser Überzeugung ist Katalonien also höchstens eine “Region”, aber von Natur aus niemals eine Nation; Regionen ihrerseits sind aber naturgemäß eine interne Angelegenheit des betreffenden Staats. Und in keinem Fall unsere. Kurioserweise ist es also für unsere nationalismuskritische Öffentlichkeit eine Selbstverständlichkeit, dass wir uns in solche internen Belange nicht einzumischen haben, weil die Souveränität von Nationalstaaten – also die Nation – eines der höchsten Rechtsgüter überhaupt ist. Der unverbrüchliche Respekt vor dem Nationalismus der Staaten ist ein zentrales Element des üblichen antinationalistischen Diskurses.
Insofern gibt es für uns auch kein echtes Katalonienproblem: Katalonien ist demnach wesensmäßig und unabänderlich eine spanische Region und anderslautende Forderungen können daher nur als unseriös gelten. Nach dieser Sichtweise entsteht der Konflikt dadurch, dass Spanien in vernünftiger Weise den Rechtsstaat verteidigt, während katalanische Rebellen eine offensichtlich irrationale Position verteidigen. Diese selbstverständlichen Argumente muss man in deutschen Medien nicht ausformulieren; die begleitenden Leserbriefe übernehmen die Ausführung verlässlich: “Anachronismus, jetzt wo Europa zusammenwächst”, “korrupte Rattenfängerelite führt das katalanische Volk ins Unglück”, “Katala-Nazis wollen Spanien zerstören”, “Vorwand, um sich vor der Solidarität mit Andalusien zu drücken” … Interessant an dieser liberal auftretenden Kritik ist allerdings, dass sie ausschließlich Unabhängigkeitsbewegungen betrifft, die ihr Ziel (noch) nicht erreicht haben. Ist der neue Staat erst einmal etabliert, verstummen sie sofort: aus Respekt vor der Souveränität des neuen Nationalstaats!
— Dr. Hans-Ingo Radatz
Die etablierten Nationalstaaten erhalten dabei den Nimbus grundvernünftiger, ja nahezu naturgesetzlicher Notwendigkeiten; sie werden unantastbar und unhinterfragbar und ihr Nationalismus wird diskursiv zu einem harmlosen Patriotismus euphemisiert. Alle Bewegungen und Gruppierungen aber, die eine Veränderung dieses status quo anstreben, um ihrerseits einen eigenen Nationalstaat zu erringen, werden als gefährliche Brandstifter hingestellt, die den labilen Konsens der Staatsgrenzen in Frage stellen und so die Gefahr erneuter nationalistischer Kriege heraufbeschwören. Diese Gruppen werden in der öffentlichen Wahrnehmung als gefährliche “Nationalisten” gesehen.
— Dr. Hans-Ingo Radatz
Der britische Soziologe Michael Billig hat 1995 in seinem Buch Banal Nationalism überzeugend gezeigt, dass unser Diskurs über (und gegen) den Nationalismus von einer Wahrnehmungsstörung geprägt ist, die uns Nationalismus nur dort sehen lässt, wo nicht-staatliche Gruppen auf Veränderung drängen, nicht aber dort, wo der alltägliche, banale Nationalismus der etablierten Nationalstaaten am Werke ist[.]
— Dr. Hans-Ingo Radatz
Billig bezeichnet diesen unbemerkten Alltagsnationalismus als banal nationalism; von der Nationalismuskritik wird er höchstens am Rande wahrgenommen und kann in jedem Fall auf Milde hoffen.
— Dr. Hans-Ingo Radatz
Während der reivindikative Nationalismus nicht-staatlicher Akteure in westlichen Gesellschaften vehement zurückgewiesen wird, ist der eigene “banale” Nationalismus kein Thema.
Niemand würde es daher mehr wagen, das Kleinstaaterei-Argument auf Irland, Lettland, Norwegen oder Slowenien anzuwenden oder diese Staaten heute noch für ihren historischen Separatismus kritisieren.
Dass sie allesamt ihre staatliche Unabhängigkeit erst in jüngster Zeit durch eine völkerrechts- und verfassungswidrige Loslösung von Großbritannien, der Sowjetunion, Dänemark oder Jugoslawien erkämpft haben, ist vergeben und vergessen. Dabei macht es für die öffentliche Wahrnehmung offenbar keinen Unterschied, ob die Loslösung von einem diktatorischen Unrechtsstaat oder von einer parlamentarischen Demokratie erfolgte! Der Erfolg lässt jeden Makel der Illegalität oder des “nationalistischen Fanatismus” verschwinden und der neugeborene Nationalstaat kann nun auf dasselbe Wohlwollen der Nationalismuskritiker hoffen, das seinerzeit, in der heißen Phase des Konflikts, nur der ehemaligen Titularnation entgegengebracht worden war. Von den 29 Mitgliedsstaaten der EU hat fast ein Drittel die Unabhängigkeit erst im Lauf des 20. Jahrhunderts erlangt[.]
— Dr. Hans-Ingo Radatz
Außerhalb der EU könnten [sic] man zudem noch das Kosovo und Montenegro nennen. In allen Fällen gab es Rechtsbrüche, gewaltsame Auseinandersetzungen, Völkerrechtsverstöße, die aber heute höchstens noch in historischer Perpektive diskutiert werden, den betreffenden Staaten aber im öffentlichen Diskurs nie mehr vorgehalten werden.
— Dr. Hans-Ingo Radatz
[Die Zurückdrängung der baskischen, galicischen und katalanischen Sprache] ist nicht einfach nur sprachdarwinistisches Schicksal, sondern durchaus auch Ergebnis überkommener spanischer Sprachenpolitik, die die Regionalsprachen zwar heute nicht mehr aktiv unterdrückt, wohl aber noch asymmetrisch behandelt: Alle Bürger der Region dürfen die Regionalsprache verwenden; als Bürger Spaniens aber müssen sie zugleich die spanische Sprache beherrschen. Faktisch bedeutet das nicht nur für den Amtsverkehr: Ein einziger monolingualer Spanier kann damit regelmäßig alle anderen Anwesenden zum Sprachwechsel veranlassen.
— Dr. Hans-Ingo Radatz
Dies ist uns auch in Südtirol trotz formalen Rechts auf Gebrauch der Muttersprache bestens bekannt.
Dass diese politische Lösung, das sogenannte Individualprinzip, nicht selbstverständlich ist, sieht man an der Behandlung von Regionalsprachen z.B. in Kanada, der Schweiz oder Belgien, wo das Territorialprinzip gilt: Hier garantiert der Staat seinen Bürgern, dass innerhalb der betreffenden Territorien die Regionalsprache obligatorisch ist und damit als vollwertige Alltags-, Kultur- und Amtssprache fungiert.
Das heißt beispielsweise für die Bürger des kanadischen Québec, dass sie ihr gesamtes Leben in französischer Sprache abwickeln können, ohne je gezwungen [!] zu werden, im Kontakt mit Behörden das Englische zu verwenden. Flamen müssen [!] kein Französisch und Wallonen kein Niederländisch sprechen, um vollwertige belgische Staatsbürger zu sein. Und in vielen Orten des Engadins im Kanton Graubünden ist gar Vallader (einer der sieben traditionellen Schriftdialekte des Bündnerromanischen) einzige Behörden- und Schulsprache. Was also in Spanien wie eine höchst großzügige Sprachenpolitik wirkt, ist es im internationalen Vergleich mit anderen mehrsprachigen oder multinationalen Staaten nicht unbedingt.
Dazu kommt noch, dass Katalonien als wichtige Industrie- und Tourismusregion bevorzugtes Ziel innerspanischer Migration war und immer noch ist. Der spanische Sprachnationalismus und seine gesetzliche Ausgestaltung sorgen dafür, dass den Zuwanderern staatlicherseits bescheinigt wird, dass eine sprachliche Integration in Katalonien nicht nötig ist und dass das Katalanische eine Angelegenheit ist, die nur die Katalanen betrifft.
— Dr. Hans-Ingo Radatz
Auch Südtirol als wirtschaftlich erfolgreiches Land zieht viele Menschen aus Italien an, jedenfalls im Verhältnis zur Einwohnerinnenzahl. Und auch hier haben Zuwandernde (von innerhalb und außerhalb Italiens) eine sprachliche Integration ins Deutsche oder gar Ladinische sehr häufig nicht nötig.
Im Alltag bedeutet dies, dass ein Leben auf Katalanisch ein ständiger Kampf ist. Die Kassiererin im Supermarkt versteht natürlich, was der Kunde ihr auf Katalanisch sagt (“Ein[e] Plastiktüte, bitte!”), hat aber keine Lust, es zu verstehen. Es sind die alltäglichen kleinen Machtkämpfe: “Sprechen Sie Spanisch, ich verstehe Sie nicht!” Die meisten einsprachigen Zuwanderer haben nicht das Gefühl, dass ihnen ohne die Landessprache etwas fehlte. Im Gegenteil: Die Haltung ist, dass wir hier schließlich in Spanien sind und niemand mit einer “fremden” Sprache belästigt werden sollte. Also wechselt der Kunde im Supermarkt ins Spanische, weil alle Katalanischsprecher (oft zu ihrem Nachteil) perfekt zweisprachig sind. Oder er insistiert und wiederholt seine Bitte auf Katalanisch. Die Schlange in seinem Rücken rollt mit den Augen. Bei der dritten Wiederholung wird ihm die Kassiererin schließlich wütend eine Plastiktüte hinwerfen, weil sie plötzlich doch versteht, was gewünscht war. Jeder Katalanischsprecher kennt diese Situationen bis zum Überdruss. Das Nicht-Beherrschen der Landessprache beschämt die Einsprachigen normalerweise nicht etwa; man hört immer wieder “Wie bitte!?”, “Auf Spanisch, wir sind hier in Spanien!”
— Dr. Hans-Ingo Radatz
Diese kleinen Alltagskämpfe enden fast immer zugunsten der monolingualen Spanischsprecher, denn der Sozialdruck der Umstehenden drängt stets, sich nicht so anzustellen. Schließlich können wir doch alle Spanisch. In großen historisch katalanischsprachigen Städten wie Valencia oder Palma hört man die Sprache immer weniger und auf den Schulhöfen passen sich die bilingualen katalanischsprachigen Kinder wie selbstverständlich ihren monolingualen spanischsprachigen Schulkameraden an; selbst in Barcelona kann zwar fast jeder Katalanisch, aber gewohnheitsmäßig gesprochen wird es dort gerade noch von einem Drittel der Bevölkerung.
— Dr. Hans-Ingo Radatz
In Bozen ist gar nur noch ein Viertel der Bevölkerung deutscher Muttersprache.
Interessant ist bei alledem die zugrundeliegende scheinbar pragmatische, im Grunde aber nationalistische Annahme, die [viele über Katalonien berichtende Journalistinnen] hier an den Tag legen: die Überzeugung nämlich, dass die Sprache der spanischen Nation automatisch wichtiger ist als das Katalanische, dem es ansonsten an nichts als nur an dieser Würde mangelt: eine Staatssprache zu sein.
Die allgegenwärtige Intuition, dass der banale Nationalismus der etablierten Nationalstaaten unproblematisch sei, macht es auch hier überflüssig, das Argument überhaupt auszuformulieren. Spanisch ist eben eine echte, vollwertige Sprache (mit “Armee und Flotte”, wie es der Jiddisch-Sprachforscher Max Weinreich einmal formuliert haben soll), das Katalanische dagegen irgendein Folkloreprodukt, ein Dialekt, eine Halbsprache.
— Dr. Hans-Ingo Radatz
Selbst die deutsche Sprache in Südtirol — obschon Teil eines größeren Sprachraums — wird nicht selten mit allseits bekannten, aber größtenteils völlig erfundenen Argumenten wie »die sprechen nur einen unverständlichen Dialekt«, »das ist kein Deutsch«, »die beherrschen ihre eigene Sprache gar nicht richtig« oder »die werden in Deutschland/Österreich nicht einmal verstanden« in die Ecke des Folkloreprodukts, der Halbsprache gedrängt. Auch das ist wohl ein Reflex, der auf banalem Nationalismus beruht (01
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[Manche] kritisieren es scharf, wenn in Barcelona das Katalanische das Spanische verdrängen sollte. Ihre Kritik bleibt allerdings ein wenig ahistorisch am gegenwärtigen Einzelfall hängen, in dem eine einzelne kleine Sprache sich gegen eine übermächtige Staatssprache zu behaupten sucht. Ein solcher Kampf ist demnach eine anachronistische Eulenspiegelei. Hat ein solcher Kampf allerdings erst einmal zum Erfolg geführt, verschwindet der betreffende Fall sofort spurlos aus diesem kritischen Diskurs: Dass das einst schwedische Helsingfors heute Helsinki heißt und Finnisch spricht, ist in diesem Kontext nämlich nie Thema. Ebensowenig wie der Sprachwandel Revals (Tallinn) zum Estnischen oder der von Wilna vom Polnischen zum Litauischen (Vilnius). Der eigene Nationalstaat heilt alle Sünden der Vergangenheit!
— Dr. Hans-Ingo Radatz
Der Originaltext ist vom 14. Oktober 2019 (Erstveröffentlichung auf der Website von Peira – Gesellschaft für Politisches Wagnis e.V).
Siehe auch: 01
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