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Autorinnen und Gastbeiträge

ManderInnen, es isch Zeit.

Die SVP-Spitze hat sich zu einem sibyllinischen Urteil durchgerungen. Vier hochrangige Exponenten müssten zurücktreten. Das Buch über die Freunde im Edelweiß sorgt für ein ordentliches Beben.

Erst die Veröffentlichung des Buches des Autoren-Duos Christoph Franceschini und Artur Oberhofer über den SAD-Skandal und den angekoppelten Machtspielen zwingt die SVP zu Konsequenzen. Das Buch spiegelt wider, wie politisch verdorben manche SVP-Politiker sind. Dokumentiert wird diese Verdorbenheit mit Audio-Dateien der Ermittler. Eigenartig ist und bleibt, warum die SVP nicht früher die Reißleine zog, immerhin weiß die Parteiführung schon seit geraumer Zeit von den Putschplänen gegen Arno Kompatscher.

Zurücktreten müssten Landesrat Thomas Widmann, einer der Hauptakteure der Putschisten-Pläne, Bezirksobmann und Ex-SAD-Präsident Christoph Perathoner, SVP-Vize Karl Zeller – er wird für die Weitergabe der Audio-Dateien verantwortlich gemacht – und Gert Lanz als Vorsitzender der SVP-Fraktion, weil er sich konsequent vor den madig gemachten Landeshauptmann stellte. Das Buch des Autoren-Duos Christoph Franceschini und Artur Oberhofer über die Freunde im Edelweiß sorgt in der Regierungspartei also für ein ordentliches Beben.

Eine Partei demontiert sich selbst. Die Partei der Autonomie, die mit ihrem Paket die Selbstverwaltung auf den Weg brachte, steht vor einem Abgrund. Die Folge exzessiver Interessenspolitik unter dem Deckmantel der SVP.
Wie wird es wohl den Ehrenamtlichen in der SVP gehen? Vor Jahren waren es noch sehr viele, die die Volkspartei trugen. Wie viele Ehrenamtliche werden in das Buch des Autoren-Duos Franceschini und Oberhofer Freunde im Edelweiß hineingelesen, die Audio-Dateien angehört haben? Ein Buch über einige Oligarchen, die nicht dem Land dienen. Oligarchen, deren Politik meilenweit vom Volk entfernt ist. Tragen die Ehrenamtlichen diese Politik noch mit?

In den Hoch-Zeiten der Südtiroler Volkspartei warben viele Frauen und Männer unter ihren Nachbarn für die Parteimitgliedschaft. Diese Frauen und Männer waren das Rückgrat einer Partei, die selbstbewusst das »Volk« im Parteinamen führt. Damals zählte die SVP mehr als 80.000 Mitglieder. Heutzutage sollen es nur mehr 20.000 sein. Man kann wohl vermuten, Tendenz fallend.

Verwunderlich ist es nicht. In den letzten Jahren der Amtszeit von Landeshauptmann Durnwalder platzte der Sel-Skandal, der manipulierte Wettbewerb um die Stromkonzessionen. Zum Platzen brachte diesen Skandal Christoph Franceschini, damals noch Redakteur der Neuen Südtiroler Tageszeitung.

Der inzwischen abgewickelte Sel-Skandal mündete in den SAD-Skandal, der die Strom-Wettbewerbsmanipulationen von damals in den Schatten stellt. Politikwissenschaftler Günther Pallaver vergleicht den Kampf um die SAD, um die Konzessionen im öffentlichen Nahverkehr, und das damit verbundene Machtspiel mit dem Tangentopoli-Sumpf anfangs der 1990er Jahre. An der staatsweiten Korruption riesigen Ausmaßes zerbrach die mächtige Democrazia Cristiana. Ist das auch das Schicksal der SVP?

Das Buch und die Audiodateien belegen das Agieren mächtiger Interessensgruppen, die daran arbeiteten, den mit den meisten Vorzugsstimmen aus den Landtagswahlen 2018 hervorgegangenen SVP-Listenführer Arno Kompatscher als Landeshauptmann auszubremsen, zu verhindern. Der Versuch eines Putsches, gesteuert in der SVP-Fraktion von Thomas Widmann in Zusammenspiel mit dem ehemaligen Pfalzner SVP-Obmann und Unternehmer Ingomar Gatterer. Und der Alt-Landeshauptmann Durnwalder als Regisseur?

Beeindruckend, wie miesmachend Thomas Widmann über Arno Kompatscher im Telefongespräch mit Gatterer lästert. Auch die Mitschnitte weiterer Gespräche, Durnwalder über Widmann und Achammer beispielsweise, runden das Bild ab, ein erschreckendes Bild.

Der Oligarch Gatterer, seine Bewertungen einiger SVP-Politiker und seine Allmachtsallüren stehen offensichtlich für das moderne Südtirol. Ein Land zum Ausnehmen. Man bedient sich der Partei, um unter dem Edelweiß die eigenen Interessen knallhart durchzudrücken. Die Autonomie-Oligarchen missbrauchen das Land wie eine Goldgrube, es wird ausgepresst wie eine Zitrone.

»Man« fühlt sich der rechtsradikalen Lega näher als der eigenen Partei, nachzuhören in den Audiodateien. Nach seinem Wahlsieg 2018 wurde Kompatscher regelrecht in eine Koalition mit der Lega gezwungen. Der Partner der Lega sind die neofaschistischen Fratelli d’Italia.

Für die Koalition aus SVP und Lega gab es dann auch eine Belohnung, Athesia-Direktor Michl Ebner – zweifelsohne der mächtigste Oligarch – wurde während der Regierungszeit der Koalitionäre Cinque Stelle-Lega von der Lega als Staatsvertreter in die Autonomiekommission berufen.

Während Kompatscher als Landeshauptmann die Eneuerung wagte, verpasste diese seine Partei, findet ff-Vize-Chefredakteur Georg Mair. Oder sie wurde gar nicht angestrebt oder aber verhindert, könnte man hinzufügen. Landeshauptmann und Partei haben sich auseinandergelebt. Auch die Basis, die Ehrenamtlichen?

Arnold Tribus, Herausgeber der Neuen Südtiroler Tageszeitung, wünscht sich eine Revolte der Anständigen. Er findet es ungerecht, die ganze SVP als Saustall darzustellen. Tribus verweist auf Bürgermeisterinnen, Gemeinderätinnen, Referentinnen, Mitglieder von Körperschaften, »die sauber sind, anständig, redlich, unbescholten, ehrlich und ehrenhaft, sittlich und verantwortungsbewusst.« Kurzum Leute, »die ihre Pflicht tun und niemals in ihre eigene Tasche wirtschaften, sondern das Wohl des Gemeinwesens im Auge haben.« Tribus findet es unerhört, »wenn nun Generationen von kleinen Politikern verdächtigt werden können, unlautere Geschäfte und Machtspiele zu machen.«

Die Entscheidung der Partei, vier Exponenten der involvierten Lager im SAD-Skandal zum freiwilligen Abgang zu bewegen, ist halbherzig. Diese Entscheidung wird der Partei von Silvius Magnago nicht gerecht. Im Foyer des SVP-Sitzes werden BesucherInnen von einem »hölzernen« Magnago und seinem

Du sollst deiner Parteien dienen und nicht dich ihrer bedienen.

empfangen.

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Gefährliche Missverständnisse.
Quotation

Einen ärztlichen Befund zu verstehen, ist schwer. Auch in der eigenen Sprache, schon gar in der anderen Landessprache.

Dass ein Arzt einen Patienten versteht, ist ­unerlässlich für eine richtige Behandlung und eine umfassende Information. Und umgekehrt ebenso. Will das jemand ernsthaft bestreiten?

[G]rundsätzlich ist es die Pflicht eines Arztes, beide Landessprachen zu beherrschen oder sie zu erlernen, eher früher als später, und es ist das Recht des Patienten (im Autonomiestatut verbrieft), seine eigene Sprache zu verwenden.

Sprachliche Missverständnisse können schwerwiegende Folgen haben, vor allem, wenn es um die Gesundheit geht.

aus dem dieswöchigen ff-Leitartikel von Georg Mair

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5 ‹6 ‹7 | 1› 2› 3› 4›

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Vermeidbare Koalition.
Quotation

Die SVP hat sich ohne Not selber in diese Lage gebracht. Es hätte eine Alternative für die Landesregierung (Grüne und PD) und damit auch für die Europawahlen gegeben (PD). Man hätte eine Koalition mit Leuten verhindern können, die Grundrechte mit Füßen treten oder den Faschismus verklären.
Wer die Heimat schützen will, muss sie gegen solche Leute verteidigen. Auch wenn es etwas kostet.

Georg Mair in seinem dieswöchigen ff-Leitartikel

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5 ‹6

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Die Region, die SVP und das Statut.
Quotation

In seinem dieswöchigen ff-Leitartikel, wo immerhin auch folgender Satz fällt

Wäre die SVP ehrlich, würde sie für die Abschaffung der Region eintreten. Nachbarprovinzen können auch ohne Zwangskorsett zusammenarbeiten.

schreibt Georg Mair unter anderem:

Die SVP pocht gerne auf das Autonomiestatut, wenn es etwa um eine mehrsprachige Schule geht, aber wirklich gelesen hat es offensichtlich kaum jemand aus der Partei. Wie konnte man sonst übersehen, dass die Regionalregierung einen deutschen Vizepräsidenten braucht?

Bei aller Kritikwürdigkeit des Vorgehens der Sammelpartei in der Region: Wie kann man eine Grundsäule der Autonomie — die uns im Einzelnen gefallen kann oder auch nicht — mit irgendeinem winzigen Proporzdetail in der Region auf eine Ebene stellen?

Journalistinnen pochen doch — völlig zu Recht — auch auf das verfassungsmäßig garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung, ohne die Verfassung auswendig gelernt zu haben.

Siehe auch ‹1 ‹2

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Der Fluch der einfachen Antwort.
Vom "Volkssport", direkte und repräsentative Demokratie gegeneinander auszuspielen

Georg Mair schreibt in seinem Leitartikel in der dieswöchigen ff:

Komplexe Fragen lassen sich nicht mit einfachen Antworten lösen.

Wie recht er doch hat. Blöd nur, dass er in seinem Artikel mit dem Klassiker der einfachen Antworten – nämlich dem Sündenbock – aufwartet.

Der direkten Demokratie die Schuld am Brexit zu geben und eine Art hierarchische anstatt diskursive Beziehung zwischen direkter und repräsentativer Demokratie herzustellen, indem Letztere für “sicherer” und Erstere für “gefährlicher” erklärt wird, ist im Post-Brexit-Zeitalter ein gängiges Argumentationsmuster.

Neo-SVP-Senator Dieter Steger beispielsweise hat unlängst auf Twitter einem platten Bild-Kommentar mit dem Titel “Der Fluch von Volksentscheiden” seine volle Zustimmung erteilt.

Freilich kann man es sich einfach machen, auf Differenzierung verzichten, Logik ausklammern und pauschal ein Symptom zur Ursache erklären. Wenn man sich allerdings etwas Mühe gibt, erkennt man, dass die Dinge etwas komplexer liegen. Ich nehme Mairs Artikel zum Anlass, um ein paar dieser Zusammenhänge aufzuzeigen.

Jetzt ist das Land tief gespalten. Das ist die augenscheinlichste Folge der Volksabstimmung.

Im Prinzip bewirkt jeder demokratische Mehrheitsentscheid eine Spaltung. Das ist das Wesen von Mehrheitsentscheiden. Ist Irland nach dem Abtreibungsreferendum gespalten? Sind die USA nach jeder Präsidentschaftswahl gespalten? Ist eine Partei, wenn um den Vorsitz mehr als ein Kandidat antritt, gespalten? Wenn wir Spaltung verhindern wollen, müssen wir das mit der Demokratie lassen. Oder wir lernen anzuerkennen, dass die Mehrheit – im Moment – anderer Meinung ist als ich und ich immer noch die Möglichkeit habe, die anderen im demokratischen Diskurs umzustimmen. Das Thema Spaltung habe ich bereits in einem früheren  -Artikel ausführlicher erörtert.

Dabei gilt die direkte Demokratie oft als Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit, gegen die Wut über die da oben, gegen das Unbehagen an der (repräsentativen) Demokratie – die Parlamente eben, in denen der Volkswille gefiltert und in Gesetze übersetzt wird.

Es mag Zeitgenossen geben, die direkte Demokratie als Allheilmittel sehen. So wie es Menschen gibt, die in der direkten Demokratie Teufelszeug erkennen wollen. Nicht wenige sehen die Sache nüchterner und wünschen sich ein ausgewogenes Verhältnis.

Das Volk, heißt es dann, weiß eben besser, was es will. Das Volk entscheidet verantwortlich. Wer bezweifelt, dass es das (immer) tut, ist kein Demokrat, sagen die Befürworter der direkten Demokratie.

Hier sitzt Mair meines Erachtens einem Verständnisirrtum von Demokratie auf. Demokratie bedeutet nicht verantwortlich oder unverantwortlich, richtig oder falsch, sondern einzig und allein gewollt oder nicht gewollt. Zudem bezweifle ich, dass Befürworter der direkten Demokratie, jemandem, der bezweifelt, dass die Bevölkerung (immer) verantwortungsvoll entscheidet, das Demokratsein absprechen. Ich mache das aus obigem Grund nicht. Was richtig und was falsch, was verantwortlich und was unverantwortlich ist, sind nämlich subjektive, also von der Perspektive abhängige, Parameter.

In Großbritannien etwa wurden mit falschen Versprechungen hohe Erwartungen geweckt, der Wahlkampf für das Gehen war eine Desinformationskampagne. Jetzt werden die Menschen, die am überzeugtesten für den Brexit waren, am meisten daran Schaden nehmen. Fischer, kleine Kaufleute, Bauern, Autobauer.

Ein Argument, das immer wieder ins Treffen geführt wird: direkte Demokratie ist gefährlich, weil sich die Menschen zu leicht manipulieren lassen bzw. auch weil sie die Komplexität der Entscheidung nicht erfassen können. Werden in Wahlkämpfen zu Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen etwa nicht hohe Erwartungen geweckt und falsche Versprechungen gemacht? Gibt es bei solchen Repräsentantenwahlen keine Desinformationskampagnen? Wählen Menschen nicht auch Politiker, die dann ausgerechnet Politik zu deren Schaden machen oder die sich von egoistischen Motiven leiten lassen? Ist eine Personalenscheidung (Wahl) nicht oft sogar komplexer und wesentlich weitreichender als eine einzelne Sachentscheidung (Volksabstimmung)? Ist die Wahl Donald Trumps (repräsentative Demokratie) nicht vielleicht folgenschwerer als der Brexit (direkte Demokratie)? Obiges “Argument” ist noch bizarrer, wenn es von Politikern selbst kommt. Jene also, die den Politiker an seinen Platz gehievt haben, seien in der Summe demnach nicht fähig, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Ergo war auch die Wahl des Politikers selbst mit gleicher Wahrscheinlichkeit eine verantwortungslose. Dennoch liegt es mir fern, die repräsentative Demokratie aufgrund ihrer fragwürdigen Entscheidungen bezüglich Kriegen, Wirtschaft und Umwelt in Frage zu stellen. Sie ist für ein Funktionieren von Staat und Gesellschaft – obwohl ebenso unvollkommen wie die direkte Demokratie – freilich unumgänglich. Sie steht jedoch auch nicht über der direkten Demokratie, sondern die beiden Formen ergänzen sich zusammen mit deliberativen Ausprägungen zu einer kompletten Demokratie.

In Großbritannien hat die Volksabstimmung zu einer Lähmung der Politik im Allgemeinen und des Parlaments im Besonderen geführt. Komplexe Fragen lassen sich eben nicht immer mit einer einfachen Antwort lösen. Mit einem Ja oder einem Nein. Beim Brexit hat sich die Politik mit einem Referendum einfach davongestohlen. Und sich damit selber in eine aussichtslose Lage getrieben. Jetzt ist das Land nur mehr in Wut und Hass vereint.

Hier hat Mair teilweise recht. Aber eben nur teilweise. Es stimmt, dass David Cameron das Brexit-Referendum aus wahltaktischen Gründen (UKIP in Schach halten) vom Zaun gebrochen hat. Gleichzeitig heißt die Abhaltung einer Volksabstimmung nicht, dass sich die Repräsentativdemokratie notwendigerweise “davonstiehlt” und ihre Aufgabe nicht wahrnimmt. Es ist völlig legitim und in den meisten demokratischen Ländern auch vorgesehen, weitreichende Entscheidungen einer Volksabstimmung zu unterziehen. So wurde in Österreich 1994 positiv über den Beitritt zur Europäischen Union abgestimmt und 1978 der – von der Politik gewollte – Einstieg in die Atomkraft verhindert. Ähnlich in Italien, wo 2011 ein Referendum die Privatisierung der Wasserversorgung und den Neubau von Atomkraftwerken aushebelte.

Es stimmt auch, dass die britische Politik im Moment “gelähmt” ist und dass die Volksabstimmung der unmittelbare Trigger dafür war. Die direkte Demokratie allerdings als Schuldigen dafür auszumachen, greift viel zu kurz. Es waren und sind hauptsächlich Entscheidungen der repräsentativen Demokratie, die die Menschen dazu gebracht haben, für den Brexit zu stimmen. Hätte die repräsentative Demokratie – mehrheitlich – verantwortungsvoll agiert, wären nicht so viele Menschen auf der Strecke geblieben, würden sich nicht so viele Menschen unverstanden fühlen, herrschte eine Kultur, in der nicht die Rattenfänger mit einfachen Lösungen reüssieren würden. Dem Symptom – nämlich dem negativen Ausgang der Abstimmung – die Schuld für die Krankheit zu geben, ist – gelinde gesagt – etwas eigenartig. Ich wage sogar zu behaupten, dass gewisse ursächliche Entscheidungen für die Misere der Menschen, die jetzt für den Brexit gestimmt haben (unkontrollierte Entfesselung der Finanzmärkte, Steuergeschenke an Großkonzerne, umweltzerstörende Landwirtschafts- und Fischereimethoden und Ressourcenkriege, die massenhafte Flucht- und Migrationsbewegungen ausgelöst haben usw.) im Rahmen direktdemokratischer Prozesse nicht zustande gekommen wären. Es besteht also sogar die leise Hoffnung, dass der momentane Scherbenhaufen etwas Gutes hat und ein Umdenken und Hinhören bei der Repräsentativdemokratie bewirkt, wenngleich es im Moment nicht danach aussieht. Jedoch zu glauben, dass ohne diese Volksabstimmung die Repräsentativdemokratie notwendigerweise die besseren Lösungen gebracht hätte, ist naiv. Wahrscheinlicher ist, dass ein Knall, der aus der Wut über Ungleichverteilung, Umweltverschmutzung und Ohnmacht genährt wird, einfach nur hinausgezögert worden wäre.

Die Briten wollten über sich selber bestimmen. Das ist ihr gutes Recht. Wer in der EU bleiben will, der bleibe, wer gehen will, der gehe. Die EU ist keine Zwangsgemeinschaft. Doch wer gehen will, muss dies mit Verantwortung tun.

Zustimmung.

Der Brexit ist Selbstbestimmung, ohne die Verantwortung dafür tragen zu wollen. Und ohne die Folgen zu berücksichtigen, die die Entscheidung für andere hat. Für die Republik Irland zum Beispiel, die sich plötzlich mit einer Grenze zu Nord­irland wiederfinden würde – die Volksabstimmung befeuert den alten Konflikt in Nord­irland zwischen Katholiken und Protestanten. Oder für Schottland, das an das Referendum gekettet ist, obwohl es die EU nicht verlassen will und stark von den wirtschaftlichen Folgen des Brexit betroffen wäre. Die Schotten müssten hinnehmen, dass es ihnen schlechter geht, obwohl sie nichts dafür können.

Das schreibt jener Georg Mair, der noch vor einigen Jahren das schottische Ansinnen nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, welches ihnen bei positivem Ausgang vielleicht den Brexit erspart hätte, als “Egoismusprojekt” abkanzelte. Und jetzt ist auf einmal die “Nichtselbstbestimmung” Schottlands ein Problem, da sie für etwas bestraft werden, wofür sie nichts können.

Der Brexit ist ein Fall, wo Selbstbestimmung in Egoismus umschlägt.

Der Brexit hat in der Tat egoistische Züge, die vor allem von “UK First”-Politikern – also gewählten Repräsentanten – befeuert wurden.

Wie in Katalonien, wo die Lust auf Unabhängigkeit mit dem Unwillen, mit anderen den Reichtum zu teilen, eine verhängnisvolle Union eingeht.

Genau. Deshalb gingen in Barcelona auch Hunderttausende auf die Straße, um gegen die restriktive Flüchtlingspolitik Spaniens zu demonstrieren. Deswegen wurden in Barcelona und ganz Katalonien Menschen aufgenommen, die anderswo abgelehnt wurden. Deswegen war das von Separatisten regierte Katalonien das erste teilstaatliche Gebiet, welches ein Abkommen mit der UN-Milleniumskampagne unterzeichnete usw.

Ähnliches würde für Südtirol gelten. Selbstbestimmung würde das Land spalten. Die ­Italiener würden sich unweigerlich fragen (müssen), ob Südtirol noch ihre Heimat ist. Sie wären die Minderheit, die, wie beim Brexit, zurückbleiben würde. Mit Wut im Bauch. Alte Konflikte würden neu aufbrechen, neue entstehen.

Wenn man davon ausgeht, dass die italienischsprachigen Mitbürger im Lande eine homogene Masse sind, die auf Gedeih und Verderb am italienischen Staat hängen oder gar Turbonationalisten sind und ein etwaiges Südtiroler Unabhängigkeitsprojekt ein nationalistisches respektive antieuropäisches wäre, dann könnte man Mair zustimmen. Ich halte aber sowohl Ersteres als auch Zweiteres für nicht zutreffend bzw. unwahrscheinlich.
Zudem könnte man aus demokratischer Sicht einwenden, warum das Unbehagen über den Status Quo einer etwaigen Bevölkerungsmehrheit (sollte es eine solche für die Unabhängigkeit Südtirols geben) weniger wiegen sollte als das Unbehagen einer Minderheit (die sich mit an 100 Prozent grenzender Wahrscheinlichkeit nicht ausschließlich entlang “ethnischer” respektive sprachlicher Cleavages zusammensetzt), deren demokratische und politische – geschweige denn – Menschen-Rechte von eben dieser Unabhängigkeit ja nicht tangiert würden.

Es gilt, statt Referenden als Wundertüte zu verkaufen, die Demokratie zu stärken, die Parlamente, die einzelnen Abgeordneten, sie mit Fachwissen, Personal und Geld auszustatten, sie zur Transparenz zu verpflichten. Eben ihre Unabhängigkeit (von den Lobbys) zu stärken und ihnen eine unabhängige und selbstbestimmte Arbeit zu ermöglichen – im ständigen Dialog mit den Bürgern.

Zustimmung. Zu diesem Dialog gehören in einer modernen Demokratie neben deliberativen jedoch auch direktdemokratische Elemente, die weder besser noch schlechter sind als repräsentativdemokratische. Sie zeitigen auch nicht notwendigerweise die “richtigeren” Ergebnisse. Sie sind nicht unfehlbar. Sie sind einfach nur anders und urdemokratischer Ausdruck des Gewollten und Nichtgewollten.

Siehe auch ‹1 ‹2

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Petition: Regierung ohne Lega.

Auf openpetition.eu wurde ein an Landeshauptmann Arno Kompatscher und an die SVP gerichteter Aufruf gestartet, keine Koalition mit der rechtsradikalen Lega zu bilden. Als Initiatorin firmiert Olivia Kieser, Landtagskandidatin der Grünen; erklärtes Ziel sind 8.000 Unterstützungsbekundungen.

Der Wortlaut der Petition:

Sehr geehrter Herr Landeshauptmann Arno Kompatscher, sehr geehrter Herr Parteiobmann Philipp Achammer, sehr geehrte SVP-Mandatarinnen und Mandatare, geschätzte Vertreterinnen und Vertreter der Parteiorgane,

Sie führen in den kommenden Wochen die Verhandlungen, um für Südtirol eine neue Landesregierung zu bilden. Sie treffen dabei eine grundlegende Entscheidung: Es liegt in Ihrer Hand, eine Koalition mit der europafeindlichen Lega einzugehen, mit einer Bewegung, in der wichtige Vertreter humanistische Werte mit Füßen treten und Italien mehr und mehr isolieren. Sie können abwägen, ob Sie eine solche Allianz schließen wollen oder ob Sie sich dazu durchringen, mit progressiven Kräften einen Neustart zu wagen.

Daher unsere eindringliche Bitte: Entscheiden Sie sich gegen eine SVP-Lega-Koalition. Machen Sie sich stark für jegliche andere Regierungsbildung Ihrer Wahl– im Sinne der Bürgerinnen und Bürger Südtirols, im Interesse dieses Landes und seiner europäischen Zukunft.

Begründung

Jeder und jede einzelne kann mit der Unterzeichnung dieser Petition ein Zeichen setzen. Die Unterschrift bietet die Chance, sich klar gegen die Regierungsbeteiligung einer Partei auszusprechen, – die in ihrer Vergangenheit für Betrug, Geldwäsche und eine millionenfache Veruntreuung öffentlicher Gelder verantwortlich war (1), – auch heute noch eine menschenverachtende Politik vorantreibt und – in großen Zügen unsere demokratischen Werte und das Grundprinzip der Gleichheit aller missachtet.
Lega-Vertreter kokettieren öffentlich mit dem Faschismus (2), stellen die Gewaltentrennung in Frage (3), verstoßen gegen internationales Recht (4) und die Verfassung (5).

Je mehr Bürgerinnen und Bürger diese Petition unterzeichnen, umso stärker wird das Signal, dass viele Menschen in Südtirol eine Koalition mit der Lega dezidiert ablehnen. Eine Partei, die eine faschismusnahe Rhetorik nicht scheut und von ethnischen “Säuberungen” (6) spricht, kann mit den Werten der Südtiroler Volkspartei nicht vereinbar sein.

Die Regierungsbeteiligung der Lega hat dieser Partei auf nationaler Ebene einen massiven Aufschwung gegeben. Diesen Effekt wollen wir in Südtirol rechtzeitig unterbinden.

Will die SVP wirklich mit einer Partei koalieren, deren Vertreter:

  • der Todesstrafe nicht abgeneigt sind? Massimo Bessone am 28.10.2017 (7) und sich besorgt über die Zukunft der “weißen Rasse“ erklären. (2)
  • vorschlagen, die Marine solle das Feuer auf Flüchtlingsboote eröffnen. (8)
  • behaupten, Frauenmorde seien eine Erfindung der Linken (9) und in einer Beziehung trage das Opfer dieselbe Schuld wie der Aggressor.
  • den neugewählten rechtsextremen Premier von Brasilien, dessen Schlägertrupps massive Attacken gegen Zivilbevölkerung und Andersdenkende verübt haben, hochleben lassen? Fontana: „Il vento identitario soffia anche oltre i confini d’europa“ (10)
  • durch das decreto della legittima difesa, Eigentum über Menschenleben stellen?
  • in Straßburg rüpelhaft Abgeordnete beschimpfen und einen Haushalt vorstellen, der so desaströs ist, dass er erstmalig in der EU-Geschichte zurückgewiesen werden musste. (11)
  • mit Waffengewalt terroristische Übergriffe auf MigrantInnen ausüben. Der Terrorist Luca Traini hat für die Lega Nord kandidiert. (12)
  • Maßnahmen der Apartheid in italienischen Städten vorschlagen, wie getrennte Abteile für AusländerInnen und Einheimische. Salvini, als er noch Mailänder Gemeinderat war. (6)
  • die das Mancino-Gesetz, das die Verherrlichung des Faschismus streng bestraft, abschaffen möchten? (13)
  • der Meinung sind, Einwanderer und Homosexuelle sollten sich »zu den Kamelen in der Wüste« aufmachen oder im Dschungel »mit den Affen tanzen“? (14)
  • den Fußballclub SSC Neapel mit Spruchbändern wie: »Was Hitler mit den Juden gemacht hat, wäre auch das Richtige für Napoli« empfingen.
  • die Frau Cécile Kyenge Kashetu, die schwarze Parlamentarierin, als Affen beschimpften und mit Bananenschalen bewarfen?

Nein, wir wünschen für Südtirol, für unser Land keine solche Koalition. Mit unserer Unterschrift setzen wir ein starkes Zeichen für ein humanes, europafreundliches Südtirol der Grund- und Menschenrechte.

Testo italiano segue

Quellanangabe:

  1. tg24.sky.it/cronaca/2012/04/04/lega_nord_indagato_tesoriere_belsito_soldi_pubblici_famiglia_bossi_inchiesta_procure.html
  2. www.derstandard.de/story/2000073075182/chef-der-lega-nord-lobt-faschistisches-regime
  3. www.salto.bz/de/article/12092018/la-lega-sovversiva
  4. Die Lega betreibt eine radikale Abschottungspolitik von Italien, vorbei am internationalem Recht, der Genfer Flüchtlingskonvention und dem internationalen Seerecht.
  5. Ethnische Volkszählungen der Sinti und Roma verstoßen zurecht gegen die Verfassung. Diese verbietet eine Erhebungen auf der Grundlage ethnischer Merkmale.
  6. Mair, G.: Bauch gegen Kopf, in: ff- Das Südtiroler Wochenmagazin (2018), Nr. 44, S. 17
  7. www.brennerbasisdemokratie.eu/?p=43656&fbclid=IwAR194wwdFdZ9DpbdQhIDgI-O8NSKl1W-dBHnF90CmLieEDFFuXCkEPQC5w
  8. www.jungewelt.de/artikel/342093.italiens-faschisten-lega-mord.html
  9. Der Trienter Lega-Gemeinderat Fabio Tuiach: www.repubblica.it/politica/2017/10/20/news/femminicidio_invenzione_sinistra_tuiach_lega_trieste-178845587/
  10. Fontana: twitter.com/fontana3lorenzo/status/1056799806117552129 Bessone: www.facebook.com/massimo.bessone/posts/10217650956856188
  11. www.spiegel.de/politik/ausland/italien-haushalt-pierre-moscovici-nennt-lega-abgeordneten-einen-faschisten-a-1235309.html
  12. www.freitag.de/autoren/the-guardian/der-faschismus-ist-zurueck
  13. www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/32419
  14. Lega-Minister Roberto Calderoli Calderoli 2010

Vielen Dank für Ihre Unterstützung, Olivia Kieser aus BOZEN

Nachtrag (23.30 Uhr): Das Petitionsziel wurde nun offenbar auf 5.000 Unterschriften reduziert.

Siehe auch 1› 2›

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Nur die Verfassung verteidigen.
Quotation

Puigdemont weiß, wie man Aufmerksamkeit erzeugt, wie man mit Medien spielt, sich zum Opfer stilisiert: Die Separatisten gut, die spanische Zentralregierung und die Justiz böse, auch wenn sie nur die Verfassung verteidigen (und wollen wir nicht, dass Regierung und Polizei die Grundlage der Demokratie, die Verfassung, verteidigen?).

Georg Mair im dieswöchigen ff-Leitartikel

Neben Herbert Dorfmann (SVP) und Ulrich Ladurner ist Mair ein weiterer Südtiroler Obrigkeitsfan — der hier tatsächlich den Mumm aufbringt, das Eindreschen auf friedliche Demonstrantinnen und die Fabrikation eines mit langen Haftstrafen bewehrten Straftatbestands mit »nur die Verfassung verteidigen« zu umschreiben.

Übrigens: Dass die Verfassung die Grundlage der Demokratie sei ist eine beinahe ebenso gewagte Behauptung, wie jene implizite, dass man zu ihrer Verteidigung Grundrechte mit Füßen treten dürfe.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 | 1› 2› 3›

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Öffnungszeiten — im »hohlen« Haus.

In jüngerer Zeit durften wir uns wieder einmal anhören, wie großartig die Südtiroler Autonomie denn sei. Georg Mair hatte gar die Chuzpe, in einem ff-Leitartikel von politischem Asyl für den katalanischen Präsidenten in Südtirol zu phantasieren, damit dieser von uns lerne, dass man nicht unabhängig sein müsse, um selbstbestimmt zu sein.

Inzwischen hat der Südtiroler Landtag wieder einmal vorexzerziert, wie »hohl« (an Zuständigkeiten) das »hohe« Haus denn ist. Einstimmig hat man diese Woche einen Beschlussantrag genehmigt, in dem man sich für die Sonntagsruhe ausspricht. Doch ändern wird sich damit: gar nix. Denn wann Läden, Gasthäuser, Büros in Südtirol öffnen, entscheidet nicht das »selbstbestimmte« Land, sondern der Staat in Rom.

Zum Vergleich: Jedes »gewöhnliche« deutsche Land hat ein eigenes Ladenschlussgesetz.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 | 1›

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