In Cymru (aka Wales) kann und soll offen über die möglichen Zukunftsszenarien — einschließlich Eigenstaatlichkeit — diskutiert werden. Hierzu rief die nicht separatistische Labour-Regierung des Landes vor einigen Jahren die Unabhängige Kommission über die konstitutionelle Zukunft von Cymru ins Leben, die 2024 ihren Schlussbericht veröffentlichte.
Rund 18 Monate lang hatte sie zuvor das Ohr an die walisische Bevölkerung gelegt, um herauszufinden, wie man die Demokratie stärken und die Autonomie von Cymru festigen und ausbauen könnte.
Insbesondere wurden für die Zukunft von Cymru drei unterschiedliche Szenarien untersucht:
- Autonomieausbau;
- Cymru als Teil eines föderalen Vereinigten Königreichs oder
- die Gründung eines unabhängigen Staates.
Ausdrücklich wurde in dem Schlussbericht festgehalten, dass alle drei Szenarien tragfähig wären. Es wurde bewusst nicht bewertet, welches die bessere Option wäre, sondern eine möglichst objektive Analyse durchgeführt, damit die Bevölkerung die Chance hat, selbst zu entscheiden, welchen Weg sie für ihr Land bevorzugt.
Jeder der drei Wege weise Stärken und Schwächen, Risiken und Chancen auf, so die Kommission. Welche Lösung man wählt, hänge hauptsächlich davon ab, wie man die unterschiedlichen Entscheidungskriterien gewichte und welche Risiken man für die Chancen, die die einzelnen Optionen bieten, einzugehen bereit sei. Dabei handle es sich um eine Aufgabe, die den politischen Parteien und letztendlich den Bürgerinnen obliege.
Es sei jedoch von größter Wichtigkeit, offen und konstruktiv über die unterschiedlichen Zukunftsszenarien zu diskuteren, da die öffentliche Debatte ohne informierte Diskussion viel stärker zur Polarisierung tendieren würde.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse im Austausch mit der Bevölkerung sei gewesen, dass viele Menschen das Gefühl hätten, keinerlei Einfluss auf die Regierungspolitik zu haben. Die Mehrzahl verstehe nicht, wie das Land verwaltet wird und wer wofür verantwortlich ist. Daraus ergebe sich ein Gefühl der Machtlosigkeit. Für Befürworterinnen der Union, der Unabhängigkeit und anderer Zukunftsvisionen sei es aber wichtig, dass ihre Vorschläge gehört, diskutiert und geprüft werden können. So komme man von Slogans weg und hin zu einer Beschäftigung mit der besten Zukunftoption für Cymru.
Keine Option sei hingegen die Beibehaltung des Istzustandes, so die Kommission, da die autonomen Befugnisse nach derzeitiger Regelung jederzeit geändert werden könnten, ohne die Bevölkerung in die Entscheidungen einzubinden. Wie in Südtirol.
Nationale Konversation
Um zu ihren Erkenntnissen zu gelangen, hat die Kommission eine sogenannte »nationale Konversation« mit den Bürgerinnen von Cymru gestartet. Dazu wurde eine Online-Umfrage durchgeführt und die Möglichkeit geschaffen, Anregungen und Vorschläge via E-Mail und per Post einzusenden oder als Video- und Audionachricht hochzuladen.
Neben formalen Texten, die für manche eine hohe Hürde darstellen können, wurde es ermöglicht, Gedichte, Rap, Musik, kreative Texte oder Fotos einzureichen.
Nachdem jedoch zum Ausdruck gekommen war, dass viele, die eigentlich mitdiskutieren wollten, das Gefühl hatten, zu wenig informiert zu sein, wurde eigens eine Beteiligungsplattform mit Informationen, Blogs, Kommentar- und Chatfunktionen eingerichtet.
Um auch diejenigen einzubeziehen, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht selbst aktiv werden wollten, denen strukturelle Barrieren (Sprache, Bildung, Technologie, Beeinträchtigung) eine Teilnahme erschweren oder die der Ansicht sind, man würde sich für ihre Meinung ohnehin nicht interessieren, wurden die Menschen in einem weiteren Schritt auch vor Ort aufgesucht und proaktiv eingebunden: in Einkaufszentren, bei Festen und Festivals, auf den Straßen und in den Bürgerzentren.
Ferner wurden unterschiedlichste Vertretungen — wie die der Gehörlosen, der Blinden, von Roma und Sinti sowie der Fahrenden — kontaktiert und um ihre Ansichten gefragt.
Die aus der »nationalen Konversation« hervorgegangenen Einsichten wurden dann noch um quantitative und qualitative Daten über die Ansichten und Wünsche der Bevölkerung ergänzt: Es wurden acht deliberative Bürgerräte mit je 16 Mitgliedern organisiert, die nach Alter, Geschlecht, politischen Ansichten, sozioökonomischem Hintergrund, Stadt/Land, Beeinträchtigung, Sprache, LGBTQ+, Lebenslage, Ethnizität, Interesse an der Materie und Wissen gewichtet wurden und für alle geografischen Regionen von Cymru repräsentativ waren. Dabei wurde auch erhoben, inwiefern sich die jeweiligen Ansichten durch die Diskussion mit den anderen Teilnehmenden und den Austausch von Informationen verändert hatten. Nicht zuletzt wurde eine repräsentative Telefon- und Onlineumfrage mit 1.596 Teilnehmenden durchgeführt.
Eine bedeutende Erkenntnis war, dass viele Bürgerinnen zwar an Verfassungsreformen interessiert seien, dieses Interesse aber oft nicht direkt zum Ausdruck brächten. Dies äußere sich darin, dass eher über unmittelbare Prioritäten als über abstrakte Reformen gesprochen werde, obwohl das eine das andere mit einschließe und bedinge. Speziell aus den Bürgerräten sei jedoch klar hervorgegangen, dass es ein Fehler wäre, dies als mangelndes Interesse an grundlegenden Reformen zu interpretieren. Den Menschen ist aber wichtig, was das jeweilige Szenario für sie bedeutet.
Hierzulande war der Südtirolkonvent ein Setting, das sich für eine ähnlich ergebnisoffene Diskussion geeignet hätte. Leider war dies nicht in vollem Umfang möglich, da vor allem eine Beschäftigung mit der Autonomie erwünscht war und für andere Szenarien regelmäßig Barrieren aufgebaut (01
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), ja sogar schwerste Drohungen ausgesprochen wurden.
Cëla enghe: 01
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