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Autorinnen und Gastbeiträge

Selbstbestimmungsrecht und Volksabstimmungen.
Neues POLITiS-Dossier 13/2017

Selbstbestimmungsforderungen und Unabhängigkeitsbestrebungen haben in den vergangenen 9-10 Jahren, also seit der Unabhängigkeit des Kosovo, neuen Schwung erhalten. Auch die Ablehnung wesentlicher Teile des neuen Autonomiestatuts Kataloniens durch das spanische Verfassungsgericht 2010 war ein Treibsatz dafür. Selbstbestimmung wird in der EU auf demokratischem und rechtlich geregeltem Weg über politische Verhandlungen angestrebt, in Osteuropa teils mit militärischer Gewalt und einseitiger Sezession, z.B. Ukraine, Krim und Moldawien und auf dem Balkan (serbisch besiedelter Norden des Kosovo). In Katalonien könnte, nach Schottland 2014, im Oktober 2017 das nächste Referendum über die Souveränität einer Region stattfinden; in Neukaledonien (Frankreich) 2018 das übernächste. Auch Schottland wird wahrscheinlich nach erfolgtem Brexit eine neue Volksabstimmung über die Unabhängigkeit abhalten wollen. Rechtlich nicht bindende Volksbefragungen über die Erweiterung der Regionalautonomie stehen am 22. Oktober 2017 in Venetien und in der Lombardei an. In weiteren Regionen ist Selbstbestimmung häufig Thema der politischen Debatte, nicht zuletzt in Südtirol.

Referenden sind die klassische Methode der politischen Legitimation einer Entscheidung über den völkerrechtlichen Status eines Gebiets in einem demokratischen System. Volksabstimmungen sind nicht nur bei Gründung eines souveränen Staates, sondern auch bei anderen Veränderungen des politischen Status sinnvoll und demokratisch geboten: so standen bei zahlreichen Abstimmungen in Teilgebieten von EU-Ländern (Frankreich, Niederlande, Vereinigtes Königreich, Dänemark) nicht nur die Unabhängigkeit, sondern auch freie Assoziation, Autonomie, eine erweiterte Autonomie und andere Arten des politischen Status zur Wahl. Nicht immer gingen die Abstimmungen zugunsten des Ausbaus der Eigenständigkeit aus, wie etwa auf Korsika 2003, in Schottland 2014, auf Puerto Rico 2017.

Einen Überblick über solche Abstimmungen bietet das neue POLITiS-Dossier 13/2017. Dabei werden nicht die vielschichtige Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts und seine Anwendung in der konkreten Politik ausgelotet, sondern ein Überblick über die 53 seit 1994 abgehaltenen Volksabstimmungen über den politischen Status eines Gebiets geboten und einige Schlussfolgerungen gezogen.

Im zweiten Teil des Dossiers wird auf die Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts in Italien eingegangen, das über die Verankerung der “Unteilbarkeit der Republik” in der Verfassung jeder Sezession oder einseitiger Änderung des Status einer Region einen Riegel vorgeschoben zu haben scheint. Welche Tendenzen sich aus diesen jüngsten Erfahrungen für Italien ableiten lassen und welche Implikationen die aktuelle Anwendung des Selbstbestimmungsrechts für Südtirol hat, darauf geht der dritte Teil des Dossiers kurz ein.

Das Dossier kann von www.politis.it frei heruntergeladen werden.

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Associazione Internazionale dei Garanti Linguistici.

L’International Association of Language Comissioners (IALC), fondata nel 2014, raggruppa i difensori e le garanti per i diritti linguistici di realtà molto diverse tra di loro, come la provincia canadese del New Brunswick, il Kosovo, la Catalogna, il Nunavut o il Galles. In tutto i membri attualmente sono nove e attraverso l’associazione entrano in contatto fra loro, scambiano esperienze ed esempi di buone pratiche, collaborano nello sviluppo di risorse professionali, di informazioni e di esperienze formative, mettono a disposizione le loro conoscenze e promuovono a livello internazionale la protezione dei diritti linguistici, dell’eguaglianza e della diversità.

Ogni anno, inoltre, l’IALC organizza un incontro fra tutti i membri, così da consentire ulteriori approfondimenti e favorire la conoscenza personale fra i garanti linguistici. La prima edizione, nel 2014, si è svolta a Barcellona, mentre la seconda, nel 2015, ha avuto luogo presso l’Official Languages and Bilingualism Institute dell’università di Ottawa.

Il Sudtirolo non fa parte dell’IALC — né potrebbe farne parte, in quanto:

  • non detiene le relative competenze in campo linguistico;
  • lo stato centrale, che se ne dovrebbe occupare, ne ha demandato i compiti al prefetto e non a una figura specializzata super partes come una garante, un difensore linguistico o un ombudsman.

Il prefetto, va ricordato, non deve nemmeno conoscere (e di norma effettivamente non conosce) le lingue minoritarie, cioè il tedesco e il ladino.

Vedi anche ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5 | 1› 2›

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Gibraltar und Kosovo sind neue FIFA-Vollmitglieder.

Gegen den Widerstand von Spanien und Serbien wurden diese Woche Gibraltar und Kosovo zu neuen Vollmitgliedern des Weltfußballverbands FIFA. Damit können sich die Teams der beiden Gebiete fortan unter anderem zur Teilnahme an Fußballweltmeisterschaften bewerben.

Fast genau drei Jahre ist es her, dass Gibraltar — ebenfalls gegen den Widerstand von Spanien — in die UEFA aufgenommen wurde, als sechstes Vollmitglied, das nicht als selbständiger Staat in der UNO vertreten ist. Die anderen sind England, Wales, Nordirland, Schottland und die Färöer Inseln.

141 Fußballverbände stimmten der Aufnahme Kosovos in die FIFA zu, 23 sprachen sich dagegen aus. Gibraltar wurde mit 172 zu 12 Stimmen als neues Vollmitglied willkommen geheißen.

Seit Ende letzten Jahres laufen die Bemühungen der Kanalinsel Jersey (100.000 Einwohnerinnen) um Aufnahme in die UEFA. Auch Jersey ist kein souveräner Staat, sondern genießt einen Sonderstatus unter der britischen Krone.

Siehe auch 1›

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Staatlich-faschistische Kooperation.

Der Schweizer Historiker Aram Mattioli hatte in einem Buch vor der »Aufwertung des Faschismus« in Italien gewarnt. Doch fördert der italienische Staat gar den großserbischen, ethnisch-nationalistischen Expansionismus? Womöglich im Zusammenspiel mit faschistischen und ultranationalistischen Gruppierungen aus Italien und Serbien?

»Accendiamo la Speranza« (Entfachen wir die Hoffnung) ist die Bezeichnung eines Kooperationsprojekts zur Unterstützung der serbischen — und nur der christlich-serbischen — Bevölkerung im Kosovo, das zwischen 2009 und 2010 entstand und bis 2012 andauerte. Es wurde von der Volontariatsorganisation LOVE mit Sitz in Riva del Garda koordiniert.

Die Kooperation stützte sich, wie aus einer Broschüre von 2012 hervorgeht, auf (Sach-)Spenden und bestand aus sogenannten »Solidaritätsbesuchen« vor Ort sowie »Informationsveranstaltungen« in Italien, bei denen die Zugehörigkeit von Kosovo und Mitrohina (die offizielle serbische Bezeichnung für den Kosovo) zu Serbien unterstrichen wurde. Das gesamte Projekt folgte der »identitären Idee« der neuen Rechten (Ethnopluralismus), wonach die Welt zwar kulturell vielfältig, diese Vielfalt jedoch in den jeweiligen Heimatregionen bleiben und dort nicht vermischt werden soll. Selbstverständlich gibt es auch in dieser Vorstellung — zumindest latent — Hierarchien zwischen besseren/überlegenen (und somit föderdungswürdigen) bzw. schlechteren/minderwertigen Völkern und Ethnien. Im Facebook-Profil von LOVE etwa äußert sich dies durch eine außergewöhnliche Konzentration negativer und alarmistischer Nachrichten über den kosovarischen Staat oder die angebliche Gewaltbereitschaft der dortigen Muslime (über den Kosovo hinaus) und positiv konnotierte Nachrichten über Serbien und die christlich-serbische Gemeinschaft des Kosovo. Dieses strikte Gruppendenken allein sollte in Bezug auf eine Volontariatsorganisation schon Zweifel aufkommen lassen.

In einer Selbstvorstellung kritisiert LOVE den Individualismus und stellt diesem die Gemeinschaft, das Volk gegenüber. Die ideologischen Bezugspunkte reichen vom protofaschistischen Philosophen D’Annunzio bis zu Ezra Pound.

»Accendiamo la speranza« wurde laut Projektbeschreibung von einer unappetitlichen Mischung neofaschistischer Vereine sowie öffentlicher und halböffentlicher Institutionen vorangetrieben und unterstützt. In alphabetischer Reihenfolge erstgenannt sind unter den Beteiligten die italienische Botschaft in Prishtina und die Serbische Botschaft in Rom. Doch auch das Italienische Rote Kreuz und die Autonome Provinz Trient befinden sich darunter.

Die genaue Rolle der italienischen Botschaft ließ sich nicht ermitteln: Eine entsprechende Anfrage ist seit zwei Wochen unbeantwortet geblieben. Dagegen ergibt eine Internetrecherche, dass die Trentiner Entwicklungshilfe mindestens 10.580,25 Euro in die Initiative gesteckt hat, und zwar über die Associazione L’Uomo Libero mit Sitz in Arco. Insgesamt hat dieser Verein für seine Projekte seit dem Jahr 2000 rund 50.000 Euro aus den Fonds von Trentino Cooperazione erhalten.

L’Uomo Libero setzt sich wie LOVE nicht so sehr für Menschen, sondern vor allem für Völker ein — und hatte etwa bei der Unterstützung des karischen Volkes mit CasaPound gemeinsame Sache gemacht. Auch in Bozen. L’Uomo Libero erinnert auf seiner Webseite an den angeblichen »Holocaust« der Italiener auf der Krim, nimmt an Veranstaltungen der Alpini teil und gedenkt zusammen mit dem nicht ganz lupenreinen Kriegsbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge regelmäßig »aller Toten aller Kriege«, eine Lieblingsfloskel italienischer Rechter.

Doch die Reihe der Unterstützerinnen von »Accendiamo la Speranza« ist lang und umfasst unter anderem:

  • Associazione Nazionale Tutte le Età Attive per la Solidarietà, eine Vereinigung der Gewerkschaft CISL.
  • ENEL, staatlicher Energieversorger.
  • Hell’s Angels, der Motorrad- und Rockerclub, der immer wieder durch seine Verstrickungen in kriminelle Tätigkeiten und Vorfälle in die Schlagzeilen gerät.
  • »Kulturvereinigung« La Perla Nera aus Novara, hinter der sich nichts anderes als die örtliche CasaPound-Sektion verbirgt.
  • Lealtà e Azione aus Monza, eine Neonazi-Gruppierung.
  • Mazzardita, der CasaPound-Ableger in Verbania.
  • Solidarité-Identités, Volontariatsorganisation der identitären Bewegung mit Kontakten zu CasaPound.
  • Ultima Frontiera, rechtsextremistische Band aus Triest.
  • »Kulturvereinigung« Zenit aus Rom, die auf ihrer martialisch anmutenden Webseite unter anderem den griechischen Neonazis der Goldenen Morgenröte ihre Solidarität ausspricht, weil diese Opfer »demokratischer Attentate« geworden seien.

Außerdem wurde über »Accendiamo la Speranza« ausgiebig auf dem faschistischen Online-Radiosender RadioBandieraNera berichtet, unter anderem weil auch der (ehemalige) CPI-Präsident Gianluca Iannone Teil einer Spenderdelegation im Kosovo war.

Die Zusammenarbeit institutioneller Kooperationspartnerinnen mit neofaschistischen Vereinen und Organisationen, die über ihre Projekte ihr rassistisches Menschenbild transportieren und gleichzeitig ihr Image aufpolieren können, ist beunruhigend. Gerade öffentliche Akteurinnen hätten die Aufgabe, äußerst penibel zu überprüfen, in wessen Gesellschaft sie sich begeben, da sie erstens Steuergelder verwalten und zweitens ihre Teilnahme an Projekten vielen Bürger- und potentiellen Spenderinnen als Glaubwürdigkeitsnachweis gilt.

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Habermas.
Quotation

Sie haben, meine Frage zielt genauso auf den Ukraine-Komplex wie auf die schottischen und flämischen Abspaltungstendenzen, wiederholt Separatismus kritisiert. Warum eigentlich? Das Beispiel von Tschechien und der Slowakei zeigt doch, dass auf prozedural einwandfreier Grundlage eine solche Teilung relativ problemlos vonstatten gehen kann. Historisch gesehen repräsentiert die Sezession nicht mehr und nicht weniger als einen Typus der Nationalstaatsbildung. Muss man ihn unbedingt mit einem normativen Kainsmal versehen?

Das sogenannte Nationalitätenprinzip ist nach dem Ersten Weltkrieg bei den Verträgen von Versailles zugrundelegt worden – und hat, statt Frieden zu stiften, nur neue Konflikte geschürt. Der Grund liegt auf der Hand: Es gibt keine ethnisch homogenen Völker. Jede neue Grenzziehung erzeugt bestenfalls die Umkehrung des bestehenden Verhältnisses zwischen Mehrheiten und Minderheiten. Genschers Vorpreschen bei der völkerrechtlichen Anerkennung Kroatiens als eines souveränen Staates und die darauf folgende Zerschlagung Jugoslawiens hat zu den blutigsten Schlächtereien auf europäischem Boden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs geführt – ein Fehler, der mit der internationalen Anerkennung des Kosovo noch einmal wiederholt worden ist. Das war der einstweilen letzte Schatten, den das nationalistische 19. Jahrhundert über das 20. geworfen hat. Und nun rumoren diese nationalistischen Gespenster sogar im Herzen einer Europäischen Union, die nicht einmal den politischen Willen aufbringt, gegen den weichen Autoritarismus der Orban-Regierung einzuschreiten.

Aus dem Interview der Frankfurter Rundschau mit dem Philosophen Jürgen Habermas anlässlich seines 85. Geburtstags, 13. Juni 2014.

Es ist bedauerlich, dass auch dieser große linke Vordenker der europäischen Einigung offenbar nicht inhaltlich zwischen den unterschiedlichen Separationsbewegungen unterscheiden kann. Schottland und Flandern sind — um erst gar nicht von der Ukraine zu sprechen — zwei völlig unterschiedliche Realitäten. Was etwa hat der inklusivistische Prozess in Schottland mit der Schaffung ethnisch homogener Nationalstaaten zu tun? Wenn eine Staatsgründung nicht entlang national(istisch)er Definitionsmuster verläuft, ist auch keine Umkehrung des bestehenden Verhältnisses zwischen Mehrheiten und Minderheiten zu befürchten — einen Vorwurf den sich jedoch hierzulande etwa die Freiheitlichen mit ihrem Verfassungsentwurf gefallen lassen müssen.

Schaut man etwas genauer hin, muss man Prozesse wie jenen in Schottland (oder den von vorgeschlagenen) als einen Beitrag zur Überwindung des nationalstaatlichen Prinzips verstehen. Andere Vordenker, wie Robert Menasse, tun dies. Eine Erklärung, warum denn das Festhalten an althergebrachten Nationalstaaten besser sein soll als deren »physische« Dekonstruktion, bleibt Habermas in seiner Antwort zudem schuldig.

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Autorinnen und Gastbeiträge

Das »Europa der Regionen« ist noch fern.

Die Initiative für mehr Demokratie hat “Sezession oder Europa?” zum Thema gemacht. In Südtirol wird Sezession immer emotional aufgeladen, weil es selbst daran interessiert oder betroffen sein könnte. Doch ist Sezession zunächst ein relativ neutraler Begriff, der nur die Loslösung eines Gebietes von einem anderen umschreibt. Die Briten sehen das cooler, hat doch Premierminister Cameron ganz friedlich mit dem SNP-Chef Salmond 2012 vereinbart, am 18. September 2014 in einem Referendum zu klären, wie sich Schottland künftig zu Großbritannien stellen will.

Wenn die Unabhängigkeitsbefürworter unterliegen, wird es in GB so friedlich weitergehen wie bisher, oder so friedlich wie in Québec, als 1980 und dann wieder 1995 das Unabhängigkeitsreferendum knapp scheiterte. Wenn es gelingt, kehrt ein alter europäischer Staat, bis 1707 jahrhundertelang ein unabhängiges Königreich, auf die Bühne zurück, der sich paradoxerweise enger an die EU binden will als es heute die Engländer tun. Während England und nur England immer wieder mit dem Austritt aus der EU droht, hat die SNP nichts dergleichen im Sinn. Das angekündigte britische Referendum zur EU binnen 2017 könnte eine weitere Klärung zwischen nationaler Eigenständigkeit und weitergehender Integration in die EU bewirken.

Staat zu werden ist immer noch interessant

In einer Welt von Staaten bedeutet Staatlichkeit immer noch “internationale Rechtsfähigkeit”. Erst als Staat hat eine territoriale Gemeinschaft auf ihrem Gebiet die volle Kontrolle, die sie freiwillig mit einem Staatenverbund teilen kann, etwa mit der EU. Oder auch nicht wie die Schweiz, Norwegen, Island. Erst als Staat hat sie alle Möglichkeiten des Völkerrechts. Verschiedene solcher territorialer Gemeinschaften haben in Europa Sezession angewandt, z.T. friedlich und einvernehmlich wie Montenegro, Mazedonien, die Slowakei und Tschechien; oder unter gewaltsamen Umständen wie im Kosovo, Transnistrien, Abchasien. Der Kosovo hat eine Form der Sezession geübt, die unter flächendeckender Vertreibung als Notwehr unvermeidlich geworden war. Der IGH hat diese Unabhängigkeit 2010 als “remedial secession” für völkerrechtlich legitim erklärt.

Dies trifft für die Ost-Ukraine und die Krim nicht zu. Der Staat mag in seiner Struktur und Umgang mit Minderheiten zwar äußerst reformbedürftig sein, doch die Annexion der Krim und die jetzt von Russland angefachten Sezessionsbestrebungen in der Ost-Ukraine sind eine pseudodemokratische Farce. Es gilt schon zu unterscheiden. Nicht die Loslösung eines Gebiets muss ein Trauma darstellen, sondern das Verfahren dafür. Nicht Kleinstaaterei ist eine Gefahr für Europa, sondern ein Zustand permanenter Missachtung von europäischen Grundregeln und Grundwerten: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz, die Achtung kultureller Vielfalt.

Europa oder Sezession?

Die Frage ist deshalb falsch gestellt. Solange die Welt in Staaten aufgeteilt, gleichzeitig aber das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundrecht festgeschrieben ist, werden Staatsgrenzen in Frage gestellt und Staaten in ihrem Bestand verändert werden. Die Vereinigung bestehender Staaten (1990 BRD und DDR, in Zukunft vielleicht Albanien und Kosovo, Moldawien und Rumänien usw.) ist genauso denkbar wie die Bildung neuer Staaten wie Schottland, Katalonien und Flandern. Ein weiteres Beispiel ist Neu-Kaledonien, eine echte autonome Region Frankreichs (im Unterschied zu Korsika). Die nordöstlich von Australien gelegene Insel kann ab 2014 in einem Referendum über die Unabhängigkeit oder den Verbleib bei Frankreich entscheiden.

Mit Kleinstaaterei hat das nichts zu tun. Ein unabhängiges Katalonien wäre bevölkerungsmäßig an 18. Stelle von dann 48 Staaten Europas. Die USA haben 50 Staaten, davon einige so klein wie Südtirol oder Trentino-Südtirol. Auch die EU mit 28 Mitgliedern verträgt noch einige Mitgliedsländer mehr. Worauf es wirklich ankommt ist Demokratie und Rechtsstaat als Pfeiler eines europäischen Gemeinwesens. Wird eine Sezession verfassungsrechtlich und völkerrechtlich ermöglicht und rechtsstaatlich geregelt abgewickelt? Ist der Referendumsprozess demokratisch einwandfrei? Werden alle Vorkehrungen für den Schutz von Minderheiten getroffen? Ist das Konzept gemeinschaftlicher Selbstbestimmung bei ethnisch gemischten Gebieten anwendbar? Unter diesen Umständen kann sich auch in Europa eine Region von einem Staat im Konsens trennen und in einer anderen Form, der gemeinsamen Mitgliedschaft in der EU, genauso gut, aber halt gleichberechtigt zusammenarbeiten wie vorher. In diesem Fall ist Sezession als Änderung des völkerrechtlichen Status eines Gebiets kein Trauma mehr, sondern ein Vorgang wie etwa in der Schweiz die Bildung eines neuen Kantons (was auch schon erfolgt ist).

Zum Trauma wird Sezession, wenn sie mit der Brechstange oder eben mit militärischer Gewalt erzwungen wird. Es liegen Welten zwischen Schottland, Katalonien und den Vorgängen in der Ukraine: Die erzwungene Annexion der Krim, die Farce der Abstimmungen im Donetsk-Becken, die von Russland aufgerüsteten Separatisten, die sich gegen die staatliche Verfassung, Menschenrechte das Völkerrechts den Weg zur Abspaltung freischießen wollen — das hat nichts mit den demokratischen Bewegungen für Eigenständigkeit zu tun.

Die Staaten sitzen am längeren Hebel

Wir sind in Europa noch weit entfernt von einem “Europa der Regionen”, einem Wunschbild, das immer wieder beschworen wird. Denn in der EU spielen die Regionen als eigenständige Ebene von legislativer und exekutiver Gewalt immer noch eine zu geringe Rolle. Die erste Geige in der EU spielen die Nationalstaaten, während die Regionen weder Stimm- noch Vetorechte haben, sondern nur einen Ausschuss, der manchmal gehört werden muss. In einigen größeren EU-Mitgliedsländern gibt es gar keine Regionen mit Gesetzgebungshoheit, also keine regionalen Demokratien. In verschiedenen Staaten Autonomieforderungen, die nicht erfüllt werden. Selbst Katalonien hat 2006 mit großer Mehrheit seines Parlaments und einer Volksabstimmung ein neues Autonomiestatut gutgeheißen, das vom spanischen Staat in wichtigen Teilen abgelehnt worden ist. Über die daraufhin erfolgte Wende bei den größten katalanischen Parteien braucht sich Madrid nicht zu wundern.

Die EU wird von Staaten getragen und darf sich in deren inneren Aufbau gar nicht einmischen. Es liegt an den Staaten, die Macht mit unteren Ebenen zu teilen, die Macht näher zu den Bürgern in ihren regionalen Gemeinschaften zu bringen: durch Dezentralisierung, Föderalsysteme, echte regionale Autonomie und einen Ausbau des Minderheitenschutzes. Die Staaten haben es als erste in der Hand, Sezessionsbewegungen vorzubeugen. Je weniger sie das tun, desto eher werden radikalisierte Teile von kleineren Völkern und Minderheiten eben Sezession und Selbstbestimmung verlangen.

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Barroso & Scotland.
Quotation

Die grundsätzlich unionistisch eingestellte britische Zeitschrift The Economist in ihrer dieswöchigen Ausgabe über die neulichen Aussagen von EU-Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso:

On a visit to London last weekend, José Manuel Barroso, president of the European Commission, delivered an even harsher blow. He said it would be “extremely difficult, if not impossible” for Scotland to secure the agreement of the 28 other countries to join the EU. One reason, he added, was opposition from Spain, the most intransigent of the five EU members that still refuse to recognise the independence of Kosovo. Mr Barroso claimed he did not want to interfere in the Scottish debate but that is what he did—and he may have gone too far. As the man who runs the commission, he is entitled to set out his views of European law. But he should not judge the likelihood of a successful application, speak on behalf of Spain, or suggest that peaceful referendums in western Europe are equivalent to the violent break-up of a Balkan country. After all, the commission’s job is to assess accession applications impartially.

Der Autor des Artikels erklärt Barrosos Angst vor einer Abspaltung Schottlands unter anderem damit, dass dieser wohl befürchte, der EU-kritischere Rest des Vereinigten Königsreichs könnte (ohne Schottland) 2016 eher für einen Austritt aus der Union votieren.

Siehe auch ‹1 | 1› 2›

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Kosovo-Unabhängigkeit rechtmäßig.

Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag hat heute den Inhalt seines Rechtsgutachtens über die einseitige Unabhängigkeitserklärung des kosovarischen Parlaments Anfang 2008 bekanntgegeben. Das höchste Rechtssprechungsorgan der UNO befindet darin, dass Kosovo nicht gegen internationales Recht verstoßen habe, weil dieses unilaterale Unabhängigkeitserklärungen nicht verbiete. Der Präsident des Tribunals, Hisashi Owada, wies ausdrücklich darauf hin, dass das Urteil nicht bindend sei. Außerdem unterstrich er die Besonderheit des untersuchten Falles. Bis heute wurde Kosovo von 69 der 192 UNO-Mitgliedsländer (und 22 von 27 EU-Mitgliedern) anerkannt. Das Gericht gab heute seine Entscheidung bekannt, nachdem Ende 2009 die Argumente von über 30 befürwortenden und ablehnenden Ländern angehört worden waren. Nachdem Serbien vor dem IGH geklagt hatte, legitimiert dieses Urteil nun das Vorgehen Kosovos.

Der Internationale Gerichtshof ging auch auf die Resolution Nr. 1233 des UNO-Sicherheitsrates ein, die im Juni 1999 verabschiedet wurde und welche eine vorläufige Rechtsordnung festlegte, die dazu dienen sollte, die Stabilität in der Region herzustellen. Ein Teil dieser Resolution beauftragte die UNO damit, einen politischen Prozess anzustoßen, um den Status des Kosovo zu definieren. Das Gericht kam diesbezüglich zum Schluss, dass auch diese Resolution die Unabhängigkeit nicht berührt, da sie eine einseitige Unabhängigkeitserklärung nicht verbiete. Sie sei ausschließlich dazu gedacht gewesen, eine Verwaltungsgliederung innerhalb Kosovos zu schaffen. Deshalb stehe Resolution Nr. 1244 nicht im Widerspruch zur einseitigen Unabhängigkeitserklärung.

Außerdem kommt das Tribunal zum Schluss, dass im Falle einseitiger Unabhängigkeitserklärungen gemäß internationalen Rechts die “verfassungsmäßige” Legalität im von der Sezession betroffenen Staat weder bindend noch in irgend einer Form relevant sei. Diesbezüglich erinnerte Herr Owada daran, dass mehr als die Hälfte der heutigen 192 UNO-Mitgliedsländer vor einem halben Jahrhundert nicht existierten, und dass die Mehrheit der betreffenden Unabhängigkeitsprozesse nach dem Recht der von Sezession betroffenen Staaten nicht legal gewesen wären, weil zum Beispiel die innere Verfassungsordnung dagegen sprach.

Der heutige Entscheid des IGH könnte Neuheiten in diesen Rechtsbereich bringen, für den es kaum internationale Gesetzgebung oder Rechtsprechung gibt. Die Legitimierung der einseitigen Sezession des Kosovo könnte sich auf andere Unabhängigkeitsprozesse auswirken, nachdem dadurch eines der wichtigsten Gegenargumente der Staaten entfällt: Die Unantastbarkeit der Grenzen (territoriale Integrität).

Obwohl das Urteil im Falle Kosovos keine unmittelbaren Folgen hat — weil es niemanden dazu verpflichtet, Kosovo anzuerkennen — wird doch damit gerechnet, dass sich jetzt weitere Staaten dazu entschließen werden, diplomatische Beziehungen zum Balkanland aufzunehmen.

Kosovo hat seine Unabhängigkeit von Serbien am 17. Februar 2008 mit einer unilateralen Erklärung seines Parlaments verkündet. Vier Monate später beschloss Kosovo das Inkrafttreten seiner Verfassung. Damit übernahm die Regierung des Landes zahlreiche Zuständigkeiten eines souveränen Staates.

Neunundsechzig Länder (22 von 27 EU-Mitgliedern) anerkennen Kosovo offiziell, darunter die USA, Frankreich, Italien, Deutschland, Vereinigtes Königsreich, Belgien, Niederlande, Schweiz, Irland, Schweden, Island, Slowenien, Kroatien, Costa Rica, Österreich, Senegal, Estland, Dänemark, Lettland, Perù, Finnland, Japan, Kanada, Ungarn, Norwegen, Litauen, Kolumbien, Portugal, Montenegro, Australien, Tschechien und Bulgarien.

Von den 27 EU-Mitgliedsstaaten verweigern bis dato nur Griechenland, Zypern, Rumänien, Spanien und Slowakei eine Anerkennung.

Quelle: Racó Català
Übersetzung:

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