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Das Pferd von hinten aufgezäumt.

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Da plant jetzt die italienische Regierung, die Prozesse zu verkürzen. Und welche Maßnahmen ergreift sie: Vereinfacht sie die Gesetze? Beschleunigt sie Prozeduren? Reduziert sie die Bürokratie? Stellt sie zusätzliche Richter und Staatsanwälte ein oder werden neue Computer angeschafft? Nichts von alledem! Man beschränkt die Dauer eines Prozesses pro Instanz einfach auf zwei Jahre, nach deren Ablauf der Angeklagte wieder auf freien Fuß gesetzt, das Verfahren endgültig eingestellt wird. Das könnte absurd klingen, wenn man nicht genau wüsste, welche Absicht hinter dieser Maßnahme steckt. Um den einen Unantastbaren zu schützen, scheut man nicht davor zurück, das gesamte System auf den Kopf zu stellen, der Gerichtsbarkeit den Todesstoß zu versetzen und die Arbeit von Richtern und Staatsanwälten ad absurdum zu führen, indem man Kriminelle massenhaft in die Straffreiheit entlässt.

In Südtirol gibt es aber nach wie vor Zeitgenossen, die das italienische Justizsystem als eine Garantie für die Rechtssicherheit betrachten. Auch das könnte man unter Umständen absurd finden.

Siehe auch: 01



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Comentârs

4 responses to “Das Pferd von hinten aufgezäumt.”

  1. gadilu avatar
    gadilu

    Solo una domanda linguistica: il titolo è l’equivalente di “mettere il carro davanti ai buoi”?

  2. gadilu avatar
    gadilu

    Grazie. Bellissimo sito. Comunque era quello.

  3. Möhre avatar
    Möhre

    http://www.nzz.ch/nachrichten/international/italiens_justiz_unter_anklage_1.6509372.html

    Italiens Justiz unter Anklage
    Allmächtige oder heillos überforderte Richter im Land der ewigen Prozesse?

    In Italien dauern Prozesse ewig. Ministerpräsident Berlusconi lastet das Übel gerne der «Richter-Kaste» an, die ihn erst noch politisch verfolge. Tatsächlich sorgt nicht zuletzt auch die immense Prozessflut für eine Überforderung der Gerichte.

    Nikos Tzermias, Rom

    Ein Rechtsverfahren zur Durchsetzung einer Zahlungsforderung beansprucht in Italien im Mittel 1210 Tage und dauert damit dreimal so lang wie im OECD-Durchschnitt. Nach den Vergleichsdaten der Weltbank für 2009 arbeitet die italienische Justiz noch langsamer als jene in Ländern wie Gabon oder Guinea-Bissau. Allein Zivilprozesse vor der ersten Instanz beanspruchen in Italien normalerweise rund 1000 Tage. Für Verfahren bis zum Kassationsgericht sind in der Regel rund zehn Jahre erforderlich. Immer noch acht Jahre verstreichen gewöhnlich bis zum endgültigen Urteil bei Strafprozessen (die üblicherweise zweijährigen Ermittlungen eingeschlossen).

    Verletzte Menschenrechte

    Italien ist so häufig wie kein anderer Staat, nämlich in bereits rund 1100 Fällen, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen der exzessiven Dauer der Prozesse (Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK) verurteilt worden. In den letzten Jahren musste der italienische Staat mit stark steigender Tendenz bereits Dutzende von Millionen Euro Schadenersatz leisten. Im italienischen Justizbetrieb werden die Streitparteien aber nicht nur mit langen Wartezeiten auf die Folter gespannt. Vielfach warten die Kontrahenten gar vergeblich auf ein Verdikt.

    Täglich müssen in Italien fast 500 Verfahren wegen Verjährung eingestellt werden. Und nach einer Erhebung des Forschungsinstituts Eurispes (2008) werden nur gerade drei von zehn Gerichtsverhandlungen mit einem Urteil beendet. Die anderen Sitzungen müssen vertagt werden, wobei bei einem Viertel der Fälle Unterlassungen der Gerichte ausschlaggebend sind.

    Diese Missstände fördern offenkundig die Rechtsunsicherheit und unterminieren die abschreckende Wirkung, die von der Gesetzgebung und der Rechtsprechung ausgehen sollte. Das belastet auch das Investitionsklima, wie unlängst der erste Vorsitzende des italienischen Kassationsgerichts, Vincenzo Carbone, zu bedenken gab. Laut Carbone besteht auch das Problem, dass der Prozessstau zunehmend dazu missbraucht wird, sich den rechtlichen Verpflichtungen zu entziehen.
    Richter-Kaste unter Beschuss

    Die Krise der italienischen Justiz wird häufig der weitreichenden Autonomie und ungewöhnlichen Macht des Richterstandes angelastet. Laut dem im letzten Jahr bei RCS Libri erschienenen Bestseller «Magistrati, l’Ultracasta» des Journalisten Stefano Livadotti gehören die italienischen Richter und Staatsanwälte der mächtigsten Kaste der Republik an. Sie formierten nachgerade einen Staat im Staat. Unter vollständiger Ausklammerung der Meritokratie bezögen die gut 9100 «Unberührbaren» üppige Gehälter und Privilegien, und bei Fehlern hätten sie kaum ernsthafte Sanktionen zu befürchten. Dies dank dem in der Verfassung verankerten Selbstverwaltungsorgan der Richter, dem Consiglio Superiore della Magistratura (CSM, Oberster Richterrat).

    Genaugenommen werden sechzehn von vierundzwanzig Mitgliedern des Obersten Richterrates von der Gesamtheit der ordentlichen Richter und Staatsanwälte gewählt; sie vertreten dabei die verschiedenen Gruppen der Magistraten. Die anderen acht Ratsmitglieder werden vom Parlament bestimmt und müssen entweder Rechtsprofessoren oder Anwälte mit mindestens 15-jähriger Berufserfahrung sein. Darüber hinaus hat der Richterrat drei De-iure-Mitglieder, nämlich den Staatspräsidenten sowie den ersten Vorsitzenden und den Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts.

    Auch Ministerpräsident Berlusconi behauptet gerne, dass die Magistratur ein Staat im Staat sei und er selber seit Jahren von den «roten Roben» im Justizapparat politisch verfolgt und mit einem Verfahren nach dem andern angegriffen werde. Die Souveränität werde in Italien nicht mehr vom Volk und von den von ihm gewählten Vertretern, sondern von den Justizbeamten ausgeübt, monierte der Regierungschef unlängst an der Jahresversammlung der italienischen Hoteliers.
    Helden im Kampf gegen Mafia

    Die weitreichende Autonomie der italienischen Justiz wurde nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt. Sie war eine Reaktion auf das faschistische Regime, das die schon zuvor bestehenden Kontrollen über den Justizapparat weiter verschärfte und Sonder- wie auch Militärtribunale «zur Verteidigung der nationalen Sicherheit» einführte. Die neue Verfassung garantierte nicht nur die Unabhängigkeit der Richter, sondern auch der Staatsanwälte von äusseren Einflüssen. Letztere waren nicht mehr vom Justizminister abhängig. 1998 wurden die Untersuchungsrichter gar noch mit eigenen Polizeikräften ausgestattet, nachdem die Justizpolizei zuvor vom Innenministerium kontrolliert worden war.

    Ab Mitte der siebziger Jahre wurden als Antwort auf den Terrorismus und die Mafia auch die Ermittlungskompetenzen der Staatsanwälte stark ausgebaut. Beispielsweise ist seit 1992 das Abhören von Telefongesprächen und anderen Konversationen nicht mehr nur bei dringendem Tatverdacht, sondern auch schon vorsorglich zur Aufdeckung mafioser Machenschaften möglich.

    Die Staatsanwälte gewannen im Kampf gegen den Terrorismus und die Mafia viel Sozialprestige. Dutzende von Magistraten wurden Zielscheibe von Attentaten und mussten ihren mutigen Einsatz mit dem Leben bezahlen. Breite Unterstützung in der Bevölkerung fanden Anfang der neunziger Jahre auch die Ermittlungen einer Gruppe von Mailänder Untersuchungsrichtern gegen die korrupten Parteien und deren Politiker. Diese Verfahren führten zu einem vollständigen Zusammenbruch der Ersten Republik, und 1993 sah sich das Parlament unter dem Druck der öffentlichen Meinung gar zu einer empfindlichen Einschränkung der Immunität der Volksvertreter gezwungen.
    Exzesse der Justiz

    Die damaligen Korruptionsskandale schufen aber ein politisches Vakuum, das auch zu Exzessen vonseiten der Justiz und zu entsprechenden Verurteilungen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte führte, wie vor einiger Zeit auch Staatspräsident Napolitano zu bedenken gab.

    Der Rechtsprofessor, frühere Untersuchungsrichter und ehemalige Präsident des Abgeordnetenhauses Luciano Violante, ein Postkommunist, vertritt zwar in seinem neusten Buch, «Magistrati» (Einaudi), die Ansicht, dass die Unabhängigkeit der Justizbeamten insgesamt positive Resultate erbrachte, doch auch Schattenseiten aufgetreten seien. Italienische Staatsanwälte scheinen laut Violante manchmal geradezu politische Missionen zu verfolgen, statt sich auf Ermittlungen gegen konkrete Gesetzesverstösse zu konzentrieren. Auch liessen Magistraten manchmal die gebotene Nüchternheit und Diskretion gegenüber den Medien vermissen. Laut Meinungsumfragen geniessen die Richter heute auch bei der breiten Bevölkerung weniger Ansehen als noch zu Beginn der neunziger Jahre. Allerdings ist das Vertrauen in sie laut einer neuen Erhebung von Eurispes immer noch deutlich grösser als jenes in die Politiker, was eingedenk der politischen Dauerkontroverse um die Justiz beachtlich ist.
    Berlusconi als Hindernis

    Dass die italienische Justiz der Reform bedarf, ist offenkundig. Die Frage nach den angemessenen Checks and Balances und danach, wie die Judikative vom Sand in ihrem Getriebe befreit werden soll, ist jedoch sehr umstritten geblieben. Ein Durchbruch schien zwar 1998 in Griffweite, als eine für die Reform der Verfassung geschaffene und aus beiden Kammern des Parlaments zusammengesetzte Kommission mit grosser Mehrheit einen Text gebilligt hatte. Der Entwurf sah im Wesentlichen eine strikte Trennung der Laufbahnen von Richtern und Staatsanwälten, eine entsprechende Teilung der Selbstverwaltungsorgane, eine Hierarchisierung der Staatsanwaltschaft sowie einen speziellen Gerichtshof für Disziplinarverfahren gegen Justizbeamte vor.

    Der damalige Oppositionsführer Berlusconi kündigte dann aber plötzlich die Zusammenarbeit in der Kommission auf. Dahinter wurde zumeist die Befürchtung vermutet, dass ein Erfolg der «Bicamerale» vorab dem Regierungslager nützen würde. Eine Justizreform wurde seither aber vor allem auch durch die Interessenkonflikte und persönlichen Rechtsprobleme Berlusconis vereitelt. Dies umso mehr, als sich der «Cavaliere» als Regierungschef ständig darauf konzentrierte, mit massgeschneiderten Gesetzen für die Verjährung oder zumindest die Suspendierung der gegen ihn selber gerichteten Strafverfahren zu sorgen. Auch ist fraglich, ob es der von einem Skandal nach dem andern erschütterten Regierung bei ihrem neuen Gesetzesvorstoss zur strikteren Kontrolle der Abhörpraxis wirklich in erster Linie – wie sie behauptet – um den Schutz der Privatsphäre der Normalbürger geht.
    Heftige Reaktion der Politiker

    Der Konflikt zwischen der Politik und der Justiz scheint auch häufig von den Politikern und den Medien stark übertrieben zu werden, was eine Lösung des besonders gravierenden, alltäglichen Problems der exzessiven Prozessdauer zusätzlich erschwert. Violante weist in seinem Buch darauf hin, dass Politiker speziell heftig auf Ermittlungen der Justiz reagieren und die Staatsanwaltschaft in der Regel sofort der Parteilichkeit bezichtigen. Politiker fürchteten die Untersuchungen und den damit verbundenen Medienwirbel mehr als das in der Regel weit entfernt liegende Urteil.

    Die Effizienz des italienischen Justizbetriebs lässt gewiss in mancher Hinsicht zu wünschen übrig. Es liegt auf der Hand, dass die Richter ihre Privilegien möglichst zu verteidigen versuchen und sich dazu auch oftmals missbräuchlich auf die in der Verfassung garantierte Unabhängigkeit berufen. Auf ein beträchtliches Potenzial für organisatorische Verbesserungen weisen etwa die grossen Leistungsunterschiede zwischen den Gerichten verschiedener Gegenden hin.
    Eine mächtige Prozessflut

    Doch ist der Richterstand tatsächlich hauptverantwortlich für das Malaise im Justizwesen? Vergleichsdaten der European Commission for the Efficiency of Justice (Cepej), einer Expertenkommission des Europarates, lassen das bezweifeln. Diese Statistiken zeigen zum Beispiel, dass Italien einerseits relativ wenig Richter und Staatsanwälte zählt, doch anderseits unter einer weit überdurchschnittlichen Prozessflut leidet, die nicht zuletzt auch einem immer dichteren Gestrüpp von Gesetzen anzulasten sein dürfte.

    Auf 100 000 Einwohner entfallen in Italien 11 Richter gegenüber einem europäischen Mittelwert von 19,8. Demgegenüber wurden 2006 allein die italienischen Gerichte erster Instanz mit 2,83 Millionen neuen zivilrechtlichen Streitfällen überhäuft gegenüber 1,1 Millionen in Deutschland oder 1,69 Millionen in Frankreich. Erledigt wurden zwar 2,65 Millionen Fälle, doch stieg damit die Zahl der pendenten zivilrechtlichen Verfahren immer noch weiter, nämlich von 3,52 Millionen auf 3,69 Millionen. Und nach den neusten Daten des Justizministeriums in Rom waren Ende 2009 insgesamt, das heisst auf allen Instanzen, bereits 5,63 Millionen zivilrechtliche und 3,27 Millionen strafrechtliche Verfahren pendent.

    Da erstaunt es kaum mehr, dass es in Italien von Anwälten wimmelt. Auf einen Richter entfallen 26,4 Advokaten, während es in Deutschland oder Frankreich nur 7 Anwälte sind und in England gar weniger als 4.

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