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Grenzänderung als Lösung.
Boxing Pandora

Das katalanische Nachrichtenportal Vilaweb hat kürzlich ein Interview dem Autor des Buches Boxing Pandora (Yale University Press), Timothy William Waters, geführt. Der frühere Mitarbeiter des Internationalen Gerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien ist heute Professor und Forscher an der Maurer School of Law und stellvertretender Direktor des Center for Constitutional Democracy. In seinem Buch plädiert er für die Änderung von Grenzen und die Gründung neuer Staaten.

Status Quo und Gewalt

Die Büchse der Pandora zu öffnen sei gefährlich. Viele brächten Unabhängigkeitsbestrebungen mit Chaos und Gewalt in Verbindung. Waters’ These: das extakte Gegenteil ist der Fall. Die Beharrlichkeit, mit der die Büchse verschlossen, die heutigen Staaten unverändert gelassen werden, sei der wahre Grund für die Gewalt. Ließe man zu, dass sich Gemeinschaften friedlich umorganisieren, würden sich Chaos und Gewalt verringern. Das aktuelle System, wonach Grenzen nicht angerührt werden dürfen, sei zu hinterfragen, genauso wie die Auffassung, dass deren unveränderliche Beibehaltung die Welt stabilisiere.

In seinem Werk, so Waters im Interview, vertrete er den Standpunkt, dass die Unabhängigkeit nicht das Problem, sondern die Lösung sei. Natürlich gebe es eine Korrelation zwischen Independentismus und Gewalt — doch ersterer sei nicht die Ursache für zweitere. Das Problem sei hingegen der gewaltsame Widerstand gegen die Unabhängigkeit. Da wo es — wie in Kanada, Schottland oder Tschechoslowakei — ein Einvernehmen gegeben hat, sei es zu keiner Gewalt gekommen, obschon die Unabhängigkeit genauso wie andernorts im Raum stand. In Katalonien und anderswo sei es hingegen der Staat gewesen, der für Gewalt gesorgt habe. Im Kosovo seien die Unabhängigkeitsbefürworter:innen lange Zeit fast »ghandianisch« vorgegangen, in den 1980er Jahren. Gewalttätig seien sie wegen des Widerstands des Staates geworden.

Vorklassische und klassische Welt

Die heutige Welt (ab 1945) bezeichnet Waters als »klassisch«, jene von Woodrow Wilson als »vorklassisch«. Wilson habe noch die Ansicht vertreten, Grenzen sollten sich nach der Identität, nach der Ethnie richten. Seit dem Zweiten Weltkrieg herrsche hingegen die Auffassung vor, dass die Grenzen fix sind. Selbstbestimmen dürfe sich demnach nur die Bevölkerung der existierenden Staaten. Im Jahr 1945 sei das noch revolutionär gewesen, weil damit die Entkolonialisierung ermöglicht wurde — wobei jedoch die kolonialen Grenzziehungen beibehalten wurden. Wie radikal das auch ausgesehen haben möge, es sei sehr konservativ gewesen, da die Menschen nicht gefragt wurden, ob sie in den aufgezwungenen Grenzen zusammenleben wollen.

Die ursprüngliche Idee von Wilson und auch Lenin sei es gewesen, dass eine Gemeinschaft, die eine »Nation« darstellt, einen eigenen Staat haben darf. Das sei kompliziert, weil es auf dem Konzept der Ethnizität oder der »Rasse« beruhe. Die heute vorherrschende Idee — Selbstregierung im Rahmen bestehender Grenzen — sei aber das exakte Gegenteil von dem, was einst mit Selbstbestimmung gemeint war.

Remedial secession

Am Verständnis der Sezession als Notwehrrecht im Fall von schwerer Diskriminierung oder Unterdrückung kritisiert Waters, dass es nicht nur selten zur Anwendung kommt, sondern in der Regel auch »zu spät kommt« und »perverse Anreize« schafft. Gemeinschaften sollten nicht erst unabhängig werden dürfen, wenn es zuvor Tote oder Krieg gegeben hat.

Ghandis Weg sei intelligent und human gewesen, habe jedoch auf die Tatsache setzen können, dass das britische Empire zwar in vielerlei Hinsicht brutal, die damalige britische Gesellschaft aber offen, human und liberal war und keine gewaltsamen Konflikte wollte.

Mögliche Lösung

Waters schlägt vor, das derzeitige, viel zu starre Modell zu überwinden. Eine Rückkehr zu Wilson sei nicht sinnvoll, denn der politische Wille solle wichtiger sein als die Ethnie. Seiner Meinung nach wären deshalb Referenda die ideale Lösung. Außerdem empfiehlt er eine pragmatische Schwelle von einer Million Einwohner:innen — »es könnten aber auch zwei, fünf oder eine halbe Million sein« — um absurden Forderungen von Einzelpersonen, die unabhängig werden wollen, vorzubeugen. Eine Mehrheit von über 50% könnte reichen, um einen neuen Staat zu gründen, eine »Supermehrheit« von 70% wäre aber natürlich besser.

Kaskadenreferenda

Teile einer Region, die unabhängig wird, könnten wiederum Gegenabstimmungen abhalten, um beim alten Staat zu verbleiben. Und Teile von Gebieten, die beim alten Staat verbleiben wollen, könnten dann erneut Abstimmen, um sich doch dem neuen Staat anzuschließen. Damit, so Waters, käme es zu Grenzziehungen, die der Realität besser entsprechen. An den Grenzen zwischen Deutschland und Polen sowie Österreich und Jugoslawien habe es so etwas in Ansätzen bereits nach dem Ersten Weltkrieg gegeben.

Ausblick

Kurz- und mittelfristig, denkt Waters, werde es auf breiter Ebene nicht zu den erwünschten Änderungen kommen. Die Vereinten Nationen würden sich seinen Vorschlag wohl (noch) nicht zueigen machen. Es gehe aber darum, die Debatte zu führen und den demokratischen Willen der Menschen zu respektieren. Um solche Grundwerte gehe es und man müsse Druck ausüben, damit die etablierten Staaten demokratische Wünsche ernster nehmen.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5

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Sprachimmersion, Minderheiten und Eliten.

Eine Person, die die Einführung der mehrsprachigen Schule in Südtirol befürwortet, hat mir kürzlich via Facebook das Buch Lernen in der Fremdsprache – Grundzüge von Immersion und bilingualem Unterricht von Henning Wode (1995) empfohlen. Darin wird tatsächlich sehr differenziert, meinem Eindruck nach in manchen Punkten auch widersprüchlich, analysiert, unter welchen Umständen eine mehrsprachige Schule gut funktionieren kann. Insbesondere wird auch auf die Situation von Minoritäten und Majoritäten eingegangen.

Einige Auszüge:

Je größer die Gruppe der Sprecher einer Sprache, umso stärker ist der Sog bzw. Zwang für Sprecher einer anderen Sprache, sich bei Kontaktsituationen der Sprache der größeren Gruppe zu bedienen.

– Henning Wode

Die dominante Gruppe wird als Majorität bezeichnet, die nichtdominante als Minorität oder Minderheit. Abgesehen von Eroberung oder Kolonialisation, ist erstere in der Regel zahlenmäßig stärker als die Minderheit, besetzt vorrangig die Macht- und Führungspositionen in Staat und Wirtschaft; und die Sprache der Majorität ist meist auch die Nationalsprache des Staates.

– Henning Wode

Hervorhebung von mir

Welche Sprache zwischen Deutsch und Italienisch sich bei Kontaktsituationen meist durchsetzt, nämlich zweitere, ist erforscht (‹1 ‹2).

Und dass es sich bei Südtirol um eine Eroberung — wenn nicht um Kolonialisation (‹1 ‹2 ‹3) — handelt, dürfte unstrittig sein. Das erklärt, warum die Sprachminderheit (laut obiger Definition) hierzulande zahlenmäßig in der Mehrheit ist und trotzdem eine Minorität darstellt.

[Es] hat sich die Unterscheidung von Lambert 1984 zwischen additivem und subtraktivem Bilingualismus bewährt. Mit additivem Bilingualismus ist gemeint, daß Schüler zusätzlich zu ihren L1 Fähigkeiten in der L2 erwerben, ohne daß ihre Kompetenz in der L1 geschmälert wird. Bei subtraktivem Bilingualismus hingegen lernen die Kinder zwar bis zu einem gewissen Grade eine L2, jedoch wird dadurch ihre L1-Entwicklung entweder gehemmt, oder bereits vorhandene L1-Fähigkeiten verkümmern wieder. Im Extremfall können solche Schüler in beiden Sprachen semilingual in dem Sinne sein, daß sie zwar zwei Sprachen sprechen, aber keine wirklich gut.

– Henning Wode

Auf die Unterscheidung zwischen additivem und subtraktivem Bilingualismus waren wir hier bereits eingegangen, unter anderem mit Bezug auf Forschungsergebnisse von 2021. Insbesondere auch bei Sprachminderheiten ist die Gefahr von subtraktivem Bilingualismus vorhanden. Laut Wode gibt es Möglichkeiten, um dem entgegenzuwirken.

Swain/Cummins 1986 bieten einen kritischen Überblick seit Peal/Lambert. Sie nennen eine Reihe von Faktoren, die die positive oder negative Wirkung von Mehrsprachigkeit bestimmen.
Dazu gehören: Die Zugehörigkeit der Kinder zu einer Minorität oder Majorität; das Prestige und der Status, den die L1 und L2 in der Familie und in der Gemeinschaft genießen; der sozio-ökonomische Status der Kinder bzw. ihrer Familien; sowie die Art des Unterrichts. Swain/Cummins heben hervor, daß die positiven Ergebnisse in der Regel bei Majoritätenkindern festgestellt wurden, die negativen bei Minoritätenkindern. Wenn die Kinder, ihre Familien und die Sprachgemeinschaft eine positive Einstellung zur L1 und L2 haben, wenn beide Sprachen ein hinreichendes Prestige genießen und aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen nützlich sind, ergeben sich in der Regel positive Ergebnisse. Günstig sind die Auswirkungen von Mehrsprachigkeit meistens bei Kindern aus höheren sozio-ökonomischen Schichten, weniger günstig bei Kindern aus niederen.

– Henning Wode

Hervorhebung von mir

Letzteres finde ich besonders interessant und aufschlussreich. Es ist ein Aspekt, der in Südtirol selten bis gar nicht thematisiert wurde — doch die mehrsprachige Schule könnte nicht nur ein Problem für die Minderheitensprachen (und somit für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit) werden, sondern auch den Graben zwischen »sozio-ökonomischen Schichten« vertiefen und zur Eliteschule werden. Dieser Vorwurf steht im Mutterland der Immersion, Kanada, schon lange im Raum und wir sollten uns vielleicht auch deshalb fragen, ob ein solches Modell im Rahmen des öffentlichen Schulsystems Platz haben soll.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5 ‹6 ‹7 | 1› 2›

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Bernie Sanders für schottische Selbstbestimmung.

Der US-amerikanische Linke Bernie Sanders (Demokraten) wurde am Sonntag von Sophy Ridge für den britischen Sender Sky News interviewt und dabei auch nach seiner »instinktiven« Meinung zur »Verfassungsangelegenheit« der schottischen Unabhängigkeit befragt.

Der 81-jährige Sozialist (Eigendefinition) schickte zwar voraus, dass er kein Experte für die Politik des Vereinigten Königreiches sei und bat mit einem Augenzwinkern, seine Meinung niemandem zu verraten — sagte dann aber, dass er sehr schätze, was die Menschen in Schottland gemacht hätten und wofür sie kämpfen. Er sei der Meinung, dass sie, wenn sie ihren eigenen Weg gehen wollen, dies auch dürfen sollten.

Es wäre für ihn einfach(er) gewesen, gar nicht oder ausweichend zu antworten. Doch das ist nicht sein Stil.

Wenig später stellte Fiona Hyslop, SNP-Abgeordnete zum schottischen Parlament, in einer Stellungnahme fest, dass jede echte Demokratin erkenne, dass es den Schottinnen — nicht den Politikerinnen — zustehe, über ihre Zukunft zu befinden, weshalb die Unterstützung von Bernie Sanders keine Überraschung sei.

Siehe auch ‹1 ‹2

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Berlusconi hetzt gegen die Ukraine.

Wenn er Regierungschef gewesen wäre, hätte er niemals mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gesprochen, diktierte FI-Chef Silvio Berlusconi Journalistinnen heute ins Mikrofon. Einleuchtende Begründung: Sein Land werde zerstört, seine Soldatinnen und Zivilistinnen massenweise getötet.

Dass das auf den brutalen Angriffskrieg zurückzuführen ist, den sein persönlicher Freund Wladimir Putin vor nahezu einem Jahr entfesselt hat, blendet der Chef einer Partei, die die italienische Regierung von Giorgia Meloni (FdI) stützt — und zudem mit der SVP verbündet ist —, einfach aus.

»Sehr, sehr negativ« bewertet Berlusconi nur Selenskyj, denn es hätte seiner Meinung nach gereicht, die Angriffe auf die mit russischer Unterstützung abgetrennten Volksrepubliken einzustellen, um den russischen Überfall zu vermeiden. Täter-Opfer-Umkehr wie aus dem Bilderbuch.

Konsequenterweise legt der ehemalige italienische Ministerpräsident US-Präsident Joe Biden nahe, Selenskyj einen milliardenschweren Marshallplan in Aussicht zu stellen, wenn der im Gegenzug vor Russland kapituliert. Waffenlieferungen seien selbstverständlich unverzüglich einzustellen.

Wem Berlusconis Marshallplan, den die USA bezahlen sollen, dienen soll, ist dabei unklar. Denn wenn das Aggressionsopfer einseitig den Krieg beendet, wird sein Land anschließend wohl nicht mehr existieren. Aber vermutlich wäre es dem FI-Chef ja recht, wenn der amerikanische Wiederaufbauplan neu annektierten russischen Provinzen zugute käme.

Andernfalls würde er ja vielleicht seinen Kumpel Putin zur Seite nehmen und zum Rückzug drängen. Geht aber nicht, denn der ist ja Opfer von Selenskyj und hat leider keinerlei Handlungsspielraum.

Siehe auch ‹1 | 1›

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Québec: Regierung will Rückgang des Französischen aufhalten.
Interministerielle Aktionsgruppe

Neue Daten des kanadischen Statistikinstituts hatten kürzlich ergeben, dass der Anteil an Frankophonen in Québec zwischen 2016 und 2021 um anderthalb Punkte von 79,0% auf 77,5% gefallen ist. Dagegen hatten Anglophone und Allophone (d.h. Anderssprachige) jeweils Zuwächse zu verzeichnen.

Das ist für Ministerpräsident François Legault (Coalition Avenir Québec – CAQ) Grund genug, eine »Aktionsgruppe für die Zukunft der französischen Sprache« (Groupe d’action pour l’avenir de la langue française – GAALF) ins Leben zu rufen, in der gleich sechs Ministerinnen seiner Landesregierung ressortübergreifend einen Plan ausarbeiten sollen, um den Negativtrend zunächst zu stoppen und dann umzukehren. Es sind dies Jean-François Roberge (zuständig für die französische Sprache), Mathieu Lacombe (Kultur und Kommunikation), Bernard Drainville (Bildung), Pascale Déry (Hochschulen) Christine Fréchette (Zuwanderung) und Martine Biron (Internationale Beziehungen).

Sie sollen mit Expertinnen und gesellschaftlichen Akteuren zusammenarbeiten, um eine regelrechte Sprachoffensive auf die Beine zu stellen — und zwar bis Herbst dieses Jahres.

Erst kürzlich hatte das Parlament von Québec bereits deutliche Verschärfungen am Gesetz 101 beschlossen, das seit 1977 die Grundlage für den Schutz der französischen Sprache in der Provinz bildet.

Minister Roberge bezeichnete den Zustand der französischen Sprache in Québec aufgrund der neuen Statistiken als »beunruhigend«. Die Ministerien seien nun aufgefordert, Ideen und Vorschläge einzubringen, die gemeinsam abgestimmt und dann von jedem Ressort im eigenen Zuständigkeitsbereich umgesetzt werden müssten, um die Vitalität des Französischen anzukurbeln. Dass dazu unter anderem der Anteil an Frankophonen unter den Zuwandernden erhöht (vgl. ‹1) und die Inanspruchnahme französischsprachiger kultureller Angebote gefördert werden müsse, nahm er bereits vorweg.

Vor Jahresende soll der neue Aktionsplan vorgestellt und bereits mit der Umsetzung begonnen werden.

Zum Vergleich

Dass in Südtirol

scheint bei unserer Landesregierung hingegen noch nicht einmal ein Achselzucken zu verursachen.

Siehe auch ‹1 ‹2

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Französisch in Québec rückläufig.

Das kanadische Statistikinstitut hat 2022 die Ergebnisse der Volkszählung 2021 veröffentlicht, die auch wichtige Daten zur Sprachsituation beinhalten. Wie das Office québécois de la langue française (OQLF) auf dieser Grundlage schon im vergangenen August konstatierte, ist die französische Sprache in Québec auf dem Rückzug.

Zuhause

Seit der vorhergehenden Volkszählung 20161Erhebungen werden mit doppelt so hoher Frequenz durchgeführt wie in Südtirol sind die Frankophonen2definiert als diejenigen, die zuhause am häufigsten Französisch sprechen von 79,0% auf 77,5% der Bevölkerung gesunken. Gleichzeitig hat der Anteil an Anglophonen3definiert als diejenigen, die zuhause am häufigsten Englisch sprechen von 9,7% auf 10,4% und der an Allophonen4definiert als diejenigen, die zuhause am häufigsten eine andere Sprache als Französisch oder Englisch sprechen von 7,3% auf 7,9% zugenommen.

In der Metropolregion Montréal ist der Prozentsatz an Frankophonen von 65,9% auf 63,8% gesunken, jener an Anglophonen von 15,3% auf 16,3% und der der Allophonen von 12,2% auf 13,2% gestiegen. Auch in Gatineau, dem zu Québec gehörenden Vorort der Bundeshauptstadt Ottawa, ist der Rückgang der Frankophonie überdurchschnittlich.

Gar doppelt so hoch wie im Gesamtdurchschnitt der Bevölkerung ist der Rückgang an Frankophonen unter den Jüngeren (Alter 15 – 34 Jahre), wo der Anteil in fünf Jahren von 77,0% auf 74,0% um drei Punkte gesunken ist.

Diese Daten wurden von der Politik mit größter Besorgnis aufgenommen und als Bestätigung für die Notwendigkeit von strengeren Maßnahmen gewertet, wie sie zum Teil erst kürzlich beschlossen wurden.

Dies umso mehr als der Anteil an Anglophonen, die angaben, eine Konversation auf Französisch führen zu können, von 68,8% auf 67,1% gesunken ist.

Bei der Arbeit

Einer Auswertung des OQLF vom Dezember zufolge muss Französisch aber auch unter den bei der Arbeit gesprochenen Sprachen Federn lassen. So gaben 2021 nur noch 79,7% an, im Beruf hauptsächlich die Sprache von Molière zu benutzen. Zehn Jahre zuvor waren es noch 81,9%, 2016 schon nur noch 79,9% gewesen.

Dabei ist es erklärtermaßen ein wichtiges politisches Ziel der Regierung von Québec, Französisch durch entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen als wichtigste Arbeitssprache abzusichern.

Gleichzeitig nahm der Anteil derer, die im beruflichen Umfeld hauptsächlich Englisch gebrauchten, von 11,7% (2011) über 11,9% (2016) auf 13,9% (2021) zu — während auch der Prozentsatz von Personen, die beide Sprachen etwa gleich häufig benutzten, von 5,6% (2011) nach einem Anstieg auf 7,4% (2016) wieder deutlich auf 5,4% (2021) sank.

Auch diesbezüglich ist die Entwicklung insbesondere in Gatineau prononcierter als im Rest der frankophonen Provinz.

◊ ◊

Wiewohl das insgesamt noch immer Werte sind, von denen wir in Südtirol nur träumen können, ist der Trend eindeutig negativ: So wie die Frankophonie in ganz Kanada auf dem Rückzug ist, trifft dies auch auf Québec zu. Damit folgt die Provinz einer allgemeinen Entwicklung von Minderheiten weltweit.

Eine weitreichende, spezielle Autonomie und das Vorhandensein einer Standardsprache sind für Minderheiten ein wichtiger, aber noch lange kein hinreichender Schutz vor Assimilierung.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5 / ‹6 ‹7 ‹8 | 1› 2›

  • 1
    Erhebungen werden mit doppelt so hoher Frequenz durchgeführt wie in Südtirol
  • 2
    definiert als diejenigen, die zuhause am häufigsten Französisch sprechen
  • 3
    definiert als diejenigen, die zuhause am häufigsten Englisch sprechen
  • 4
    definiert als diejenigen, die zuhause am häufigsten eine andere Sprache als Französisch oder Englisch sprechen
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Québec: Kein Eid auf König Charles.

Durch zivilen Ungehorsam und Durchhaltevermögen konnten die nur noch drei Abgeordneten des Parti Québécois (PQ) zur Assemblée Nationale du Québec kürzlich eine Änderung der Eidesformel bei der Amtseinführung erwirken.

Obschon sie dadurch zwei Monate lang von den Arbeiten im Landesparlament ausgeschlossen wurden, weigerten sich die Pequistinnen nach der Wahl vom letzten Oktober beharrlich, ihren Eid auf König Charles III. zu leisten. Nicht nur die linksseparatistische Québec Solidaire (QS) schlug sich auf ihre Seite — letztendlich sahen sich auch die regierende CAQ sowie die oppositionelle, unionistische Parti libéral du Québec (PLQ) zum Einlenken gezwungen, da die Monarchie in der frankophonen Provinz auf wenig Gegenliebe stößt.

Am 9. Dezember verabschiedete die Nationalversammlung daher ein Gesetz, das Artikel 128 der kanadischen Verfassung von 1867 abändert und es den Abgeordneten gestattet, ihren Eid nur noch auf Québec zu leisten. Ab sofort können also auch die Abgeordneten des PQ wieder an den Sitzungen des Parlaments teilnehmen.

Siehe auch 1›

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Minderheiten brauchen endlich internationalen Schutz.

Kein Geringerer als Fernand de Varennes, seines Zeichens UN-Sonderberichterstatter betreffend Minderheiten, hielt gestern an der Eurac in Bozen die jährliche Vorlesung über Minderheitenrechte.1Annual Minority Rights Lecture Dabei zeichnete er ein relativ düsteres Bild über den aktuellen Zustand des Minderheitenschutzes und plädierte für neue, rechtlich bindende und einklagbare Maßnahmen.

Er verglich Minderheiten mit dem Harry-Potter-Charakter Lord Voldemort, dessen Namen fast niemand auszusprechen wagte, wohingegen er meist als »Der, dessen Name nicht genannt werden darf« bezeichnet wurde. Das Wort »Minderheit« sei — als ob es sich um ein gefährliches Konzept handle — sogar bei den Vereinten Nationen eine Art Lord Voldemort.

Wie er in einem Bericht angeprangert habe, sei es zum Beispiel im Zusammenhang mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung vorsätzlich wieder aus der umfassenden Liste der vulnerablen Gruppen gestrichen worden. Doch genauso würden Minderheiten in vielen anderen Bereichen der Vereinten Nationen fehlen, weil viele Staaten grundsätzlich nicht über dieses Thema sprechen wollten.

Diskriminiert unter Diskriminierten

Minderheiten seien deshalb nicht in demselben Ausmaß durch internationales Recht geschützt, wie es die meisten anderen empfindlichen Gesellschaftsgruppen sind — und zwar durchaus auch in Europa.

In den späten 1980er und in den 1990er Jahren habe es noch viel Zuversicht gegeben. Aufgrund des Zusammenbruchs von Jugoslawien, des Kriegs in Bosnien, aber auch der gewaltsamen Auseinandersetzungen in Korsika, Baskenland oder Nordirland sei viel politische und intellektuelle Energie in die Frage des Minderheitenschutzes geflossen. Daraus seien die Deklaration über Minderheitenrechte2Erklärung über die Rechte von Personen, die nationalen oder ethnischen, religiösen
oder sprachlichen Minderheiten angehören
(UNO), das Rahmenabkommen zum Schutz nationaler Minderheiten, die Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (beide: Europarat) oder das Mandat des Hohen Kommissars für nationale Minderheiten (OSZE) hervorgegangen, aber auch das Kriterium des Minderheitenschutzes als Voraussetzung für die Aufnahme neuer EU-Mitgliedsstaaten.

Im damaligen historischen Kontext sei allen klar gewesen, dass Schritte gesetzt werden mussten. Damit sei ein Versprechen, eine Verheißung ausgesprochen worden, der damals viele vertraut hatten. Sie für Verpflichtungen zu halten, sei naiv gewesen — und auch er selbst sei darauf reingefallen.

Die UN-Deklaration sei kein rechtlich bindendes Dokument, kein Vertrag, sondern ein politisches Statement. Auch das Rahmenabkommen sei nur das: ein Rahmen. Und in der Charta der Minderheitensprachen stehe sogar ausdrücklich, dass kein Individuum und keine Gemeinschaft auf ihrer Grundlage Rechte geltend machen können. So könne beim EGMR keine der beiden Vorlagen des Europarats eingeklagt werden. Vielmehr gebe es leider langwierige, schwerfällige und letztendlich auch zahnlose Mechanismen, mit denen die Unterzeichnerstaaten lediglich unterstützt werden, ihre Verpflichtungen umzusetzen.

Zahlreiche Minderheiten beklagten sich darüber, dass sich Staaten über deren Rechte und über ihre eigenen Verpflichtungen so leicht hinwegsetzen können. Dies führe — laut de Varennes — zu einem großen Vertrauensverlust.

Viele hätten ihre Hoffnungen auch in die EU gesetzt, sich direkt und intensiv dort eingebracht, weil sie das Potenzial sahen, dass dadurch ihre Rechte geschützt würden. Doch erst kürzlich habe sich die Kommission einfach über die Minority-Safepack-Initiative und das EU-Parlament hinweggesetzt, weil es ihrer Meinung nach nicht nötig sei, weitere rechtliche Schritte zu unternehmen.

In den letzten 20 Jahren sei es zu bindenden Verträgen über die Rechte von Geflüchteten, Migrantinnen, Frauen, Kindern, Behinderten und anderen Gruppen gekommen. Für Minderheiten gebe es aber nach wie vor nichts — und während der letzten 20 Jahre seien in diesem Bereich bei den Vereinten Nationen nicht einmal symbolische Initiativen ergriffen worden.

Bei der UNO gebe es Allianzen und Netzwerke jeder Art, an denen neben Staaten auch NROs beteiligt seien und die die Unterstützung der Rechte von Kindern, indigenen Völkern, Migrantinnen, Menschen afrikanischen Ursprungs zum Ziel haben. Ja sogar für Bauern gebe es ein Netzwerk — jedoch nicht für Minderheiten.

Selbst von den freiwilligen Fonds, in die Staaten einzahlen können, um marginalisierte Gruppen zu fördern, seien Minderheiten ausgeschlossen. Es gebe welche für viele verschiedene Zwecke, aber eben nicht für diesen.

Vor allem für Menschen, die der LGBT-Community angehören, sei während der letzten Jahre von der UNO viel gemacht worden. Neben Kampagnen seien zum Beispiel auch Verhaltensstandards für Unternehmen veröffentlicht worden, um die Diskriminierung von LGBT-Personen zu bekämpfen. Das seien extrem wertvolle Ansätze und auch nötige Programme und Initiativen, von denen es während der letzten drei Jahrzehnte jedoch für Minderheiten keine einzige gegeben habe.

Trotz eines Leitfadens von 2013 ist der Versuch, die Rechte von Minderheiten bei den Vereinten Nationen zu etablieren und einzubinden, fast vollständig gescheitert. Minderheiten sind in großem Umfang und wie nie zuvor mit Ausgrenzung, Diskriminierung und sogar Aufrufen zu Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit konfrontiert. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass es einen Rückschritt bei der Anerkennung und beim Schutz der Menschenrechte von Minderheiten gegeben hat.

– Antonio Guterres, UN-Generalsekretär, September 2022

Übersetzung von mir

Viele Minderheiten würden aufgrund ihres sprachlichen, ethnischen oder religiösen Hintergrundes als »nicht dazugehörig« betrachtet, manchmal sogar als Gefahr. Die meisten Staatenlosen weltweit gehörten Minderheiten an. Und die Anzahl der Konflikte wachse in einem seit Jahrzehnten nicht mehr gesehenen Ausmaß; die meisten davon seien innerstaatlich und davon wiederum beträfen die meisten Minderheiten.

Ferner gebe es durch die sozialen Medien einen Anstieg an Desinformation, falscher Berichterstattung und Hatespeech — sowie der Auswirkungen von Hatespeech auf die Realität. Denn Worte seien bedeutsam und könnten zu Taten führen. Da wo Daten verfügbar sind, zeigten sie, dass Minderheiten besonders häufig Ziel von Hassrede seien.

Er selbst sei aber zum Schluss gelangt, dass in der internationalen Gemeinschaft geleugnet werde, dass Minderheiten besonders betroffen sind.

Was nötig ist

Seiner Meinung nach gebe es jedoch — auch dank der klaren Stellungnahme des UN-Generalsekretärs — die Bereitschaft, über einen neuen Vertrag zumindest nachzudenken.

Zivilgesellschaftliche Organisationen, mit denen de Varennes sich intensiv ausgetauscht hat, seien ohnehin der einhelligen Meinung, dass rechtlicher Schutz für Minderheiten überfällig sei.

Schließlich seien Minderheiten die letzte große Gruppe in der UNO, für die es keine spezifischen Mechanismen oder Initiativen zur Stärkung ihrer Menschenrechte gibt. Es existieren kein permanentes Forum und kein freiwilliger Fonds. Menschen verzweifelten, verlören die Geduld und das Vertrauen in die Vereinten Nationen und in andere internationale Organisationen, weshalb ganz dringend gehandelt werden müsse.

Es brauche also einen rechtlich bindenden Vertrag über die Rechte von Minderheiten, um die Staaten und nichtstaatliche Akteure zu leiten. Das wäre eine Gelegenheit, den Aktivismus von Minderheiten, Diplomatie und Expertise zu kanalisieren. Dazu müsse der Ansatz übernommen werden, der auch im Falle der indigenen Völker gewählt wurde: Nichts über sie ohne sie. Minderheiten seien also in die Ausarbeitung von Normen, die ihr Leben beeinflussen, direkt einzubinden.

Wie im Falle der indigenen Völker oder der Menschen afrikanischer Abstammung sei zudem auch für Minderheiten ein permanentes Forum notwendig.

Natürlich müsse ferner über Autonomiearrangements gesprochen werden, wie zum Beispiel Südtirol bereits eines habe. Und nicht zuletzt sei das Problem der Intersektionalität zu berücksichtigen, weil etwa Menschen, die einer Minderheit und einer weiteren vulnerablen Gruppe (z.B. Frauen, LGBT…) angehören, für Diskriminierung noch anfälliger seien.

All das könne heute wie ein Traum erscheinen, da wir wieder in einer besonders dunklen Zeit lebten. Manche Staaten seien absolut dagegen, über Minderheiten auch nur zu reden. Und dennoch könne — in Anspielung wohl auf die 1980er und 1990er Jahre, als Gewalt zu Engagement geführt hatte — genau ein so schwieriger historischer Kontext der richtige Zeitpunkt sein, eine so wichtige Veränderung herbeizuführen.

Siehe auch 1›

  • 1
    Annual Minority Rights Lecture
  • 2
    Erklärung über die Rechte von Personen, die nationalen oder ethnischen, religiösen
    oder sprachlichen Minderheiten angehören
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