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Autorinnen und Gastbeiträge

Ein Grundlagenwerk zur Südtiroler Gesellschaft.
Ethnische Differenzierung und soziale Schichtung in Südtirol

Südtirol unterscheidet sich in mancher Hinsicht von seinen Nachbarregionen. Eine unserer Eigenheiten ist die ethnische Differenzierung, doch die soziale und ökonomische Ungleichheit gibt es bei uns genauso. Wie hängt die Zugehörigkeit zu einer der autochthonen Sprachgruppen oder zur Gruppe der Zuwanderer mit Bildung, Einkommen, Vermögen, Berufstätigkeit und anderen zentralen Aspekten der Sozialstruktur zusammen? Klafft auch in Südtirol die Schere zwischen privilegierten und Benachteiligten in Bezug auf Lebensstandard, Bildungschancen, Berufs- und Karrieremöglichkeiten, Mitbestimmungsrechten usw. zunehmend auseinander? Wie wird die soziale Schichtung in der Südtiroler Gesellschaft durch die Verteilung auf drei Sprachgruppen beeinflusst?

Solchen grundlegenden Fragen geht ein Sammelband nach, der zu den wichtigsten Publikationen gehört, die 2016 zu Südtirol erschienen sind. Es geht um die umfassende sozialwissenschaftliche Analyse und Darstellung der Südtiroler Gesellschaft mit ihren strukturellen Besonderheiten, unter spezieller Berücksichtigung ihrer ethnischen Zusammensetzung. Themen sind nicht nur objektive Sachverhalte wie die Ungleichheit bei Bildung, Einkommen, Vermögensverhältnisse, Reproduktionsarbeit, Familienformen. Thema ist auch die subjektive Einschätzung der eigenen Lebenslage und Schichtzugehörigkeit.

Die zentrale empirische Grundlage der Studie war eine repräsentative Bevölkerungsumfrage zu einem breiten Spektrum an Fragestellungen. 1.200 Haushalte mit 3.500 Mitgliedern haben sich daran beteiligt. Das Forschungsprojekt ist von der Michael-Gaismair-Gesellschaft und dem Institut Apollis unter der Federführung der Professoren Günther Pallaver, Max Haller, Max Preglau, Antonio Scaglia sowie Apollis-Leiter Hermann Atz betreut worden. Ein zehnköpfiges Wissenschaftlerteam aus Soziologie, Wirtschafts- und Politikwissenschaft hat drei Jahre daran gearbeitet. Das Ergebnis ist eine fundierte Reflexion über die besondere soziale Struktur und die Chancen und Risiken der künftigen Entwicklung: »In erster Linie geht’s darum,« schreibt Herausgeber Hermann Atz, »das Potenzial und die Gefahren für eine ethnisch stark diversifizierte Gesellschaft aufzuzeigen.« Für die Südtiroler Sozialforschung ist damit ein Grundlagenwerk entstanden. Keine leichte Kost, doch für das Verständnis der Südtiroler Gesellschaft heute ein Muss.

Hermann Atz, Max Haller, Günther Pallaver (Hrsg.)

Ethnische Differenzierung und soziale Schichtung in der Südtiroler Gesellschaft

Ergebnisse eines empirischen Forschungsprojekts

2016, 407 S., brosch., 79 Euro

ISBN 978-3-8487-3329-3

Mit Beiträgen von: Hermann Atz, Max Haller, Günther Pallaver, Thomas Benedikter, Saskia Buiting, Romana Lindemann, Erika Pircher, Eike Pokriefke, Max Preglau, Antonio Scaglia.

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Autorinnen und Gastbeiträge

Das SVP-Vademecum zur Verfassungsreform.
Verfassungsreferendum 8/10

Gegendarstellung zum Vademecum der SVP zum Verfassungsreferendum vom 4. Dezember (Abschnitt “Abschließende Bewertung”.

von Thomas Benedikter, Oskar Peterlini, Thomas Vaglietti

Im Zuge der Debatte um die Verfassungsreform hat die SVP ein Dokument herausgegeben, das auf zwölf Seiten die Reform erläutert und dazu abschließend Stellung bezieht. Das Dokument bestreitet nicht, dass diese Reform eine Reihe von Schwachpunkten und Ungereimtheiten enthält und insbesondere Titel V der Verfassung stark zentralistisch ausgerichtet ist. Wenn sich Wahlberechtigte der Normalregionen dagegen wehren, sei dies “nachvollziehbar”. Bei den Wahlberechtigten der Regionen mit Sonderstatut sei dies anders. Die Begründung dafür lässt allerdings schwerwiegende Zweifel offen. Unser “Bürgerkomitee fürs NEIN” betrachtet die Schlussfolgerungen dieses Vademecums als nicht haltbar, weshalb wir hier auf diese zehn Punkte kurz eingehen.

  1. “Neuer Titel V bezieht sich nicht auf Sonderautonomien.”

Die Sonderautonomien müssen sich aber an diese Verfassungsbestimmungen in nächster Zeit im Zuge einer Revision ihrer Statuten anpassen. Im Verfassungstext heißt es zwar “revidieren”, aber der Verfassungsgeber geht damit klar davon aus, dass eine Anpassung zu erfolgen hat. Sie werden nicht auf Dauer von der Wirkung und Geltung des Titel V der Verfassung ausgeklammert. Es gibt nicht auf Dauer zwei Verfassungen, eine für die Normalregionen und eine für die Sonderregionen. Dafür wird auf jeden Fall der Verfassungsgerichtshof (VfGH) sorgen.

  1. “Mit der vorliegenden Reform werden die Sonderautonomien sogar gestärkt.

Wo bitte genau? Es gibt bloß eine temporäre Übergangsklausel, optimistisch “Schutzklausel” genannt, die diese Regionen zur Revision der Statuten treibt. Sonst wendet der VfGH die aus der Reform abzuleitenden Prinzipien an und Regionalautonomie wird allgemein eingeschränkt. Nach 2001 erfolgte es so, obwohl es eine eher föderale Reform war. Die neuen Prinzipien hingegen geben dem VfGH alle Instrumente zur Einschränkung in die Hand. Auch verschwinden alle Zuständigkeiten, die Südtirol dank der Besserstellungsklausel von 2001 erhalten hat (ca. zwanzig wichtige Bereiche von der Energie, den strategischen Infrastrukturen, dem Außenhandel, der Universität, bis zu den Zusatzrenten). Die Möglichkeit, neue Zuständigkeiten über das enge Korsett des Art. 116, Abs. 3, zu erhalten, hängt von einem erschwerten Staatsgesetz mit hohen Mehrheiten ab, das beim derzeitigen Neid in weiter Ferne liegt. Außerdem wurde dieser Absatz durch das Wegfallen der konkurrierenden Zuständigkeiten so eingegrenzt, dass für Südtirol kaum wesentliche Zusatzbefugnisse herausschauen. Die Sonderregionen werden auch explizit dem Art. 120 Verfassung (Ersatzvornahme des Staates) unterworfen, was bisher zwar so ausgelegt wurde, aber mit der Reform 2016 erstmals in Verfassungsrang gehoben wird. Die alte Verfassung gilt insofern nicht mehr, als neue Zuständigkeiten schon wieder zurückgenommen oder vom VfGH relativiert worden sind.

  1. “Erstmals seit 1948 ist das Einvernehmen, also ein Vetorecht der Autonomen Regionen, bei dieser Revision verankert.”

Eine glatte Falschbehauptung, denn genau dies ist in der vorliegenden Reform nicht vorgesehen. Es gibt kein Vetorecht wie etwa im Verfassungsreformentwurf der Regierung Berlusconi 2005. Wenn kein Einvernehmen erzielt werden kann, entscheidet das Parlament über unser Autonomiestatut. Das gibt sogar Unterstaatssekretär Bressa zu, der sich darum bemühen will, dass am Ende das Parlament nur mit qualifizierter Mehrheit entscheiden kann. Dafür bräuchte es ein neues Verfassungsgesetz, sonst erfolgt die Parlamentsentscheidung mit absoluter Mehrheit.

  1. “Aufgrund des Einvernehmens wird es möglich sein, das Ergebnis des Autonomiekonvents im Parlament einzubringen und zu diskutieren, ohne Risiko, dass das Parlament einseitige Abänderung vornimmt.

Bisher wurden seitens der Parlamentarier zwar Änderungen vorgelegt, aber auf deren Behandlung wurde nicht gedrängt, weil die Gefahr einer einseitigen Abänderung durch das Parlament bestand. Die derzeitige so genannte “Schutzklausel” bietet aber genau diesbezüglich keinen Schutz. Bei der Behandlung des Verfassungsgesetzes zur Änderung des Autonomiestatutes können Änderungen im Parlament nicht verhindert werden, solange man nicht ein Vetorecht (wie 2005 mit Berlusconi und 2006 mit Prodi) vorsieht. Die Möglichkeit, Entwürfe vorzuschlagen, war auch bisher gegeben (Vorschläge des Landtags, Initiative des Regionalrats), insofern diese überhaupt vom Regionalrat übernommen und im Parlament eingebracht werden. Diese Möglichkeit wird auch von Südtiroler und Trentiner Parlamentariern mit Verfassungsgesetzentwürfen (Nr. 32/2013 Zeller/Berger, Nr. 56/2013 Alfreider et. al., Nr. 2220/2016 Palermo/Zeller et al.) in Anspruch genommen, aber eine Behandlung erfolgte bisher noch nicht.

  1. “Die völkerrechtlichen Garantien bleiben aufrecht, zusätzlich wird eine innerstaatliche Sicherung eingebaut.”

Durch die Verfassungsreform ändert sich nichts am Völkerrecht, aber auch nicht durch die Ablehnung dieser misslungenen Reform. Eine innerstaatliche Sicherung besteht nur temporär, dann müssen sich die autonomen Regionen auch an die neue Verfassung anpassen. Das permanente Vetorecht (Pflicht zum Einvernehmen, Recht auf Ablehnung durch den Landtag) ist eben nicht verankert worden. Das Völkerrecht ist der letzte Anker. Denken wir daran, dass es von 1946 bis zur Streitbeilegung vor der UNO 1992 fast ein halbes Jahrhundert gedauert hat, bis der Pariser Vertrag einigermaßen zufriedenstellend erfüllt wurde. Eine starke innerstaatliche Schutzklausel würde sofort wirken, aber genau das fehlt in der derzeitigen schwammigen Formulierung.

  1. “Mit der Anwendung des Art. 116, Abs. 3, wird ein erleichtertes Verfahren für die Übertragung von wichtigen Kompetenzen wie jene für den Umweltschutz geschaffen.”

Falsch. Es werden nur sehr wenige übertragbare Kompetenzen aufgelistet, die Südtirol zum Großteil schon hat. Diese Kompetenzen können nur vom Staat mit erschwerter Mehrheit im Parlament übertragen werden, bei der politischen Großwetterlage gegenüber den Sonderstatutsregionen fast unmöglich. Dabei werden sie damit aber nicht im Autonomiestatut permanent verankert. Es gibt keine Bestimmung, die explizit den Regionen mit Sonderstatut das Recht auf freie Weiterentwicklung ihrer Autonomie einräumt.

  1. “Die beiden autonomen Provinzen sind mit jeweils zwei Senatoren proportional stärker als bisher vertreten.”

Dies ist ein Privileg, das wegen des Prinzips der Gleichheit der Stimmen und damit der proportionalen Vertretung der Regionen im Senat vor dem VfGH angefochten werden kann. Die Polemik ist schon entbrannt und hat den Neid gegenüber den autonomen Regionen noch mehr geschürt. Dabei hat man den Eindruck, dass es mehr um die Posten als um den Schutz Südtirols ging. Gleich ob ein oder zwei Senatoren: Ihre bloße Zahl kann die zahlreichen Nachteile in der Konstruktion des neuen Senats nicht wettmachen. Aufgrund seiner Zusammensetzung wird der Senat den Autonomen Regionen eher feindlich gegenüberstehen und als Vertretung geschwächter Regionen keinen wesentlichen Erweiterungen der Sonderautonomien zustimmen. Doch gerade dafür braucht es die Mehrheit des Senats, weil er auch für Verfassungsgesetze (einschl. Autonomiestatuten) zuständig ist. Der Gesamtkontext wird zentralistischer, damit auch der Senat. Die voraussichtlich acht Senatoren der Sonderstatutsregionen können nicht dagegen halten.

  1. “Es ist angesichts der negativen Grundstimmung im Parlament gegen die Sonderregionen bei einer Ablehnung der Reform absehbar, dass bei der nächsten Verfassungsreform die Abschaffung der Sonderregionen thematisiert wird.”

Dies kann für Südtirol ohnehin nicht greifen, denn wozu haben wir dann die völkerrechtliche Absicherung? Für Südtirol (und das Trentino) wäre dies Anlass für die Anrufung des IGH und neuen internationalen Streit zwischen Österreich und Italien. Die reale Gefahr ergibt sich aus der schleichenden Aushöhlung der Autonomie durch einen zentralistischen Staat, dessen Instrumente mit der Suprematieklausel geschärft werden. Bei einer scheibchenweisen Aushöhlung hingegen kräht kein Hahn auf internationaler Ebene. Im Übrigen ist es eine Aufgabe der Südtiroler Politik, sich gegenüber Rom mit dem demokratischen Rückhalt der Südtiroler Bevölkerung nach Kräften für die optimale Lösung bei der Autonomie und für einen weiteren Ausbau einzusetzen, anstatt Schreckgespenster an die Wand zu malen.

  1. “Die parlamentarische Vertretung der Sonderautonomien ist bei der nächsten Reform fraglich”.

Woher wollen die Verfasser des Vademecums das wissen? Das Klima ist auch deshalb vergiftet, weil die Kluft zwischen Sonderregionen und Normalregionen immer größer wird und wir als Privilegierte dastehen, auch wenn es nicht der Fall ist. Wenn die Reform fällt, dann gerade aus berechtigten Gründen: Ablehnung des Zentralismus, Ablehnung der Suprematie des Staates, Ablehnung des damit indirekt verquickten Wahlgesetzes Italicum, das kombiniert mit der Verfassungsreform die Macht in Rom in wenigen Händen konzentriert, Widerstand gegen diesen neuen Senat mit unzureichender Senkung der Politikkosten und Rückbau demokratischer Kontrollrechte. Genau die Ablehnung der Reform schafft Freiraum und Verhandlungsspielraum für mehr Regionenrechte und Autonomie.

  1. “Wer mit NEIN stimmt, spricht sich nicht nur für die Beibehaltung der derzeitigen Verfassung aus, sondern auch gegen die Schutzklausel.”

Eine völlig aus der Luft gegriffene Behauptung und eine glatte Unterstellung. Wer mit NEIN stimmt, spricht sich für eine andere und bessere Verfassungsreform aus und überträgt diese Aufgabe dem Parlament, vor allem einem dazu vom Wähler legitimierten Parlament. Das NEIN richtet sich nicht gegen die Schutzklausel, die das Mindestmaß an Absicherung darstellt, sondern bringt zum Ausdruck: Das ist zu schwach und viel zu wenig. Es hängt ganz von der demokratischen Mobilisierung der Bevölkerung in den Regionen ab, wieviel an Regionalismus erhalten oder dazugewonnen werden kann.

Wer mit NEIN stimmt, stimmt gegen eine Übergangsklausel, die schlechter ist als jene Schutzklausel, die sogar mit der Berlusconi-Regierung ausgehandelt wurde, gegen eine Übergangsbestimmung, die keine Sicherheit bietet, dem Landtag kein Vetorecht gegen einseitige Änderungen des Autonomiestatutes einräumt, unsere Autonomie der Willkür des Parlamentes aussetzt. Derentwegen kann man unmöglich in Kauf nehmen, für die Zentralisierung des Staates zu stimmen. Mit dieser Haltung begeht die SVP einen sehr schwerwiegenden Fehler. Man stelle sich vor, Italien stimmt gegen die Reform, so wie es derzeit laut Umfragen aussieht, und Südtirol stimmt für die Zentralisierung des Staates. Ein historischer Fehler für ein autonomes Land und seine ethnischen Minderheiten.

Serie I II III IV V VI VII VIII IX X

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Autonomievergleich (II).

In Thomas Benedikters neu erschienener Publikation »Mehr Eigenständigkeit wagen – Südtirols Autonomie heute und morgen« (Arca Edizioni, im Buchhandel erhältlich) ist auf Seite 24 ein Vergleich verschiedener autonomer Zuständigkeiten Südtirols, Kataloniens und der Åland-Inseln zu finden. Mit Zustimmung des Autors darf ich die Tabelle hier wiedergeben.

Obschon sich ein »Quellen-Kurzschluss« ergibt (die Aufstellung bezieht sich teilweise auf -Informationen) scheint mir die Wiedergabe aufgrund des größeren Umfangs und der Übersichtlichkeit gerechtfertigt.

Thomas Benedikter schreibt im genannten Buch:

Am 5. November 2014 stellte LH Arno Kompatscher im Landtag fest, dass Südtirol über die am weitesten reichende Territorialautonomie Europas verfüge. Hier ein nicht erschöpfender Überblick zur Begründung, warum diese These nicht haltbar ist.

Autonomievergleich.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5 ‹6 ‹7 ‹8 | 1› 2›

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Buchvorstellung: »Mehr Eigenständigkeit wagen.«

Am Freitag, den 17. Juni 2016 stellt Thomas Benedikter, Gründer von POLITiS – Politische Bildung und Studien in Südtirol, seine jüngste Publikation vor:

»Mehr Eigenständigkeit wagen –
Südtirols Autonomie heute und morgen«

Die Buchvorstellung findet ab 10.00 Uhr im Kolpinghaus Bozen statt.

Seit Anfang 2016 wird in Südtirol die Reform des Autonomiestatuts diskutiert, im Rahmen eines breit angelegten partizipativen Prozesses, genannt ”Autonomiekonvent”. Hunderte Bürger und Bürgerinnen haben Vorschläge eingebracht, eine regionale Expertenkommission hat die Frage der Zuständigkeiten analysiert, der Konvent der 33 wird noch bis Mitte 2017 daran arbeiten.

POLITiS, unabhängiger Verein für politische Bildung und Studien, möchte dazu einen fundierten Beitrag leisten, der schon 2013 mit der Seminarreihe “Mit mehr Demokratie zu mehr Autonomie” begonnen hat. Die neue Publikation erkundet den Reformbedarf am Regelwerk Autonomie und Wege zur Weiterentwicklung der Südtirol-Autonomie im Hinblick auf die bevorstehende “Generalüberholung” des Statuts. Ergänzt wird das Werk durch Gespräche mit zehn Expertinnen und Politikern.

Leitmotiv für diese Erkundung ist die politische Eigenständigkeit, die noch stark zu wünschen übrig lässt. Die Autonomie von 1972, eine Teilautonomie, ist zwar weiterentwickelt worden, stößt aber noch immer auf zu viele Schranken: dies reicht von fehlenden Zuständigkeiten, über rechtliche Schranken, überholte Institutionen bis zu neuen Bedrohungen, wie z.B. die Suprematieklausel der Verfassungsreform Renzi-Boschi. Die Bürgerbeteiligung ist unterentwickelt, denn der eigentliche Souverän in der Demokratie – die Bürger – kann beim Autonomiestatut nicht wirklich mitbestimmen. Auch der Landtag hat eine zu schwache Position im politischen System der heutigen Autonomie.

Die Publikation versteht sich als Impuls an die Konventsteilnehmer und alle Interessierten, das Reformpotenzial mutig und offen auszuloten, ohne sich von der “Realpolitik” zu enge Grenzen vorgeben zu lassen.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5

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Q&A mit Thomas Benedikter.
POLITiS-Interview

Thomas Benedikter hat mich anlässlich des Südtirolkonvents im Rahmen eines Projekts über die Themen »Autonomieausbau« und »Selbstbestimmung« interviewt. Da ich den Fragenkatalog sehr interessant finde und er die Gelegenheit bietet, wichtige Teile der -Position auf eine grundsätzliche Weise auszuformulieren, möchte ich hier einiges davon wiedergeben.

  1. [Thomas Benedikter:] Du hast 2008 auf geschrieben: »Nicht nur sehe ich im Ausbau der Autonomie eine Wegbereitung für die Loslösung von Italien, sondern auch im anzubahnenden sprachgruppenübergreifenden Prozess, der zum ‘vorläufgen’ Ziel führen soll, ein enormes einendes Potenzial.« Ist somit der Ausbau der Autonomie ein ganz unvermeidlicher Zwischenschritt, bevor über weitergehende Schritte überhaupt real politisch diskutiert wird? Siehe Beispiel Katalonien.

    Der Autonomieausbau ist ein wichtiger, aber trotzdem kein zwingender Zwischenschritt. Auch das zeigt Katalonien: Dort hatte das Landesparlament 2006 einen wesentlichen Ausbau der Befugnisse gefordert, doch der Zentralstaat hat diesen legitimen Wunsch in zentralen Punkten abgelehnt. Der jetzige Unabhängigkeitsprozess — oder zumindest seine Beschleunigung — lässt sich großteils mit einem nicht erfolgten Autonomieausbau erklären.

  2. Wie beurteilst du den Boykott des Südtirolkonvents durch die »deutsche Opposition«? Das Thema Selbstbestimmung steht im Konvent nicht zur Debatte, doch Grundrechte der Minderheiten und viele andere Politikfelder müssen ja möglichst gerecht geregelt werden. Riskiert der Konvent von vornherein von diesem Teil der Südtiroler Wählerschaft abgelehnt zu werden?

    Jene Parteien, die den Konvent boykottieren, tragen eine große Verantwortung, denn der Konvent wird eine wichtige Möglichkeit der Mitsprache und somit der Willensbekundung sein. Es ist meines Erachtens ein Missverständnis, dass die regierenden Parteien wesentliche Forderungen einfach vom Tisch wischen können. Sie können zwar möglicherweise verhindern, dass sie Eingang in den Entwurf für ein neues Autonomiestatut finden, aber nicht, dass sie eine politische Wirkung entfachen. Die Oppositionsparteien sollten sich einbringen und ihren Widerstand sinnvollerweise auf einen möglichen Autonomieentwurf konzentrieren, der dem Konvent nicht angemessen Rechnung trägt. Andernfalls werden ihre Forderungen unter den Tisch fallen.

  3. Wesentlich für Fortschritte im Ausbau der Autonomie ist die Zustimmung der Mehrheit der italienischen Sprachgruppe und ihrer politischen Vertreter: Wie kann es gelingen einen wesentlichen Anteil der italienischen Sprachgruppe heute für einen Autonomieausbau zu gewinnen?

    Ich weiß nicht, ob die Zustimmung der Mehrheit einer jeden Sprachgruppe tatsächlich erforderlich ist — aus rechtlicher Sicht ja nicht. Wichtig wird aber sein, den Konsens zu suchen und dass ein etwaiger Autonomieausbau deutlich macht, dass er zum Wohle aller hier lebenden Menschen angestrebt und umgesetzt wird. Zumindest in der POLITiS-Umfrage haben sich auch die Teilnehmer italienischer Muttersprache für einen dezidierten Ausbau der Zuständigkeiten ausgesprochen — und repräsentative Astat-Umfragen zeigen immerhin eine hohe Zufriedenheit mit der Landesverwaltung.

  4. Soll in einem zukünftigen Statut die Möglichkeit einer Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit Südtirol verankert werden? Beim Stand der Dinge wäre sie verfassungswidrig. Wie ist das lösbar?

    Änderungen der Rechtslage gehen stets politische Forderungen voran. Meiner Meinung nach gehört die demokratische Selbstbestimmung unbedingt in ein modernes Autonomiestatut, es wird also drauf ankommen, dass Südtirol (BürgerInnen, Konvent, politische Vertreter…) diese Forderung artikuliert und mit Rom in politische Verhandlungen darüber eintritt.

  5. Zweisprachige Schule und Immersionsunterricht (CLIL): In einer differenzierten Auseinandersetzung 2008 plädierst du für eine »asymmetrische Gesamtlösung nach katalanischem Vorbild«. Was bedeutet dies konkret? Soll der Artikel 19 so abgeändert werden, dass mehrsprachige Schulen ermöglicht werden? Wenn nicht, warum nicht?

    Für eine solche Lösung wäre die Abänderung von Artikel 19 erforderlich, jedoch nicht hinreichend, denn die asymmetrische Gesamtlösung bedarf, wie die Bezeichnung schon sagt, einer ganzen Reihe gesellschaftspolitischer Rahmenbedingungen. Aufgrund der nicht gerade positiven Erfahrungen mit dem Zentralstaat bei der Umsetzung des Autonomiestatuts, etwa in Hinblick auf die Zweisprachigkeit, bin ich jedoch zunehmend skeptisch, ob ein derart umfassendes Projekt in Italien umsetzbar wäre.

  6. Wo gibt es die größten Mängel in der Umsetzung der Pflicht zur Zweisprachigkeit im öffentlichen Dienst? In der POLITiS-Umfrage von 2014 werden vor allem Gericht, Krankenhaus Bozen, Gemeinde Bozen, öffentlicher Nahverkehr und alle Telefonanbieter genannt. Wo kann hier im Autonomiestatut oder bei den Durchführungsbestimmungen angesetzt werden? Wie steht es mit der Erfüllung der im Statut festgehaltenen Pflicht zur Zweisprachigkeit?

    Die Zweisprachigkeitspflicht wurde bis heute, über 40 Jahre nach Verabschiedung des zweiten Autonomiestatuts, nicht zufriedenstellend umgesetzt und erfüllt. Das Astat-Sprachbarometer von 2014 zeigt sogar eine besorgniserregende Verschlechterung im Vergleich zu 2004, ohne dass die Landesregierung bislang einen Handlungsbedarf angemeldet hätte. Zusätzlich zu den bereits von POLITIS ermittelten Bereichen hakt es meines Wissens vor allem bei Post und Polizei.

  7. Beipackzettel für Pharmaka: In der Schweiz sind sie dreisprachig. In Südtirol nach wie vor meist einsprachig, doch auf Verlangen wird ein Infoblatt vom Apotheker ausgedruckt. Haben hier Politik und Justiz in ihren Aufsichtsfunktionen versagt?

    Hier hat die Politik vor den Pharmakonzernen kapituliert und einen Teil unserer Autonomie »verkauft«. Dass die Schweiz für die 350.000 Einwohner zählende italienische Schweiz und Finnland für die 250.000 zählende schwedische Minderheit imstande sind, dieses Recht zu garantieren, macht das Versagen unserer Autonomie offensichtlich. Sogar in der Ukraine sind Packungsbeilagen in der Regel zweisprachig.

  8. Toponomastik: Welche kulturpolitisch überzeugende, bessere Lösung als die heutige Regelung der Pflicht zur Zweisprachigkeit der Ortsnamen?

    Es gibt viele Lösungsmöglichkeiten: die historisch-wissenschaftliche, die Prozentlösung, die basisdemokratische. Ich persönlich würde es befürworten, die Zuständigkeit wie in Graubünden an die Gemeinden zu übertragen, gerne auch mit Schutzklauseln zugunsten der jeweils kleineren Sprachgemeinschaften auf kommunaler Ebene.
    Entscheidend ist für mich aber, dass der Südtiroler Landtag bereits eine Lösung gefunden hat. Sie ist für mich zwar nicht ganz befriedigend, doch es ist bislang die einzige demokratisch legitimierte. Dass der Zentralstaat dieses Gesetz angefochten hat, obschon die primäre Gesetzgebungsbefugnis beim Land liegt und das Thema unzweifelhaft nur Südtirol betrifft, ist ein Affront und spricht m.E. Bände über das restriktive Autonomieverständnis des Staates. Vergessen wir nicht, dass nach heutiger Rechtslage nur die Namensliste von Ettore Tolomei offiziell ist.

  9. Produktetiketten: Wie könnte die Pflicht für Privatunternehmen eingeführt werden, dreisprachige Etiketten auf den Produkten zu platzieren? Zweisprachigkeit ist in der privaten Wirtschaft in Südtirol bislang keine Pflicht.

    Das ist ein massives Versäumnis unserer Autonomie bzw. des Landtags; die Handelskammer ist der Meinung, dass in Anbetracht von Artikel 99 Autonomiestatut nur ein Landesgesetz nötig wäre, das die Gleichberechtigung von Deutsch und Italienisch im Konsumentenschutz ausdrücklich festhält. Obwohl der HK-Präsident dies in einem Brief an alle Landtagsabgeordneten deutlich gemacht hat, wurde dies bis heute nicht umgesetzt. In einem überarbeiteten Autonomiestatut müsste das unbedingt Platz finden; für die Etikettierung auf Ladinisch könnte ich mir zudem die Gewährung von Förderungen vorstellen.

  10. In welchen Bereichen könnten deiner Meinung nach die autonomen Zuständigkeiten des Landes erweitert werden? Gerichtsbarkeit, öffentlicher Rundfunk/TV und Transportwesen sowie Post… auch Polizei?

    Nachdem ich die Schaffung eines unabhängigen Staates befürworte, glaube ich auch, dass Südtirol bereit wäre für die Übernahme möglichst vieler Zuständigkeiten im Rahmen der Autonomie.

  11. hat 2006 eine Kampagne für eine selbstständige und funktionierende Landespost lanciert. Was ist daraus geworden? Hat die Landesregierung formell Anspruch auf eine autonome Südtiroler Post erhoben?

    Ob dies mit etwas zu tun hat, weiß ich nicht — aber schon Alt-Landeshauptmann Durnwalder hatte während seiner Amtszeit diese Forderung erhoben. Geworden ist daraus nichts, nicht einmal unbefriedigende Kompromisse wie die Übernahme des Personals oder die Finanzierung des Postdienstes in Südtirol konnten bislang umgesetzt werden.

  12. Privatrecht und Zivilrecht ist in Italien Staatssache. Katalonien hat allerdings auch in diesem Bereich Zuständigkeiten. Könntest du dir eine solche Aufteilung der Zuständigkeiten auch für Italien und Südtirol vorstellen?

    Alles, was die Gesetzgebung und die Verwaltung näher an die Menschen in Südtirol bringt, ist meiner Meinung nach vorstellbar und wünschenswert. Ich denke, dass wir in vielen Bereichen, zum Beispiel auch bei der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen, eigene Akzente setzen könnten. In Südtirol ist die Debatte zu solchen Themen derzeit großteils »ausgeschaltet«, weil wir wissen, dass wir kaum mitreden können, wenn das auf staatlicher Ebene geregelt wird. So gesehen ist mehr Autonomie auch für die gesellschaftliche Diskussion und somit für deren Fortentwicklung förderlich.

  13. Soll eine Autonome Region Südtirol oder das Land mit verstärkter Autonomie auch zuständig für die Kontrolle der Migration werden, wie es die deutsche Opposition fordert? Wie kann eine derartige Kontrolle mit dem EU-Recht auf Freizügigkeit vereinbar sein?

    Ich glaube, dass bei derart wichtigen Themen von globaler Bedeutung eine europäische Lösung gefunden werden muss, die dann auf lokaler Ebene einer praktikablen Umsetzung bedarf. Somit plädiere ich in solchen und ähnlichen Bereichen für einen »euroregionalen« Ansatz: Die Grundregeln werden auf EU-Ebene definiert, die Details der Umsetzung in den Regionen geregelt.

  14. Macht eine autonome Landespolizei nach dem Muster der »Mossos d’Esquadra« (Katalonien) oder der »Ertzaintza« (Baskenland) in Spanien Sinn?

    Eine Autonomie ohne Polizei hat meiner Meinung nach diesen Namen gar nicht verdient. Weltweit gehören Polizeiaufgaben, selbst in vielen nicht autonomen Gebieten, in die regionale Befugnis. Hierzulande kommt dazu, dass Südtirol im Vergleich zum restlichen Staatsgebiet Besonderheiten aufweist, die einer Berücksichtigung bedürfen — vor allem, aber nicht nur die Mehrsprachigkeit.

  15. Im Sport ist Südtirol in die nationalen Sportverbände, meist bei Carabinieri oder sonstige Heereseinheiten, eingeordnet. Kann Südtirol nach dem Muster von Katalonien, Baskenland und Galizien, Wales, Schottland usw. auch hier eine eigenständige Vertretung erhalten? Das heißt: Soll das gefordert werden?

    Südtirol hat in Vergangenheit viel zu wenig getan, um in diesem Bereich mehr Autonomie zu erhalten. Die erwähnten Beispiele, aber auch die Färöer-Inseln oder Gibraltar zeigen, dass man nicht notwendigerweise ein unabhängiger Staat sein muss, um eigene Sportverbände und -mannschaften zu gründen. Das wäre nicht nur eine Möglichkeit, um Staatlichkeit weniger attraktiv zu machen, als sie noch heute ist, sondern für Südtirol eine Chance, im Sport mehr Unabhängigkeit von nationalstaatlichen Loyalitäten und somit die Förderung von gesellschaftlicher Kohäsion zu erreichen.

  16. In welchen weiteren Bereichen könnten die autonomen Zuständigkeiten des Landes sofort erweitert werden?

    Ich bin der Meinung, dass eine zeitgemäße Autonomie auf eine Definition weniger Kernkompetenzen hinauslaufen sollte, die dem Staat zu überlassen sind. Die Außenpolitik sollte dabei wenigstens zu einer konkurrierenden Zuständigkeit werden. Zudem ist an eine Demilitarisierung Südtirols zu denken.

  17. Vermutlich will eine Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung den Proporz beibehalten. Wenn man als Hauptkriterium Sprachkenntnis und Fachqualifikation betrachtet, könnte man ein anderes System zum Zugang zum öffentlichen Dienst einführen?

    Eine strenge Verpflichtung zur Mehrsprachigkeit sowie eine periodische Überprüfung der Sprachkenntnisse könnten den Proporz überflüssig machen.

  18. Wenn der Proporz entfällt, würde auch die Sprachgruppenerklärung definitiv entfallen? Südtirol würde demnach wie Katalonien auf eine persönliche Erfassung zu einer Sprachgruppe verzichten: Wozu führt dies im Gesamtkonzept zum Schutz der Minderheiten?

    Auch in Katalonien werden Muttersprache und Sprachkenntnisse statistisch erhoben, dann allerdings anonym, so wie hierzulande im Rahmen des »Sprachbarometers«. Eine effiziente Sprachpolitik in einem mehrsprachigen Land kann darauf nicht verzichten. Die heutige Sprachgruppenerklärung wirkt hingegen eher verzerrend, da die Zuordnung zu einer Gruppe noch nicht viel über die tatsächlichen Sprachkenntnisse aussagt.

  19. Welchen Sinn macht die doppelte Staatsbürgerschaft?

    Die doppelte Staatsbürgerschaft ist eine Lösung, die sich noch innerhalb der nationalstaatlichen Logik bewegt. Natürlich wäre eher eine europäische Staatsbürgerschaft erstrebenswert, doch darauf haben wir zu wenig Einfluss. Ich glaube, dass die österreichische Staatsbürgerschaft weder eine endgültige Lösung, noch ein allzu großes Problem darstellen würde. Wer sie mit der Befürchtung einer zweiten Option verknüpft, hat wohl die Tragweite der Option nicht verstanden.

  20. Wie soll sich die Institution Region ändern? Abschaffen, weiter aushöhlen, aufwerten, so wie es die Trentiner gerne hätten?

    Die meisten SüdtirolerInnen können sich mit der Region wohl nicht identifizieren, und die TrentinerInnen sehen darin vielmehr den Rettungsanker ihrer Autonomie. Ich glaube, dass unsere südlichen Nachbarn für eine Abnabelung bereit wären und die Region durch die Europaregion ersetzt werden sollte.

  21. Eine Schaltstelle der Umsetzung jeder Autonomiereform sind die Paritätischen Kommissionen. Die 6er-Kommission wird immer von der Mehrheitspartei in Bozen und Rom nominiert, sie ist also demokratisch nicht repräsentativ.

    Diese Kommissionen sind völlig anachronistisch und sollten meiner Meinung nach abgeschafft bzw. durch demokratisch legitimierte Gremien ersetzt werden. Bezüglich Umsetzung ist zu sagen, dass nach einer etwaigen Autonomiereform so lange Umsetzungszeiten wie beim Statut von 1972 inakzeptabel wären.

  22. Demokratische Beteiligung: Wie kann der Landtag im Rahmen des Autonomiestatuts gestärkt werden? Wie die ethnische Konkordanzdemokratie, also die Vertretungsrechte der stärksten politischen Gruppen aller Sprachgruppen in der Landesregierung?

    Einem vielfältigen Land wie dem unseren steht ein starker Parlamentarismus gut. Dies kann, muss aber nicht notwendigerweise direkt in der Landesverfassung geregelt werden. Wichtiger wäre meines Erachtens ein neues Wahlgesetz, das die Identifikation der Wahlbevölkerung mit den Gewählten verbessert, etwa mit der Möglichkeit des Panaschierens und Kumulierens. Damit der Landtag wieder mehr eigene Gesetze verabschiedet und nicht nur die der Landesregierung abnickt, muss die Infrastruktur — einschließlich geeigneten Personals — vorhanden sein. Und nicht zuletzt muss die Verantwortung der Landesregierung gegenüber dem Parlament verstärkt werden.
    Die Konkordanzdemokratie ist ein gutes Modell, dem ich viel abgewinnen kann — doch letztendlich geht es dabei um eine Frage der politischen Kultur. In der Schweiz, der Heimat der Konkordanz, ist diese Regierungsform nicht gesetzlich geregelt. Vielleicht sollte man sich aber für die Einführung des Kollegialitätsprinzips starkmachen.

  23. Bei welchen Rechten siehst du heute die Ladiner im Rahmen des Autonomiestatuts diskriminiert? Siehst du Möglichkeiten, die Buchensteiner Gemeinden, die sich für eine Angliederung an Südtirol ausgesprochen haben, im Rahmen des Autonomiestatuts zu berücksichtigen?

    Die Ladiner werden im Autonomiestatut nur als Anhängsel der deutschen Minderheit behandelt, was auch damit zusammenhängt, dass sie im Pariser Vertrag gar nicht erwähnt wurden. Ein neues oder überarbeitetes Statut muss die Ladiner als die kleinste und schutzbedürftigste Sprachgemeinschaft anerkennen und jegliche Diskriminierung beseitigen. Dass ein Ladiner aufgrund seiner Sprachgruppenzugehörigkeit gewisse Ämter gar nicht bekleiden darf, ist inakzeptabel — Minderheitenschutz darf niemals zu einer Benachteiligung werden.
    Dem demokratischen Wunsch der LadinerInnen von Souramont sollte meiner Meinung nach im neuen Autonomiestatut schon Rechnung getragen werden.

  24. Finanzregelung und Sicherheitspakt von 2014: Südtirol muss auf Dauer zur Sanierung der Staatsfinanzen beitragen. Derzeit beträgt die Beteiligung des Landes am lokalen Steueraufkommen von rund 8/10. Ist das ausreichend?

    Über Zahlen möchte ich nicht sprechen. Für mich ist das Prinzip der Solidarität, aber auch der Steuerhoheit ausschlaggebend, wobei ein Finanzausgleich klaren Regeln zu unterliegen hat. Diese Voraussetzungen sind heute in Italien nicht gegeben: Der Zentralstaat mischt sich ein, wo und wie wir in Südtirol sparen müssen. Das muss uns aber selbst überlassen werden. Darüberhinaus macht Rom keine ernstzunehmenden Anstrengungen, um die Staatsfinanzen zu sanieren. Unser Beitrag ist also nicht zielführend. Deshalb plädiere ich für einen europaweiten regionalen Finanzausgleich mit klaren Zielen und Verantwortlichkeiten.

  25. Welche Form der Finanzhoheit schwebt dir vor? Auch autonome Regionen müssen zur Staatsfinanzierung beitragen, in Bundesländern genauso wie in Spanien. Ist Südtirol nicht als finanziell gleich verpflichteter Teil Italiens zu betrachten?

    Südtirol muss seine Einnahmen und Ausgaben völlig unabhängig vom restlichen Staat regeln können. Im Rahmen einer Autonomie wären ein angemessener Beitrag zu den Ausgaben des Staates sowie ein Beitrag zum Finanzausgleich akzeptabel. Letzteres aber nur mit klaren Regeln und einem periodischen Mitspracherecht auf Augenhöhe, um Verschwendungen zu vermeiden. Interregionale und internationale Solidarität sind unbedingt erforderlich, aber ohne Zielvorgaben kann sich ihre Wirkung ins Gegenteil verkehren.

  26. Die interregionale Zusammenarbeit im Rahmen der Euregio: Die Hälfte der Teilnehmer bei der Umfrage von POLITiS 2014 sprach sich für die Euregio als Ersatz für die Region aus. Doch wie wäre sowas verfassungsrechtlich zu bewerkstelligen?

    Dafür wären innovative Lösungen vonnöten, etwa eine teilweise Abtretung von Souveränität. Bei Italien, das derzeit wieder eine drastische Zentralisierungswelle erlebt, bin ich diesbezüglich ziemlich pessimistisch. Bislang konnte sich der Staat nicht einmal zur Ratifizierung der Zusatzprotokolle zum Madrider Abkommen durchringen, die wenigstens eine Vertiefung der Zusammenarbeit in der Euregio gestatten würden.

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Berufsnationalismus.

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Foto: LVH.

Staatlichkeit sei auch heute noch sehr attraktiv, gab Politis-Gründer Thomas Benedikter vor nicht allzu langer Zeit hier im Blog zu bedenken. Man brauche sich nicht über separatistische Tendenzen zu wundern, wenn viele Rechte auch weiterhin nur Staaten vorbehalten sind. Diese Aussage lässt sich herunterbrechen auf vergleichsweise unbedeutende Veranstaltungen wie die Berufsweltmeisterschaft (World Skills), deren aktuellste Ausgabe gerade im brasilianischen São Paulo zu Ende gegangen ist. Bislang hatten Südtirolerinnen und Südtiroler als »Team South Tyrol« an der Veranstaltung teilgenommen, diesmal jedoch war man gezwungen, als Team Italy an den Start zu gehen. Ob der italienische Staat dafür gesorgt hat oder der Veranstalter, kann ich nicht sagen und ist zum Zwecke dieses Beitrags ziemlich unerheblich. Was zählt, ist dass es als kleiner Mosaikstein zur Attraktivität von Eigenstaatlichkeit beiträgt, wenn die vorherrschende nationale (und nationalistische) Logik regelmäßig regionale Vielfalt und Sensibilitäten ver- und überdeckt, indem sie in ein gleichmacherisches »nationales« Korsett gezwängt werden.

An das offenbar sehr erfolgreiche Südtiroler Team geht meine Gratulation.

Siehe auch ‹1 ‹2 3›

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Kronbichlers Zumutung.

Im heutigen A. Adige ist ein Interview mit dem Alpinipreisträger und angeblichen Autonomiepatrioten Florian Kronbichler (Grüne/SEL) erschienen. Einige Aussagen verdienen eine klare Stellungnahme aus -Sicht:

  1. Die SVP, so der Abgeordnete, stelle in Rom zu hohe Ansprüche und setze somit unsere Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Doch um welche Glaubwürdigkeit geht es hier? Verwechselt Kronbichler Glaubwürdigkeit mit Unterwürfigkeit? Im Autonomievergleich haben wir erst kürzlich gezeigt, wie sehr unsere Selbstverwaltung eine Aufwertung vertragen könnte. Ähnliches sagt schon seit Jahren Sozialforscher und Autonomieexperte Thomas Benedikter, der mit Sicherheit kein Sezessionist ist.
  2. Als Beispiel für überzogene Forderungen nennt Kronbichler den Vorstoß der SVP, einen von fünf Verfassungsrichtern, die vom Parlament ernannt werden, den Sprachminderheiten vorzubehalten. Flor legt nahe, dass Karl Zeller damit einen Posten für sich selbst schaffen möchte. Doch man muss die beiden Ebenen trennen: Die Autonomie beschränkt sich bislang auf Exekutive und Legislative, während sie in der Judikative so gut wie inexistent ist. Natürlich muss die Judikative (genauso wie übrigens die beiden anderen Gewalten) unabhängig sein, doch im Falle des Verfassungsgerichts erfolgt die Bestellung der Richter ausschließlich auf zentralstaatlicher Ebene. Angesichts der interpretatorischen Freiheit und der (nicht nur) daraus erwachsenden fast uneingeschränkten Macht, die das Gericht auch zulasten der Autonomien ausübt, wäre ein kleines autonomistisch-föderalistisches Gegengewicht mehr als nötig. Die Unterstellung, Karl Zeller schaffe hiermit ein Amt für sich selbst, ist schwerwiegend und sicher nicht ganz von der Hand zu weisen, sollte aber das inhaltliche Urteil über die Forderung nicht beeinflussen.
  3. Flor kündigt an, dass er einen Abänderungsantrag von Michaela Biancofiore mittragen werde, mit dem die Ansässigkeitsklausel von vier Jahren abgeschafft werden soll. Dies hatten wir bereits kommentiert und kritisiert.
  4. Die SVP, so Kronbichler, schließe Parlament und Landtag zu oft von wichtigen Entscheidungen aus. Dieser Kritik können wir uns vollinhaltlich anschließen — letztes Beispiel: Das Finanzabkommen, das vor dem Parlament in Rom geheimgehalten werden soll und in dessen Verhandlung und Annahme der Landtag nur marginal eingebunden war.
  5. Der Parlamentarier beklagt, dass man stets als Faschist hingestellt werde, wenn man es wagt, die Italiener in Südtirol als [ethnische] Minderheit zu bezeichnen. Auch hier schließen wir uns an. Es ist ein Unding, jemanden als Faschisten zu verunglimpfen, der eigentlich nur ein Ignorant ist —denn die Italiener in Südtirol sind keiner anerkannten Definition zufolge eine ethnische Minderheit, wiewohl sie hierzulande in der zahlenmäßigen Unterzahl sind. Laut Europäischer Charta der Regional- oder Minderheitensprachen etwa sind

    “Regional- oder Minderheitensprachen” Sprachen,
    i. die herkömmlicherweise in einem bestimmten Gebiet eines Staates von Angehörigen dieses Staates gebraucht werden, die eine Gruppe bilden, deren Zahl kleiner ist als die der übrigen Bevölkerung des Staates, und
    ii. die sich von der (den) Amtssprache(n) dieses Staates unterscheiden;
    iii. [und] umfaßt weder Dialekte der Amtssprache(n) des Staates noch die Sprachen von Zuwanderern;

    (Hervorhebungen von mir.)
    Dass die Italienerinnen in Südtirol keine ethnische Minderheit sind, hat nichts mit Bosheit oder mit Benachteiligung zu tun, sondern mit dem nationalstaatlichen Prinzip (das sie zum Teil der nationalen Mehrheit macht) und mit international üblichen Definitionen.

  6. Kronbichler bedauert, dass es nach wie vor als Beschimpfung empfunden werde, wenn wir als privilegiert bezeichnet werden. Anstatt sich unkritisch dem zentralistischen Mainstream anzuschließen, sollte der Alpinipreisträger vielleicht die Rede von Union-Valdôtaine-Chef Ennio Pastoret lesen, der gute Gründe nennt, warum Autonomien nicht Privilegien sind.
  7. Wenn alle Regionen so behandelt würden, wie Südtirol, hätte der Staat keine Existenzberechtigung mehr, da der wichtigste Zweck eines Staates die Umverteilung sei. Mal davon abgesehen, dass Südtirol nicht die Aufgabe hat, dem italienischen Staat eine Existenzberechtigung zu liefern, ist gerade der finanzielle Beitrag, den wir während der letzten Jahre geleistet haben, jenseits von gut und böse. Soeben hat die SVP im Alleingang beschlossen, dem Staat weitere Milliarden (!) zu schenken. Hinzuzufügen wäre, dass der italienische Staat seit seiner Gründung und bis heute gerade in der territorialen Umverteilung völlig versagt und stattdessen eine Situation der Abhängigkeit und Ungleichheit (zwischen Nord und Süd) zementiert hat, die weltweit ihresgleichen sucht.
  8. Zuletzt noch die aus -Sicht empörendste Aussage, nämlich, dass die grundlegende Motivation der Selbstbestimmungsbewegungen immer »legistisch-egoistisch« sei. Ich möchte ihn hiermit dazu herausfordern, dies am Beispiel von zu belegen.
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Autorinnen und Gastbeiträge

»Gemeindepolitik mitgestalten.«

Ideen und Verfahren für die direkte Bürgerbeteiligung in der Gemeinde.
Neuerscheinung: POLITiS-Beiträge zur Demokratieentwicklung 3.2014

Die Gemeindeebene ist jenes Feld der Politik, auf der sich Bürgerbeteiligung in beratender (deliberativer) und beschließender (direkter) Form am einfachsten umsetzen lässt. Nicht umsonst bilden die Bürgerbeteiligung und sogar “innovative Formen der Bürgerbeteiligung” einen eigenen Abschnitt und einen Artikel in allen Gemeindesatzungen. Leider sind aber bisher kaum innovative Formen eingeführt worden und auch die Regelung der direkten Demokratie, sprich Volksabstimmungen, lassen stark zu wünschen übrig.

Wollen die Bürger und Bürgerinnen denn mitreden und mitentscheiden? Im Allgemeinen ja. So hat eine eben veröffentlichte, umfassenden Studie der Bertelsmann-Stiftung zu den Wirkungen von Partizipation auf die Demokratie ergeben, dass für die Bundesdeutschen in der Politik direkt mitzumachen gleich wichtig ist wie wählen. Zwei Drittel wünschen sich mehr Beteiligung, und wer sich an Volksentscheiden beteiligt, geht auch eher wählen. Die Studie weist auch eine Reihe von positiven Wirkungen für die Demokratie an sich nach:

  • Die Bürgerbeteiligung stärkt demokratische Kompetenzen; Bürger werden interessierter, kompetenter und aktiver in der Politik
  • Bürgerbeteiligung verhindert, dass Planungen, Investitionen und andere kommunale Maßnahmen an den Interessen der Mehrheit vorbeigehen.
  • Bürgerbeteiligung bringt neue Vorschläge und Idee ins Blickfeld.

Was die Bertelsmann-Studie noch ergab: auch 75% der befragten Politiker teilen die Einschätzung, dass die Demokratie insgesamt an Qualität gewinnt, wenn sich die BürgerInnen stärker beteiligen.

Trifft dieser Befund auch für Südtirol zu? Regelmäßige Bürgerversammlungen und die Leitbildentwicklung in 12 Gemeinden, einzelne Volksabstimmungen deuten darauf hin. Doch die Häufung von drei kommunalen Volksentscheiden im September 2014 ist eher Zufall. Noch immer kann man die jährlichen Volksentscheide in Südtirol an einer Hand abzählen, also kein Vergleich mit Bayern, wo seit 1995 über 1000 sog. Bürgerentscheide abgehalten worden sind, und ganz zu schweigen von der Schweiz. Dieser Rückstand liegt vor allem im Fehlen von gut anwendbaren, zweckgerechten Verfahren und bürgerfreundlichen Regeln. Zudem fehlt es an konkreten Erfahrungen, wie deliberative Verfahren der Beteiligung anzuwenden sind und ankommen.

Politis - Umschlag.

Genau darum geht es in der neuen Publikation der Genossenschaft POLITiS. Es werden verschiedene, in den Nachbarregionen und Nachbarländer schon bewährte Verfahren der Bürgerbeteiligung vorgestellt, die im Rahmen der italienischen Rechtsordnung und der Gemeindeautonomie auch in Südtirol eingeführt werden könnten. So z.B.

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