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Verfassung: Kommentar².

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Kürzlich haben die Freiheitlichen ihren Verfassungsvorschlag für ein unabhängiges Südtirol unterbreitet, der auf bereits thematisiert wurde. Am vergangenen Donnerstag ist in den Dolomiten — unter dem Titel »Freistaat wäre ein Schuss ins Knie« — ein Artikel erschienen, der Karl Zellers (SVP) Kritik an einzelnen Punkten des Entwurfes zusammenfasst. Ein Kommentar zum Kommentar:

Freiheitliche: Der Freistaat strebt die Mitgliedschaft in der Europäischen Union an. (Art. 8)

Karl Zeller: De facto bedeutet der Freistaat einen Austritt aus der EU. Ein Beitritt dauert Jahre und muss von allen Staaten, also auch von Italien, gebilligt werden, was kaum der Fall sein dürfte. Bis zum Ende der Beitrittsverhandlungen ist Südtirols Wirtschaft ruiniert und der Brenner eine EU-Außengrenze. Südtirol baut die Grenzbalken wieder auf, die Italien 1998 mit Schengen-Abkommen abbaute.

Verfassungs- und Völkerrechtsexperten in Katalonien und Schottland sind zum Schluss gekommen, dass ein Land, das sich von einem EU-Mitglied abspaltet, voraussichtlich Anspruch auf Beibehaltung der Mitgliedschaft hätte. Diese Auffassung ist zwar nicht unumstritten — weshalb sie sich erst in einem konkreten Fall beweisen müsste — doch Zellers absolutes Urteil ist nicht gerechtfertigt. Womöglich wird auch gar nicht Südtirol, sondern Schottland den Präzedenzfall proben, so sich die Mehrheit der dortigen Einwohner für eine Abspaltung vom Vereinigten Königsreich entschließt.

Selbst falls Südtirol die EU zunächst verlassen müsste, wäre jedoch kaum zu erwarten, dass sich Italien einem Wiedereintritt widersetzen würde: Schließlich läge sonst neben dem Gotthard- mit dem Brennerpass die zweite wichtige Verkehrsverbindung zwischen Italien und der übrigen Zollunion außerhalb der EU.

Warum Südtirols Wirtschaft bis zum Abschluss etwaiger Beitrittsverhandlungen ruiniert sein soll, erschließt sich nicht: Die Schweiz, Andorra, Norwegen und all die erst zu einem späteren Zeitpunkt in die EU eingetretenen Länder sind Beispiel genug dafür, dass man auch außerhalb der Union wirtschaftlich überlebensfähig ist (wenngleich ich diesen Status nicht für erstrebenswert halte). Schließlich bietet die derzeitige Wirtschaftssituation Italiens ja auch nicht rosige Aussichten.

Was die Währung anlangt, gibt es — für den Fall, dass Südtirol die Eurozone vorübergehend verlassen müsste — mehrere Möglichkeiten: 1. Passive Euronutzung (wie Andorra, Kosovo und Montenegro) ohne Mitgliedschaft in der EZB, wo wir ja schon heute nicht bzw. nur über Italien vertreten sind; 2. Passive oder aktive Nutzung einer anderen Währung; 3. eigene Übergangswährung. Die erste dieser Varianten wäre wohl vorzuziehen.

Freiheitliche: Die Mehrheit der deutschen, ladinischen und italienischen Abgeordneten im Landtag muss der Verfassung zustimmen. (Art. 88)

Karl Zeller: Die Italiener werden dies nicht tun, wenn man ihnen sogar Gemeindenamen nimmt, sofern sie nicht 15% der Ortsbevölkerung stellen (Art. 4)

Dass der Verfassung die Mehrheit der Abgeordneten aller Sprachgruppen zustimmen müssen, damit sie in Kraft tritt, sagt im Grunde nichts über die Güte der Unabhängigkeit aus. Im Gegenteil: Dass die Freiheitlichen eine solche Beschränkung in Kauf nehmen, ist grundsätzlich positiv. Schließlich könnte die Verfassung (und somit die Unabhängigkeit, als deren Voraussetzung sie sich ja sieht) nur im Konsens beschlossen werden. Dass dies mit dem vorliegenden Entwurf schwierig ist, ist ein anderes Thema — und diese Auffassung Zellers teile ich auch.

Freiheitliche: Auf Vorschlag der betreffenden Sprachgruppe wird festgelegt, ob in den Grundschulen ab der 2. und 3. Klasse sowie in Sekundarschulen der Unterricht in der Zweitsprache Pflicht ist. (Art. 84)

Karl Zeller: Damit könnte eine Sprachgruppe sogar festlegen, dass kein Zweitsprachenunterricht ab der 2. oder 3. Klasse und in den Sekundarschulen mehr stattfindet. Wenn es nach den Freiheitlichen geht, sagen wir also Adieu zum mehrsprachigen Südtirol. Das wird den Italienern sicher gefallen: Sie müssen Deutsch büffeln, weil die Deutschen sie nicht mehr verstehen.

Dieser Aspekt wurde auch bei angesprochen, die Kritik Zellers teile ich — wobei unklar ist, warum das nur die Italiener stören sollte.

Freiheitliche: Staatsbürger des Freistaates werden alle im Staatsgebiet ansässigen Personen. (Art. 87)

Karl Zeller: Staatsvolk sind nur die drei offiziellen Sprachgruppen. Die Staatsbürgerschaft wird aber allen Ansässigen, das heißt also auch allen Nicht-EU-Bürgern verliehen, die mehr sind als die Ladiner.

Aus -Sicht ist mir lieber, dass die Freiheitlichen mit ihrem Entwurf großzügig sind, als wenn sie versucht hätten, hier ihre Vision von einem möglichst zuwanderungsarmen, »exklusivistischen« Südtirol einzuflechten. Dass das Staatsvolk aus den drei Sprachgruppen besteht ist wohl dahingehend zu verstehen, dass die Freiheitlichen nach wie vor eine Zugehörigkeitserklärung (der sich auch die Migranten unterzuordnen hätten) vorsehen. Dies halte ich zwar für anachronistisch, weil es die Vorzüge eines unabhängigen Staates m.E. ad absurdum führt, ist aber per se kein Widerspruch.

Freiheitliche: Die Ladiner von Cortina, Colle Santa Lucia und Buchenstein gehören zum Volk Südtirol und können sich über das Selbstbestimmungsrecht mit dem Freistaat Südtirol vereinigen. (Art. 2)

Karl Zeller: Aus Cortina dürfen nur die Ladiner kommen. Das sind aber höchstens 40 Prozent. Was ist mit den Italienern?

Zeller hat Recht. Ist zwar vielleicht gar nicht so gemeint, steht aber so da.*

Freiheitliche: Der Ministerpräsident ernennt und entlässt die Richter. (Art. 49)

Karl Zeller: Wo hat man das schon gesehen? Wie kann da ein Richter unabhängig sein?

Ich habe diesen (in der Tat bedenklich erscheinenden) Punkt in meiner Auseinandersetzung mit der Vorlage nicht erwähnt, da er — was Zeller verschweigt — in Artikel 59 abgeschwächt wird. Dort heißt es: »Im Übrigen dürfen Richter nur in den vom Gesetz vorgeschriebenen Fällen auf Grund einer förmlichen richterlichen Entscheidung ihres Amtes entsetzt oder wider ihren Willen an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. […]« und »die Ernennung, der Amtseid und die Rechtsstellung der Richter werden im Übrigen durch Gesetz geregelt. Dieses Gesetz hat auch vorzusehen, dass bei Ernennung und Anstellung der Richter ein richterlicher Senat mitzuwirken hat«. Dem Ministerpräsidenten werden also wohl vor allem exekutive Befugnisse zukommen. Insgesamt bin aber auch ich der Meinung, dass hier die Gewaltenteilung Lücken aufweist.

Der Ministerpräsident kann uneheliche Kinder auf Ansuchen der Eltern zu ehelichen erklären. (Art. 49)

Was hat die Anerkennung unehelicher Kinder in einer Verfassung zu suchen? Will man die Ehe durch einen Fürstenerlass ersetzen?

Voll und ganz mit Zeller einverstanden.

Freiheitliche: Die Mitglieder der Staatsregierung behalten die Abgeordneten-Immunität, bis ihr Mandat erlöscht. (Art 46)

Karl Zeller: Nicht nur die Mitglieder der Staatsregierung, sondern alle Abgeordneten erhielten totale Immunität vor Strafverfolgung. Sofern die Mehrheit im Landtag nicht zustimmt, könnte die Justiz nicht einmal Ermittlungen aufnehmen. Das geht weit über das heute geltende System in Italien hinaus, wo jederzeit ermittelt werden kann, ohne Parlamentsbeschluss, bis zum rechtskräftigen Urteil aber keine Inhaftierung möglich ist.

Davon abgesehen, dass die Immunität meines Wissens nicht »erlöscht«, sondern »erlischt«, ist diese Regelung auch meiner Ansicht nach viel zur weitreichend (vgl. -Artikel). Eine Immunität muss, falls überhaupt nötig (und da bin ich sehr skeptisch), so eng wie möglich gesteckt sein. In keinem Fall sollte sie über die während der Ausübung des Amtes begangenen Rechtsbrüche hinausgehen.

Freiheitliche: Dem Volk des Freistaates gehören die Bürger der deutschen, italienischen und ladinischen Sprachgruppen an: Ihre Sprachen sind Staatssprachen. (Art. 4)

Karl Zeller: Ladinisch wird Amtssprache im ganzen Land, womit ein Ladiner z.B. das Recht hat, auch in Meran oder Neumarkt auf Ladinisch mit einem Amt zu verkehren. Gleichzeitig wird Ladinisch aber nicht zur Gerichtssprache, was weniger ist als heute, wo Ladinisch zumindest vor den Friedensgerichten in den ladinischen Tälern als Gerichtssprache anerkannt ist.

Dass ein Ladiner automatisch das Recht hätte, in Meran oder Neumarkt auf Ladinisch mit einem Amt zu verkehren, ist wohl blödsinn. Die Bundesverfassung der Schweiz definiert Rätoromanisch (neben Deutsch, Französisch und Italienisch) ebenfalls als »Landessprache«, ohne dass deren Sprecher das Recht hätten, sich auf Rätoromanisch an ein lokales Amt in Zürich oder Lugano zu wenden. Dass aber die Ladiner das Recht bekommen, mit einem Staatsamt in Bozen ihre Sprache zu benützen, wäre durchaus zu begrüßen (und ist auch im -Verfassungsvorschlag vorgesehen).

Die Vernachlässigung des Ladinischen als Gerichtssprache hatte ich ebenfalls kritisiert.

Freiheitliche: Voraussetzung für das passive Wahlrecht zum Landtag ist die Vollendung des 18. Lebensjahres sowie eine vierjährige Ansässigkeit im Freistaat. (Art. 34)

Zeller: Die vierjährige Ansässigkeitsklausel beim Wahlrecht beizubehalten ist ein Nonsens, wenn Südtirol sich von Italien trennt, da sie als Schutz vor italienischer Zuwanderung kurz vor Wahlen gedacht ist.

Dasselbe gilt aber auch für den Proporz.

Freiheitliche: Der Freistaat bekennt sich zur Trägerschaft der Europäischen Akademie in Bozen als besondere Forschungseinrichtung. (Art. 83)
Zeller: Die Europäische Akademie erhält Verfassungsrang, die Universität Bozen aber nicht.

Stimmt — müsste man ändern.

Alles in allem könnte man sagen, dass ein unabhängiges Südtirol mit dieser Verfassung wohl ein Schuss ins Knie wäre. Grundsätzliche Argumente gegen ein unabhängiges Südtirol habe ich aus Zellers Argumentation jedoch nicht herausgelesen, jedenfalls nicht stichhaltige.

*) wobei diese Formulierung vielleicht in Anlehnung an das Völkerrecht — demzufolge das Selbstbestimmungsrecht ja auch nur den Mitgliedern indigener Völker zukommt — so gewählt. Mit dem Völkerrecht kommen wir in dieser Angelegenheit aber wohl nicht weiter bzw. ist dies eher nicht erstrebenswert.



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Comentârs

5 responses to “Verfassung: Kommentar².”

  1. hunter avatar
    hunter

    da wirft man – vor allem von seiten der svp – den freiheitlichen immer wieder vor, dass sie ausländerfeindlich und nahezu rechtsextrem seien. jetzt kommen sie mit einem progressiven vorschlag und wollen die staatsbürgerschaft an die ansässigkeit koppeln – sprich ein territoriales und kein nationales prinzip anlegen und dann ist es der svp – in diesem falle herrn zeller – auch wieder nicht recht. staatsbürgerschaft an nicht-eu-bürger undenkbar, oder wie? ich finde hingegen, dass es die einzige möglichkeit ist gleiche pflichten von allen einzufordern und essentielle bürgerrechte (wahlrecht!!!) allen gewähren zu können, die in unserem land leben.

  2. anonym avatar
    anonym

    Der Verfassungsentwurf der Freiheitlichen ist nicht perfekt, daran besteht kein Zweifel. Wenigstens haben Sie aber einen Anfang gesetzt und ein Papier entworfen, das man meiner Meinung nach als Diskussionsgrundlage verstehen muss und nicht wie die 10 Gebote in Stein gemeisselt sind.
    Vorwerfen muss man ihnen neben den offensichtlichen Fehlern aber auch das:
    1.) sie haben einen Alleingang gewagt, die Einbeziehung anderer Parteien und Gruppierungen wäre aber nötig.
    2.) sie hätten das Papier viel besser prüfen lassen müssen. Die Opposition sollte langsam wissen, dass die SVP nur auf jeden noch so kleinen Fehler wartet um sie in der Luft zu zerreissen.

    Zeller sucht natürlich im Auftrag seiner Partei nach jedem noch so kleinen Haar in der Suppe, findet auch welche und bemängelt das zurecht wie auch pérvasion schön analysiert. Dabei übersieht er am Ende aber eben das wesentliche, nämlich die Suppe. Zeller & Co. wären auch dann noch dagegen wenn sie kein Haar darin gefunden hätten. Was gegen die Unabhängigkeit spricht bleibt man den Bürgern schuldig, ausser den vagen Unterstellungen und Panikmache.

    Wo ist eigentlich das Strategiespapier zur Vollautonomie? Seit Monaten wird mit dem Begriff nur so um sich geworfen und bei fast jeder Diskussion der Unabhängigkeit als einzig sinnvolle Alternative entgegen gestellt, ohne dass auch nur konkret feststeht, was man wir uns darunter vorzustellen hätten? Oder hab ich was verpasst?

  3. niwo avatar
    niwo

    Wo ist eigentlich das Strategiespapier zur Vollautonomie?

    Da darfst du keine Strategie erwarten, das ist ein Langfrist-Konzept, die Umsetzung könnte rasch, aber wesentlich wahrscheinlicher ziemlich viel Zeit, sogar sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, wie schon mal angedeutet wird. Frei nach dem großen Ökonomen J. M. Keynes “In the long run we are all dead”, langfristig gesehen sind wir alle tot.

  4. Markus avatar
    Markus

    Danke niwo! Jetzt habe ich endlich verstanden, warum ich nicht verstehen kann, was die Vollautonomie ist. :-)

  5. Manni avatar
    Manni

    Dieser Artikel ist eine fundierte Analyse des Verfassungsentwurfes, Kompliment! Zudem bin ich positiv überrascht, wie fair in einem sozialdemokratischen Blog über den Vorschlag einer Mitte-Rechts Partei geredet wird.
    Ich denke, der Entwurf ist eher als Diskussionsgrundlage gedacht als ein fix und fertiger Verfassungsentwurf. Der Hintegedanke ist IMHO, daß möglichst viele Menschen sich über die Verfassung Gedanken machen sollten -das wäre absolut wünschenswert.

    @anonym

    Zu Punkt 1: Soweit ich gelesen habe, möchten die FH einen Runden Tisch organisieren, wo viele verschiedene polit. Lager sich an der Diskussion beteiligen können. Ich bin zwar Anhänger der FH (nicht Mitglied, nicht Exponent), fände es aber spannend u. notwendig, wenn sich andere Parteien z.B Grüne an der Diskussion beteiligen würden. Aber wenn man denen mit dem Los von Rom kommt, dann hört man nur: Kein Anschluß unter dieser Nummer. Schade…
    Zu Punkt 2: Hier gilt das, was ich am Anfang des Beitrages geschrieben habe

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