Nach fast einem Jahr seit deren Hinterlegung, hat sich das italienische Verfassungsgericht am 31. Oktober zu den Rekursen mehrerer Regionen (Aoûta/Aosta, Friûl/Friaul-Julien, Sardigna und Sizilien) geäußert, welche ihre Autonomiestatute durch Maßnahmen der Zentralregierung verletzt sahen. Speziell ging es um das Stabilitätsdekret vom 13. August 2011, mittels dessen die Mehreinnahmen aus Steuererhöhungen und neuen Steuern ausschließlich dem Staat vorbehalten wurden, obwohl die Regionalverfassungen vorsehen, dass gewisse Anteile (zwischen 60 und 100%) vor Ort bleiben.
Die Richter orteten eindeutige Vertragsverletzungen und folgten somit nicht der Verteidigungslinie der Zentralregierung, die sich auf höherstehende Koordinierungsbefugnisse, nationales Interesse oder Sparzwänge berief und zudem behauptete, die Maßnahmen beschnitten die Finanzen der Regionen nicht, da sie nur Einnahmen beträfen, die über die bisherigen hinausgehen.
In einigen Punkten wies das Gericht die Rekurse der Regionen ab, gab den Einbringern aber de facto auch dort Recht, indem es sich auf Artikel 19 des angefochtenen Dekrets berief: Dort ist festgehalten, dass die Maßnahmen in Einklang mit den jeweiligen Autonomiestatuten anzuwenden seien. Die Richter verzichteten nicht darauf, die Zentralregierung zu belehren, wie die nicht verfassungswidrigen Teile des Dekrets auf die Sonderautonomien anzuwenden seien.
Die durch das Urteil entstehenden Ansprüche der vier Regionen werden auf mehrere Milliarden geschätzt. Nun bleibt jedoch zu sehen, ob die Zentralregierung einlenkt oder ob sie versucht, das Urteil auszusitzen bzw. zu umgehen. Sie hätte sogar die Möglichkeit, eine einseitige Abänderung der Autonomiestatute in Gang zu setzen, wofür sie wenigstens auf dem Papier die erforderliche Parlamentsmehrheit hätte. Wenn Abgeordnete aus den betroffenen Regionen ausscheren, stehen die Chancen jedoch schlecht.
Südtirol ist vom Urteil zwar nicht direkt betroffen, der Richterspruch dürfte jedoch bereits das Ergebnis eines ähnlich gelagerten Einspruchs unserer Region vorwegnehmen. Auch in unserem Fall hat die Regierung in Berufung auf das Spardekret Millionen an Mehreinnahmen geschluckt, ohne sie der Regel zu unterziehen, dass 9/10 dem Land zustehen.
Das Urteil ist zwar beruhigend, es beweist jedoch, wie zerrüttet das Verhältnis Roms zu den Autonomien ist:
- Der Zentralstaat scheint nicht gewillt, eingegangene Verpflichtungen von sich aus zu respektieren oder gar die Lokalautonomien als gleichberechtigte (Verhandlungs-)Partner zu akzeptieren.
- Dass politische Gespräche (so sie überhaupt stattfinden) nirgendwo hinführen und ständig Gerichte angerufen werden müssen — nicht um die Auslegung zweifelhafter Normen, sondern die Einhaltung eindeutig formulierter Vorschriften einzufordern — spricht Bände. In der Schweiz oder in Deutschland wäre es unvorstellbar, dass Kantone und Bundesländer gegen den Bund prozessieren müssen, um die Einhaltung ihrer Rechte zu erzwingen.
- Allein diese Konflikte binden Jahr für Jahr viel politische Energie und kosten den Steuerzahler Millionen.
- Dass sich derzeit fast alle italienischen Parteien mit zentralistischen Vorstößen überbieten und Mario Montis Vertragsverletzungen größtenteils mittragen, ist äußerst besorgniserregend.
- Überall dort, wo es keine verfassungsrechtliche Absicherung gibt und Rom am längeren Hebel sitzt, darf für die Zukunft wohl keine institutionelle Rücksicht mehr erwartet werden.
- Ein zusätzlicher Ausbau der Autonomie, wie er von einigen einheimischen Akteuren gefordert und für notwendig erachtet wird, ist in weite Ferne gerückt. Ohne internationale Absicherung wäre er auch jederzeit wieder rücknehmbar.
Siehe auch: 01
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