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Grönländische Abgeordnete weigert sich Dänisch zu sprechen.

Die Abgeordnete zum dänischen Parlament (Folketing) Aki-Matilda Høegh-Dam hat kürzlich für Aufsehen gesorgt, weil sie eine sieben Minuten lange Rede ausschließlich auf Grönländisch gehalten hat. Die Vertreterin der sozialdemokratischen Siumut ist eines von nur zwei grönlandischen Mitgliedern des Folketings. Mit ihrem Engagement und der bewussten Konfrontation will sie auf die Minorisierung der Sprache aufmerksam machen und ihr mehr Würde und Gleichberechtigung verschaffen.

Grönländisch ist seit 2009 alleinige Amtssprache Grönlands und mit dem Dänischen nicht verwandt. In den Schulen der Insel ist Grönländisch Hauptunterrichtssprache, Dänisch wird nur als Fremdsprache gelehrt.

Høegh-Dam, die in Dänemark geboren und in Grönland aufgewachsen ist, will eigenen Angaben zufolge nicht weiter hinnehmen, dass sie im Folketing nicht die Sprache ihres Wahlbezirks sprechen darf. Dementsprechend folgte sie der Einladung des Parlamentsvorsitzenden nicht, ihre Stellungnahme wie in solchen Fällen üblich auf Dänisch zu wiederholen.

Die grönländische Partei Siumut setzt sich für die staatliche Unabhängigkeit der heute unter dänischer Hoheit stehenden Insel ein. Eine allfällige dahingehende Entscheidung will Dänemark respektieren.

Aki-Matilda Høegh-Dam (*1996), die zwei dänische und zwei grönländische Großeltern hat, ist die jüngste Abgeordnete zum Folketing. Im Alter von 15 Jahren wurde sie ehrenamtliches Mitglied des UNICEF-Projekts Nakuusa zur Unterstützung grönländischer Kinder.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5 ‹6

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Lokalwahl: Erdrutschsieg für Sinn Féin.
Nordirland

Zum ersten Mal überhaupt errang die irisch-republikanische Sinn Féin diese Woche bei Lokalwahlen in Nordirland die meisten Sitze — und ist somit sowohl im Landesparlament (seit 2022) als auch in den elf Verwaltungsbezirken stärkste Partei. Die jetzt erzielten Zugewinne sind spektakulär: von 23,2% in 2019 legte die Partei um gut ein Drittel auf 30,9% (+7,7 Punkte) zu. Die Anzahl ihrer Sitze erhöhte sich von insgesamt 105 um 39 auf nunmehr 144, womit sie die unionistische DUP (mit unverändert 122 Sitzen) deutlich hinter sich ließ.

Die sozialdemokratische Sinn Féin, die sowohl in Nordirland als auch in der angrenzenden Republik vertreten ist, tritt für die Wiedervereinigung der beiden Landesteile ein. Dass die Stimmung auch in der Bevölkerung in diese Richtung gekippt ist, bringen Beobachterinnen unter anderem mit dem Brexit und den langwierigen Verhandlungen um den Status von Nordirland in Verbindung. Zudem boykottiert die unionistische DUP seit den Wahlen zum Landesparlament vom Mai 2022 die Regierungsbildung und bringt somit — aus Protest gegen das Handelsabkommen mit der EU — faktisch die gesamte Landespolitik zum Erliegen. Die Macht, dies zu tun, verleiht ihr die besondere Gesetzeslage in Nordirland, die eine Zusammenarbeit zwischen unionistischen und republikanischen Kräften nach dem Konkordanzprinzip vorschreibt.

Bei den soeben abgehaltenen Lokalwahlen konnten die Kräfte, die eine Wiedervereinigung des Nordens mit Restirland wünschen, insgesamt 185 (+16) und die unionistischen Parteien 177 (-23) Mandate erringen.

Ein Plus von 14 Sitzen verzeichnete außerdem die liberale APNI, die fortan 67 Rätinnen stellt, während die Grünen in Nordirland1ein Ableger der irischen Grünen von 7 auf 5 (-2) Sitze schrumpften. Zur territorialen Zugehörigkeit äußern sich APNI und Grüne nicht, weil sie die Bevölkerung darüber in einem allfälligen Referendum frei entscheiden lassen möchten.

Als besonders überraschend strichen Medien und politische Beobachterinnen nicht nur das Ausmaß der Zugewinne der Sinn Féin hervor, das so nicht vorhergesagt worden war, sondern insbesondere die Tatsache, dass sie Durchbrüche auch in Gebieten verzeichnen konnte, in denen traditionell das unionistische Lager stark war.

Die Abstimmung über eine Wiedervereinigung mit dem Rest der Insel steht Nordirland übrigens aufgrund des sogenannten Karfreitagsabkommens zu.

  • 1
    ein Ableger der irischen Grünen
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UNO verurteilt Absetzung von Puigdemont.

Spanien hat die politischen Rechte des vorzeitig abgesetzten katalanischen Präsidenten Carles Puigdemont (JxC) verletzt. Dies entschied der UN-Menschenrechtsausschuss auf der Grundlage des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt).

Insbesondere sei gegen den zentralen Artikel 25 des Zivilpakts verstoßen worden, als Puigdemont im Juli 2018 nach seiner Wiederwahl ins katalanische Parlament seines Amtes als Abgeordneter enthoben wurde, als gegen ihn Anklage wegen Rebellion erhoben worden war.

Jeder Staatsbürger hat das Recht und die Möglichkeit, ohne Unterschied nach den in Artikel 2 genannten Merkmalen und ohne unangemessene Einschränkungen

  1. an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen;
  2. bei echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen, bei denen die freie Äußerung des Wählerwillens gewährleistet ist, zu wählen und gewählt zu werden
  3. unter allgemeinen Gesichtspunkten der Gleichheit zu öffentlichen Ämtern seines Landes Zugang zu haben.

– Artikel 25 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt)

In seiner Beurteilung weist der Ausschuss darauf hin, dass es in Artikel 25 um das Wesen der Demokratie geht, da er das Recht eines jeden Bürgers und einer jeden Bürgerin anerkenne und schütze, sich an der Ausrichtung der öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen, zu wählen und gewählt zu werden sowie Zugang zu öffentlichen Ämtern zu erhalten. Jede diesbezügliche Einschränkung müsse strenge Bedingungen erfüllen.

Im vorliegenden Fall sei der spanische Staat jedoch nicht in der Lage gewesen, vor dem Menschenrechtsausschuss die Konformität der Absetzung mit dem Zivilpakt nachzuweisen. Der ehemalige katalanische Präsident sei im Zuge der Anklageerhebung abgesetzt worden, also zu einem Zeitpunkt, als die Justiz seine etwaige Schuld noch gar nicht festgestellt gestellt haben konnte. Während eine derartige vorzeitige Amtsenthebung zwar grundsätzlich möglich sei, müssten in einem solchen Fall noch strengere Maßstäbe angelegt werden.

Doch die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme sei von der spanischen Justiz erst gar nicht überprüft worden, da die Absetzung als eine Art Automatismus mit dem Rebellionsvorwurf einherging.

Der Vollständigkeit halber sei hier zudem erwähnt, dass Puigdemont letztendlich wegen Aufruhrs verurteilt wurde und nicht wegen Rebellion. Hätte die Anklage von Anfang an auf Aufruhr gelautet, wäre es nicht zur Absetzung gekommen.

Vom Menschenrechtsausschuss, den die Vertragsstaaten als Instanz zur Überwachung des Zivilpakts und seiner Anwendung ausdrücklich anerkennen, wurde Spanien für die Verletzung der politischen Rechte von Puigdemont nun gerügt. Das Land muss jedoch ferner binnen 180 Tagen Maßnahmen ergreifen, um zu sicherzustellen, dass sich ein solcher Fall in Zukunft nicht wiederholen kann — und das Urteil der breiten Öffentlichkeit bekanntgeben.

Dass ein EU-Mitgliedsstaat so weit geht, wesentliche demokratische Grundrechte zu verletzen, um die Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung zu verhindern, ist eine rechtsstaatliche Sauerei.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5 ‹6

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Vierte Gewalt unter Kuratel.

Für die Demokratie ist ein funktionierender und unabhängiger öffentlich-rechtlicher Rundfunk von kaum zu überschätzender Bedeutung. Den italienischen — die Rai — leitet fortan mit Giampaolo Rossi ein direkter Vertrauensmann von Regierungschefin Giorgia Meloni (FdI), deren rechtsrechte Mehrheit seit Monaten an der Gleichschaltung der Medien gearbeitet hatte. Wichtige Persönlichkeiten haben die öffentliche Sendergruppe inzwischen unter zunehmendem Druck von Rechts verlassen und somit Platz gemacht für die unverhohlenen Ambitionen der neofaschistischen Regierung.

Wer ist der Mann?

Als FdI-Mitglied war der neue Generaldirektor der Rai, Giampaolo Rossi, federführend an der Organisation des Parteifests Atreju beteiligt. Zudem war er noch 2021 als Verfasser eines »konservativen Manifests« für den rechten römischen Bürgermeisterkandidaten Enrico Micchetti in Erscheinung getreten. Und bis 2018 schrieb er einen Blog für die Berlusconi-Zeitung il Giornale.

Regelmäßig schoss er sich, auch mit antisemitischem Vokabular, in Vergangenheit auf George Soros und seine Open Society Foundations ein. Vor dem ungarischen Philanthropen, aber auch vor der Neuen Weltordnung und der Umvolkung, so Rossi, könne Europa nur der autoritäre russische Präsident Wladimir Putin retten. Neben Feministinnen gehörten ferner auch Seenotretterinnen zu den Lieblingszielen seiner Verbalattacken, »Nigerianer und Gutmenschen« stempelte er zu »Abschaum«.

Als Verschwörungstheoretiker tat sich Rossi auch während der Corona-Pandemie hervor. Er outete sich als Impfgegner und beschimpfte den italienischen Staatspräsidenten Sergio Mattarella als »Dracula«, weil der sich für die Impfkampagne stark gemacht hatte.

Seit einer Reform von Matteo Renzi (PD) wurde ab 2016 der Einfluss des Parlaments auf die Rai zurückgedrängt — und der der Regierung gestärkt. Dies machen sich Meloni und ihre Spezln nun rücksichtslos zunutze, um neben Legislative und Exekutive auch die vierte Staatsgewalt unter ihre Kontrolle zu bringen. Wer die Berichterstattung kontrolliert, hat natürlich auch massiven Einfluss auf Interpretation und Rezeption der Regierungsarbeit.

Mit drin hängt freilich auch diesmal wieder Südtirol, das den eigenen öffentlichen Rundfunk nicht von der Rai entkoppeln wollte. Mehrere Landtagsabgeordnete — einschließlich Alessandro Urzì (FdI) — begründeten ihre damalige Gegenstimme übrigens damit, dass sie den politischen Einfluss auf den Sender gering halten wollten.

Siehe auch 1›

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Autorinnen und Gastbeiträge BBD

Wahlanalytiker Nicolini.

Der Grillino findet die Grünen kriegerisch, nicht aber Russland

Es mutet mehr als seltsam an, wenn Diego Nicolini (5SB) die Landtagswahlen von Bremen kommentiert. Seine Erkenntnis: Die pro-ukrainische Haltung der deutschen Grünen vertreibt die eigenen Wähler.

Der Landtagsabgeordnete der Cinque Stelle wird in seiner »Analyse« in der Neuen Südtiroler Tageszeitung noch deutlicher:

Das katastrophale Ergebnis der Grünen bei der Landtagswahl in Bremen ist auf ihre bedingungslose Unterstützung der Wiederaufrüstung und die deutlich kriegerischere Haltung ihres Bündnispartners bei der Lieferung von immer offensiveren Waffen in die Ukraine zurückzuführen.

Nicolini findet, die Grünen sind kriegerisch, für die Wiederaufrüstung, sorgen dafür, dass die Widerstand leistende Ukraine mit offensiveren Waffen hochgerüstet wird. Nicolini verliert kein Wort über den russischen Eroberungskrieg in der und gegen die Ukraine. Der Grillino tut so, als ob die Ukraine aggressiv wäre. Nicht der russische Kriegspräsident und seine kriminellen Oligarchen-Eliten, sein mafiöser Staat und seine marodierende Soldateska.

Nicolini folgt seinem Chef, Giuseppe Conte, auch er ein Russland-Versteher. Europaweit solidarisieren sich die Populisten, linke wie rechte, mit dem Putin-Staat. Russland, das Sehnsuchtsland radikaler Linker und Rechter? So scheint es zu sein.

Nicolini ortete noch einen weiteren Feind, der für diesen Krieg verantwortlich gemacht werden kann: die Rüstungsindustrie. »Während anfangs die Position, die Ukraine für die ungerechte Invasion, die sie erlitten hat, zu unterstützen, als moralisch vertretbar galt, scheint jetzt klar, dass die großen Interessen der Rüstungsindustrie dahinterstehen und pazifistische Positionen an den Rand drängen«, findet Nicolini.

Nicolini scheint von der Realität weit abgedriftet zu sein. Er findet, die westliche Rüstungsindustrie und ihre Profite stehen hinter den Waffenlieferungen an die überfallene Ukraine. Nicht die Notwendigkeit, der Ukraine gegen den russischen Eroberungskrieg beizustehen. Er erklärt sich zwar mit der Ukraine solidarisch, sie habe eine ungerechte Invasion erlitten, seine Formulierung lässt aber den Schluss zu, sie – die Invasion – sei schon vorbei. Offensichtlich vertritt Nicolini auch jene pazifistische Position, die zum Aufgeben rät, also freie Bahn für die russische Armee und für die Killer der Wagner-Gruppe.

In den frühen 1990er Jahren belegten die westlichen Staaten unter dem Applaus der Pazifisten das von serbischen Truppen überfallene Bosnien mit einem Waffenembargo. Bosnien konnte sich kaum wehren, die serbischen Eroberer vergewaltigten, vertrieben, ermordeten und dann herrschte Friedhofsruhe. Auf Kosten der Bosnierinnen und Bosnien.

Bosnien, für Nicolini und für die Russland-Versteher das Modell für die Ukraine? Ähnliches wurde bereits Israel empfohlen. Vor islamistischem Terror zu kuschen. Israel kümmert sich wenig um diese pazifistischen Empfehlungen.

Das Schräge an der Nicoloni-Analyse: Die Cinque Stelle wurden bei den jüngsten Gemeinde- und Regionalwahlen kräftig abgestraft. Weil sie etwa der Ukraine eine pax russa — ähnlich wie in Syrien — aufdrücken wollen?

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Grenzänderung als Lösung.
Boxing Pandora

Das katalanische Nachrichtenportal Vilaweb hat kürzlich ein Interview dem Autor des Buches Boxing Pandora (Yale University Press), Timothy William Waters, geführt. Der frühere Mitarbeiter des Internationalen Gerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien ist heute Professor und Forscher an der Maurer School of Law und stellvertretender Direktor des Center for Constitutional Democracy. In seinem Buch plädiert er für die Änderung von Grenzen und die Gründung neuer Staaten.

Status Quo und Gewalt

Die Büchse der Pandora zu öffnen sei gefährlich. Viele brächten Unabhängigkeitsbestrebungen mit Chaos und Gewalt in Verbindung. Waters’ These: das extakte Gegenteil ist der Fall. Die Beharrlichkeit, mit der die Büchse verschlossen, die heutigen Staaten unverändert gelassen werden, sei der wahre Grund für die Gewalt. Ließe man zu, dass sich Gemeinschaften friedlich umorganisieren, würden sich Chaos und Gewalt verringern. Das aktuelle System, wonach Grenzen nicht angerührt werden dürfen, sei zu hinterfragen, genauso wie die Auffassung, dass deren unveränderliche Beibehaltung die Welt stabilisiere.

In seinem Werk, so Waters im Interview, vertrete er den Standpunkt, dass die Unabhängigkeit nicht das Problem, sondern die Lösung sei. Natürlich gebe es eine Korrelation zwischen Independentismus und Gewalt — doch ersterer sei nicht die Ursache für zweitere. Das Problem sei hingegen der gewaltsame Widerstand gegen die Unabhängigkeit. Da wo es — wie in Kanada, Schottland oder Tschechoslowakei — ein Einvernehmen gegeben hat, sei es zu keiner Gewalt gekommen, obschon die Unabhängigkeit genauso wie andernorts im Raum stand. In Katalonien und anderswo sei es hingegen der Staat gewesen, der für Gewalt gesorgt habe. Im Kosovo seien die Unabhängigkeitsbefürworter:innen lange Zeit fast »ghandianisch« vorgegangen, in den 1980er Jahren. Gewalttätig seien sie wegen des Widerstands des Staates geworden.

Vorklassische und klassische Welt

Die heutige Welt (ab 1945) bezeichnet Waters als »klassisch«, jene von Woodrow Wilson als »vorklassisch«. Wilson habe noch die Ansicht vertreten, Grenzen sollten sich nach der Identität, nach der Ethnie richten. Seit dem Zweiten Weltkrieg herrsche hingegen die Auffassung vor, dass die Grenzen fix sind. Selbstbestimmen dürfe sich demnach nur die Bevölkerung der existierenden Staaten. Im Jahr 1945 sei das noch revolutionär gewesen, weil damit die Entkolonialisierung ermöglicht wurde — wobei jedoch die kolonialen Grenzziehungen beibehalten wurden. Wie radikal das auch ausgesehen haben möge, es sei sehr konservativ gewesen, da die Menschen nicht gefragt wurden, ob sie in den aufgezwungenen Grenzen zusammenleben wollen.

Die ursprüngliche Idee von Wilson und auch Lenin sei es gewesen, dass eine Gemeinschaft, die eine »Nation« darstellt, einen eigenen Staat haben darf. Das sei kompliziert, weil es auf dem Konzept der Ethnizität oder der »Rasse« beruhe. Die heute vorherrschende Idee — Selbstregierung im Rahmen bestehender Grenzen — sei aber das exakte Gegenteil von dem, was einst mit Selbstbestimmung gemeint war.

Remedial secession

Am Verständnis der Sezession als Notwehrrecht im Fall von schwerer Diskriminierung oder Unterdrückung kritisiert Waters, dass es nicht nur selten zur Anwendung kommt, sondern in der Regel auch »zu spät kommt« und »perverse Anreize« schafft. Gemeinschaften sollten nicht erst unabhängig werden dürfen, wenn es zuvor Tote oder Krieg gegeben hat.

Ghandis Weg sei intelligent und human gewesen, habe jedoch auf die Tatsache setzen können, dass das britische Empire zwar in vielerlei Hinsicht brutal, die damalige britische Gesellschaft aber offen, human und liberal war und keine gewaltsamen Konflikte wollte.

Mögliche Lösung

Waters schlägt vor, das derzeitige, viel zu starre Modell zu überwinden. Eine Rückkehr zu Wilson sei nicht sinnvoll, denn der politische Wille solle wichtiger sein als die Ethnie. Seiner Meinung nach wären deshalb Referenda die ideale Lösung. Außerdem empfiehlt er eine pragmatische Schwelle von einer Million Einwohner:innen — »es könnten aber auch zwei, fünf oder eine halbe Million sein« — um absurden Forderungen von Einzelpersonen, die unabhängig werden wollen, vorzubeugen. Eine Mehrheit von über 50% könnte reichen, um einen neuen Staat zu gründen, eine »Supermehrheit« von 70% wäre aber natürlich besser.

Kaskadenreferenda

Teile einer Region, die unabhängig wird, könnten wiederum Gegenabstimmungen abhalten, um beim alten Staat zu verbleiben. Und Teile von Gebieten, die beim alten Staat verbleiben wollen, könnten dann erneut Abstimmen, um sich doch dem neuen Staat anzuschließen. Damit, so Waters, käme es zu Grenzziehungen, die der Realität besser entsprechen. An den Grenzen zwischen Deutschland und Polen sowie Österreich und Jugoslawien habe es so etwas in Ansätzen bereits nach dem Ersten Weltkrieg gegeben.

Ausblick

Kurz- und mittelfristig, denkt Waters, werde es auf breiter Ebene nicht zu den erwünschten Änderungen kommen. Die Vereinten Nationen würden sich seinen Vorschlag wohl (noch) nicht zueigen machen. Es gehe aber darum, die Debatte zu führen und den demokratischen Willen der Menschen zu respektieren. Um solche Grundwerte gehe es und man müsse Druck ausüben, damit die etablierten Staaten demokratische Wünsche ernster nehmen.

Siehe auch ‹1 ‹2 ‹3 ‹4 ‹5

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Autorinnen und Gastbeiträge

Gatterers Geist lebt.

Der gebürtige Südtiroler Journalist Claus Gatterer stößt noch immer Engagement an

Claus Gatterer machte sich als ORF-Journalist einen Namen, mit seinem Magazin teleobjektiv. Sein Journalismus war parteiisch, für die Menschen, für die Ausgegrenzten und Diskriminierten. Gatterer ließ die »Stummen« und »Verstummten« zu Wort kommen, miserabel bezahlte Arbeitende, Rechtlose, Angehörige der minderheitlichen nationalen Volksgruppen in Österreich.

Der gebürtige Südtiroler war einst Mitarbeiter der SVP, beschäftigte sich als Historiker mit den vielen Minderheiten in Italien, wurde in Österreich zum ausgewiesenen Fachmann für Minderheiten. Gleich mehrere österreichische Regierungen holten seine Ratschläge ein. Ob sie umgesetzt wurden? Wohl eher nicht.

Der 1984 verstorbene Gatterer und sein Journalismus wirken immer noch nach. Dafür sorgte auch der österreichische Journalistenclub, später der Journalistenclub Concordia mit dem Prof. Claus-Gatterer-Preis für sozial engagierten Journalismus. Inzwischen gibt es für den »Nachwuchs« den Claus-Förderpreis.

Für die 24-jährige slowenischsprachige Ana Grilc aus dem österreichischen Bundesland Koroška/Kärnten ist Gatterer zweifelsohne ein journalistischer Bezugspunkt. Die junge Literatin machte mit ihrem Erstlingswerk Wurzelreisser:innen auf sich aufmerksam, politisch als Vorsitzende des Klubs slowenischer Studentinnen und Studenten in Wien/Dunaju. Ana Grilc schreibt für die slowenische Wochenzeitung Novice, in der burgenländisch-kroatischen Zeitung Novi Glas widmete sie Claus Gatterer einen engagierten Artikel, Herr Gatterer im Schatten der Karawanken.

Daraus einige Auszüge:

Journalismus wird Widerstand

In gewissen Kreisen Koroška/Kärntens sagt man, man solle um Widerstandsgeist oder Journalismus zu lernen, ins Baskenland/Euskadi oder zu den Südtiroler:innen reisen. Dies ist kein Zufall, denn aus Sexten/Sesto erhob sich einst ein Vorreiter des bi- und interkulturellen Feldes, eine Journalistenlegende, die neue Maßstäbe im Umgang mit vulnerablen sozialen Gruppen setzte – und das im nationalen österreichischen Fernsehen: Claus Gatterer.

– Ana Grilc

Für Gatterer waren die Kärntner Sloweninnen und Slowenen eine Herzensangelegenheit, wundert sich fast Ana Grilc:

Er berichtet über die schlechten Lebensbedingungen ethnischer Minderheiten und deren Ausgrenzung in Österreich, nimmt sich einer internationalen Perspektive an, schockt den deutschsprachigen Raum mit der Aussage, es gäbe 38 Millionen Minderheitenangehörige in Europa.

– Ana Grilc

Parteiischer Gatterer

Gatterer berichtet solidarisch, ja — nochmals — parteiisch, über die nationalen Minderheiten, in Österreich als Volksgruppen definiert. Gatterer wuchs als ausgegrenzter deutschsprachiger Südtiroler im italienischen Faschismus auf. »Dass ich selber ein Angehöriger einer Minderheit und als solcher drangsaliert wurde, als solcher wirklich ein Fremder in der Heimat war, weil ich in der Schule nicht einmal Deutsch lernen konnte und die Verweigerung der Muttersprache ist ja ein wesentliches Element jeder Entfremdung, trägt bei mir dazu bei, dass ich vielleicht ein besonders offenes Ohr habe für Anliegen für Minderheiten,« erklärte Gatterer seine Minderheiten-Solidarität.

»Aus den eigenen Repressionserfahrungen«, schreibt Grilc, »formt er Empathie und kämpft für das Erstellen und Bestehen minoritärer Allianzen.«

Ana Grilc stellt fest, dass das Reden über Minderheiten in Österreich noch immer notwendig ist, besonders in Kärnten/Koroška zeitlos bleibt. »Antislowenismus grassiert noch immer im Lande. 2022 Jahr organisierten die Studierendenvereinigungen KSŠŠD (Klub slovenskih študentk in študentov na Dunaju), KSŠŠK (Klub slovenskih študentk in študentov na Koroškem) sowie der Schüler:innenverband KDZ (Koroška dijaška zveza) den Minderheitenaktionstag M.A.D., um auf die Geschichte sowie die Folgen des Ortstafelsturms (1972) aufmerksam zu machen. Von den Demoschildern der Jugendlichen prangt noch immer aphoristisch Gatterers Argumentation zu der Legimität der Minderheitenrechte. Nach dem Credo: Haček tuat nit weh. Eine weitere Parallele besteht in der Reaktion der Mehrheitsbevölkerung auf die Forderungen basaler Rechte durch Minderheiten,« klagt Grilc den weitverbreitenten Antislowenismus an.

Slowenisierung von Koroška/Kärnten?

Schon 1975 geißelte Claus Gatterer in der Diskussionsrunde Fremde in der Heimat die österreichische Minderheitenpolitik. Für ihn keine Politik für die Minderheiten, sondern dagegen. Eine respektlose Politik: »Seit Abschluss des Staatsvertrages (damit wurde Österreich 1955 von den Besatzungsmächten USA, SU, Frankreich und GB in die staatliche neutrale Unabhängigkeit entlassen) und seit dem Schulkampf (die Zerschlagung der zweisprachigen Schule) haben die Deutschkärntner eine neue Linie gefunden, die recht geschickt ist. Sie fühlen sich durch die Minderheit bedroht, obwohl diese Minderheit so minimal und klein ist, sie sehen die Gefahr eine Slowenisierung Südkärntens, die überhaupt nicht gegeben ist und die Gefahr könnte auch nicht gegeben sein, wenn die Ortstafel (zweisprachig deutsch-slowenisch) dort stünde, und mit dieser larmoyanten Aggressivität appellieren sie an das Mitleidsgefühl der restlichen Österreicher und auch des deutschsprachigen Auslandes.«

Diese Analyse ist noch immer gültig. Beim jüngsten Landtagswahlkampf in Kärnten/Koroška hetzten die Freiheitlichen ungeschminkt gegen die slowenische Minderheit. Der folgende Stimmenzuwachs ließ die Rechtsradikalen zur zweitstärksten Partei werden.

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Verdrossen oder zufrieden?
Quotation

Überall in Europa nimmt die Wahlbeteiligung ab und die Politikverdrossenheit zu. Woran krankt die Politik?
Ich würde das eine nicht mit dem anderen vermischen. Eine geringe Wahlbeteiligung ist nicht zwingend gleichbedeutend mit Politikverdrossenheit. Sie kann — ganz im Gegenteil — auch bedeuten, dass die Menschen zufrieden sind mit dem Status quo. Zufriedene sind erfahrungsgemäß schwieriger zu mobilisieren als Unzufriedene.

Wer nicht wählen geht, ist tendenziell zufrieden?
Nein, so lässt sich das auch nicht sagen. Menschen können die Wahlurnen aus Zufriedenheit genauso fernbleiben wie aus Verdrossenheit. Die Wahlbeteiligung taugt nicht als Qualitätsmerkmal einer Demokratie. Ich halte eine Wahlenthaltung von bis zu einem Drittel für nicht problematisch, unter einer Bedingung: Sie darf sich nicht stark nach sozio-demografischen Gruppen unterscheiden.

Die jüngeren Generationen sind nicht weniger politisch, suchen sich aber andere Wege. Zum Beispiel protestieren sie auf der Straße, weil sie davon ausgehen, so mehr bewirken zu können.

Auszüge aus einem Interview von SWZ-Chefredakteur Christian Pfeifer mit der Politik- und Rechtswissenschafterin Kathrin Stainer-Hämmerle (erschienen in Ausgabe Nr. 17/23).

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