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Zweisprachige Schule (II).
Individuum und Gesellschaft

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Seit vielen Jahren wird in Südtirol verstärkt die zwei- oder mehrsprachige Einheitsschule bzw. die zwei- oder mehrsprachige Schule als Zusatzangebot zu den bestehenden muttersprachlichen Modellen gefordert. In erster Linie sind die Eltern um diesen Dammbruch bemüht, das Südtiroler Sprachbarometer 2014 (Astat) legt sogar nahe, dass eine breite Mehrheit der Gesamtgesellschaft diese Umstellung wünscht. Unklar bleibt jedoch, welches Modell dabei angestrebt wird.

Grundsätzlich erscheint eine Schule, in der beide Sprachen »gleichermaßen« als Unterrichtssprachen dienen, ein erstrebenswertes Modell. Die Vorteile einer hohen Kompetenz in mehreren Sprachen können für die Einzelne kaum überbewertet werden. Welch positive Auswirkungen ein Schulsystem auf »Immersionsbasis« für die Schülerinnen haben kann, ist längst erwiesen.

Was jedoch in einem einsprachigen Kontext (in Deutschland oder Frankreich, ja auch in Trient oder Innsbruck) bedenkenlos umgesetzt werden kann, da mehrsprachige und Immersionsschulen in ein sprachlich klar definiertes Umfeld gebettet sind, kann in einem mehrsprachigen Gebiet wie Südtirol, das im nationalen Kontext des italienischen Staates eine sprachlich-kulturelle Sonderrolle einnimmt, zu Spannungen führen und das Risiko der gesellschaftlichen Assimilierung in sich bergen.

Über kurz oder lang wird die mehrsprachige Schule, falls sie eingeführt wird, wohl kaum nur auf ein »Zusatzangebot« beschränkt bleiben. Kaum jemand wird sich diesem Schulmodell entziehen können, sobald es existiert, denn Eltern, die ihren Nachwuchs in eine Schule des heutigen, »alten« Modells schicken, nimmen dann eine Benachteiligung ihres Kindes im Vergleich zu anderen billigend in Kauf — sowohl in der Gesellschaft, als auch bei der Arbeitssuche. Die »einsprachig« deutsche und italienische Schule nach heutigem Modell blieben dann voraussichtlich Horte nationalistischer Hitzköpfe, wo Eltern auf Kosten ihrer Kinder Politik betreiben. Eine möglichst gute Vermittlung der »Zweitsprache« wäre dort wohl kaum noch Hauptziel, haben sich die Eltern doch ausdrücklich gegen eine mehrsprachige Schullaufbahn entschieden.

Falls aber mehrsprachige Schulen Aufnahmetests durchführen würden, um die Überforderung weniger gut vorbereiteter oder schlechter talentierter Kinder zu vermeiden, ist mit einer sprachlichen Mehrklassengesellschaft zu rechnen, in der einige vom öffentlichen (!) Schulsystem mit besseren Voraussetzungen fürs Leben ausgestattet werden, als andere. Auch dies wäre wohl kaum wünschenswert.

Eine Umstellung des Schulsystems darf jedenfalls nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Wer von den unzweifelhaften Vorteilen der Immersion fürs Individuum undifferenziert auf ebenso große Vorteile für die Gesamtgesellschaft schließt, nimmt eine Abkürzung, die unter Umständen in eine Sackgasse ohne Wendemöglichkeit führen könnte.

Die Folge eines mehrsprachigen öffentlichen Schulmodells kann (zunächst) nichts anderes sein, als eine durch und durch mehrsprachige Gesellschaft. Ein Idealzustand für ein Land wie Südtirol, wo mehrere Sprachen beheimatet sind. Ein Idealzustand jedoch, der ohne die nötigen Vorkehrungen das Risiko in sich birgt, zumindest eine Sprache endgültig auszulöschen. Heute gibt es hierzulande ein in seiner Art zwar verbesserungswürdiges, jedoch sehr fein austariertes Gleichgewicht zwischen den Sprachen, das mit einem neuen Schulsystem schnell aus den Fugen geraten kann.

Weltweit sind durch und durch mehrsprachige Gesellschaften — wo also die Mehrsprachigkeit der Gesamtheit auch einer völligen Mehrsprachigkeit jeder Einzelnen entspricht — eine winzige Ausnahme, die über längere Zeiträume kaum aufrecht zu erhalten ist. Bereits wenn zehn perfekt Mehrsprachige an einem Tisch beisammensitzen, wird sich aus Bequemlichkeit und Rationalität in kürzester Zeit eine der von allen beherrschten Sprachen zu Lasten der anderen durchsetzen. Aus welchem Grund sollte eine ganze Gesellschaft im Alltag den Aufwand betreiben, mehr als eine Sprache aktiv zu benutzen, wenn sämtliche Mitglieder (zumindest) eine dieser Sprachen perfekt beherrschen? Im Falle einer Minderheit in einem Nationalstaat scheint dies sogar unmöglich. Und auf welcher Grundlage sollte man noch sprachliche Sonderrechte einfordern, wenn sämtliche Bürgerinnen auch die Staatssprache auf muttersprachlichem Niveau beherrschen?

Risikomanagement

Wir haben in Südtirol einen großen Schatz, den man »gesellschaftliche Mehrsprachigkeit« nennen könnte. Dieser Schatz resultiert heute aus einer unvollkommenen »individuellen Mehrsprachigkeit«, die es deshalb attraktiv macht, auch im Alltag mehr als eine Sprache zu verwenden. Auf Dauer mag diese Situation manchen nicht befriedigend scheinen, da sie einem besseren gesellschaftlichen Zusammenhalt im Weg steht.

Aber: Wir haben eine einigermaßen gesunde Patientin — und eine sofortige Behandlung, durch die wir jedoch ihren vorzeitigen Tod riskieren. Wollen wir tatsächlich Hand anlegen? Oder sollten wir vielmehr zuerst die Risiken minimieren?

Die beste Voraussetzung für die Zusammenführung der gesellschaftlichen und der individuellen Mehrsprachigkeit wäre wohl die staatliche Unabhängigkeit; nicht die Unabhängigkeit per se, sondern eine speziell auf Kohäsion und Inklusion bedachte, konstitutiv auf Pluralismus ausgerichtete Version. Eine Sofortlösung könnte man hingegen bedenkenlos unterstützen, wenn es eindeutige Zeichen gäbe, dass sie glücken würde.

Eine mögliche Alternative im Rahmen des Nationalstaats wäre das katalanische Modell, das ein hohes Maß von gesellschaftlicher und individueller Mehrsprachigkeit mit einem starken gesellschaftlichen Zusammenhalt vereint. Der Dreh- und Angelpunkt dieses Modells ist eine Einheitsschule mit »Content and Language Integrated Learning« (CLIL) und einer stark asymmetrischen Sprachgewichtung zugunsten des Katalanischen, also der nicht-nationalen Sprache. Die Einsicht, die katalanische und kastilische Eltern bzw. Politikerinnen eint, ist die, dass die Asymmetrie einem Kippen innerhalb des spanischen Nationalstaats (Kippen zugunsten der spanischen »Staatssprache«) am besten verhindern kann, da auf regionaler Ebene dem staatlichen Ungleichgewicht entgegengesteuert wird.

Diese Art der Sprachpolitik beschränkt sich jedoch nicht auf die Schule, sondern zielt darauf ab, eine tatsächlich mehrsprachige Gesellschaft durch eine tatsächliche Asymmetrie »im Kontext« zu unterstützen. Katalonien hat eine offiziell definierte Landessprache (Katalanisch). Im Autonomiestatut ist zwar auch die kastilische Sprache als Amtssprache definiert, eine Ungleichbehandlung (»affirmative action«, also positive Diskriminierung) ist jedoch erlaubt und ganz im Sinne der Wahrung eines faktischen Gleichgewichts.
Das Südtiroler Autonomiestatut nach dem Proporzmodell erlaubt hingegen kein solches Korrektiv: Die beiden gleichgestellten Sprachen sind immer und überall gleich zu behandeln. Im Zweifelsfall, auch dies belegt das Sprachbarometer, geht dies eher zu Lasten der Minderheitensprachen. Eine Politik, die schnell und flexibel auf Fehlentwicklungen reagieren kann, ist damit nahezu ausgeschlossen.

Eine asymmetrische — behutsam an hiesige Verhältnisse angepasste — Gesamtlösung nach katalanischem Vorbild wäre wahrscheinlich ein guter Wegbereiter für die eventuell anzustrebende Unabhängigkeit und Schaffung einer durch und durch »idealen«, also auch auf individueller Ebene mehrsprachigen Gesellschaft. Ohne den nötigen Sicherheitsabstand zu jedem Nationalstaat (und dazu gehört im Rahmen der Autonomie als absolute Mindestvoraussetzung die primäre Zuständigkeit für Schule und Bildung) sind aber undifferenzierte Abkürzungen abzulehnen.

Dieser Text ist die aktualisierte und erweiterte Fassung eines älteren Blogbeitrags und ist in ähnlicher Form in der POLITiS-Publikation »Mehr Eigenständigkeit wagen – Südtirols Autonomie heute und morgen« erschienen.

Siehe auch: 01 02 03 04 || 01 02 03 04 05



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Comentârs

2 responses to “Zweisprachige Schule (II).
Individuum und Gesellschaft

  1. @schierhangl avatar
    @schierhangl

    Das Thema ist also nicht Schule sondern plurale Gesellschaft.
    Wenn ich richtig verstehe würde es also
    um eine verfassungsmässige Verankerung der Prinzipien Kohäsion und Inklusion die Basis für ein derartiges Modell bieten. Also müsste auch eine deutschsprachige Rede eines Südtiroler Parlamentariers in Rom möglich werden?

  2. Simon avatar

    Senator Francesco Palermo (PD/SVP) hat im Senat eine Initiative zur Abänderung des Autonomiestatuts im Bereich der Schule vorgelegt. Ein Text ist derzeit nicht abrufbar.

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