Eine Person, die die Einführung der mehrsprachigen Schule in Südtirol befürwortet, hat mir kürzlich via Facebook das Buch Lernen in der Fremdsprache – Grundzüge von Immersion und bilingualem Unterricht von Henning Wode (1995) empfohlen. Darin wird tatsächlich sehr differenziert, meinem Eindruck nach in manchen Punkten auch widersprüchlich, analysiert, unter welchen Umständen eine mehrsprachige Schule gut funktionieren kann. Insbesondere wird auch auf die Situation von Minoritäten und Majoritäten eingegangen.
Einige Auszüge:
Je größer die Gruppe der Sprecher einer Sprache, umso stärker ist der Sog bzw. Zwang für Sprecher einer anderen Sprache, sich bei Kontaktsituationen der Sprache der größeren Gruppe zu bedienen.
– Henning Wode
Die dominante Gruppe wird als Majorität bezeichnet, die nichtdominante als Minorität oder Minderheit. Abgesehen von Eroberung oder Kolonialisation, ist erstere in der Regel zahlenmäßig stärker als die Minderheit, besetzt vorrangig die Macht- und Führungspositionen in Staat und Wirtschaft; und die Sprache der Majorität ist meist auch die Nationalsprache des Staates.
– Henning Wode
Hervorhebung von mir
Welche Sprache zwischen Deutsch und Italienisch sich bei Kontaktsituationen meist durchsetzt, nämlich zweitere, ist erforscht (01
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).
Und dass es sich bei Südtirol um eine Eroberung — wenn nicht um Kolonialisation (01
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) — handelt, dürfte unstrittig sein. Das erklärt, warum die Sprachminderheit (laut obiger Definition) hierzulande zahlenmäßig in der Mehrheit ist und trotzdem eine Minorität darstellt.
[Es] hat sich die Unterscheidung von Lambert 1984 zwischen additivem und subtraktivem Bilingualismus bewährt. Mit additivem Bilingualismus ist gemeint, daß Schüler zusätzlich zu ihren L1 Fähigkeiten in der L2 erwerben, ohne daß ihre Kompetenz in der L1 geschmälert wird. Bei subtraktivem Bilingualismus hingegen lernen die Kinder zwar bis zu einem gewissen Grade eine L2, jedoch wird dadurch ihre L1-Entwicklung entweder gehemmt, oder bereits vorhandene L1-Fähigkeiten verkümmern wieder. Im Extremfall können solche Schüler in beiden Sprachen semilingual in dem Sinne sein, daß sie zwar zwei Sprachen sprechen, aber keine wirklich gut.
– Henning Wode
Auf die Unterscheidung zwischen additivem und subtraktivem Bilingualismus waren wir hier bereits eingegangen, unter anderem mit Bezug auf Forschungsergebnisse von 2021. Insbesondere auch bei Sprachminderheiten ist die Gefahr von subtraktivem Bilingualismus vorhanden. Laut Wode gibt es Möglichkeiten, um dem entgegenzuwirken.
Swain/Cummins 1986 bieten einen kritischen Überblick seit Peal/Lambert. Sie nennen eine Reihe von Faktoren, die die positive oder negative Wirkung von Mehrsprachigkeit bestimmen.
Dazu gehören: Die Zugehörigkeit der Kinder zu einer Minorität oder Majorität; das Prestige und der Status, den die L1 und L2 in der Familie und in der Gemeinschaft genießen; der sozio-ökonomische Status der Kinder bzw. ihrer Familien; sowie die Art des Unterrichts. Swain/Cummins heben hervor, daß die positiven Ergebnisse in der Regel bei Majoritätenkindern festgestellt wurden, die negativen bei Minoritätenkindern. Wenn die Kinder, ihre Familien und die Sprachgemeinschaft eine positive Einstellung zur L1 und L2 haben, wenn beide Sprachen ein hinreichendes Prestige genießen und aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen nützlich sind, ergeben sich in der Regel positive Ergebnisse. Günstig sind die Auswirkungen von Mehrsprachigkeit meistens bei Kindern aus höheren sozio-ökonomischen Schichten, weniger günstig bei Kindern aus niederen.– Henning Wode
Hervorhebung von mir
Letzteres finde ich besonders interessant und aufschlussreich. Es ist ein Aspekt, der in Südtirol selten bis gar nicht thematisiert wurde — doch die mehrsprachige Schule könnte nicht nur ein Problem für die Minderheitensprachen (und somit für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit) werden, sondern auch den Graben zwischen »sozio-ökonomischen Schichten« vertiefen und zur Eliteschule werden. Dieser Vorwurf steht im Mutterland der Immersion, Kanada, schon lange im Raum und wir sollten uns vielleicht auch deshalb fragen, ob ein solches Modell im Rahmen des öffentlichen Schulsystems Platz haben soll.
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