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Ungeimpfte diskriminieren?
Covid-19

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Dieser Tage macht in den sozialen Medien ein Beitrag zweier Wirtschaftsethiker in der Zeit die Runde, die darlegen, warum ihrer Meinung nach die Diskriminierung Ungeimpfter und letztendlich auch eine (allgemeine) Impfpflicht ethisch gerechtfertigt sein sollen. Dass der Artikel auch und gerade von vielen Linken eifrig geteilt wird, finde ich schade. Er ist meiner Meinung nach nicht nur schwach argumentiert, ethische Bedenken werden darin auch eher ausgeblendet und zur Seite geschoben denn tatsächlich analysiert. Die vorgeschlagenen Maßnahmen sind zudem teils ausgesprochen ungerecht.

Dem Artikel von Thomas Beschorner und Martin Kolmar möchte ich hier einige Überlegungen der Schweizer Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle gegenüberstellen, die ich — als übrigens vollständig Geimpfter, der also von den Diskriminierungen nicht selbst betroffen wäre — persönlich für weit differenzierter und überzeugender halte:

Das Recht auf körperliche Integrität, das individuelle Abwehrrecht, gehört seit dem Zweiten Weltkrieg zu den stärksten Menschenrechten. Ein Impfobligatorium tangiert dieses Recht und muss daher äusserst gut begründet werden.

— Ruth Baumann-Hölzle

Wenn 60 Prozent der Infizierten sterben würden, wäre es überhaupt keine Frage, ob ein Impfobligatorium ethisch gerechtfertigt ist. Jetzt stellt sich jedoch die Frage nach dem Verhältnis der Grundrechtseinschränkungen zur Krankheits- und Todesrate und zum Verhältnis des Erkrankungs- und des Impfrisikos.

— Ruth Baumann-Hölzle

Es geht nicht um meine persönlichen Moralvorstellungen. Die Ethik hat die Aufgabe, ethisch relevante Fragen zu stellen und zu zeigen, was auf dem Spiel steht. Entscheiden müssen wir dann als Gesellschaft gemeinsam. Die Weltgemeinschaft hat nach dem Zweiten Weltkrieg einen universalen Bezugspunkt für die ethische Entscheidungsfindung gesetzt: Jeder politische und gesellschaftliche Entscheid muss zwingend gegenüber dem individuellen Abwehrrecht verantwortet und begründet werden.

— Ruth Baumann-Hölzle

Die Frage des Impfobligatoriums wirft zuerst die Frage nach dem Verhältnis von Sicherheit und Freiheit auf: Wollen wir in einer Null-Risiko-Gesellschaft leben? Und welche Freiheiten sind wir dafür bereit aufzugeben? Die Freiheit zur Selbstschädigung ist in unserer Gesellschaft ein hohes Gut: Wir dürfen etwa rauchen, auch wenn wir wissen, dass es nicht gesund für uns ist. Wenn wir urteilsfähig sind, darf uns niemand am Suizid hindern. Eine Impfpflicht zum Selbstschutz einer urteilsfähigen Person würde bedeuten: Der Staat weiss besser, was gut für sie ist und was nicht.

— Ruth Baumann-Hölzle

Beim Autofahren stellen wir auch eine Fremdgefährdung dar und trotzdem ist es nicht verboten. Bei der Debatte rund um die Impfpflicht, insbesondere beim Gesundheitspersonal, geht es also zentral um die Frage: Rechtfertigt die Fremdgefährdung durch Nichtgeimpfte ein Obligatorium?

— Ruth Baumann-Hölzle

Diese Diskussion müssen wir im Hinblick auf künftige Epidemien unbedingt führen – und um eine verhältnismässige, gesellschaftlich breit abgestützte Definition ringen.

— Ruth Baumann-Hölzle

aus einem Interview mit 20minuten.ch (23. Juli 2021)

Vor allem aber wird nicht berücksichtigt, dass wir heute noch wenig über die längerfristige Schutzwirkung der Covid-19-Impfung und über allfällige Langzeitfolgen wissen; die Phase-3-Studie zum Impfstoff von Pfizer/Biontech etwa wird erst 2022 abgeschlossen sein. In einer solch unsicheren Situation ein Impfobligatorium zu fordern, ist ethisch sehr heikel. Denn die Teilnahme an medizinischer Forschung bedingt Freiwilligkeit.

— Ruth Baumann-Hölzle

Solidarität ist eine innere freiwillige Verbundenheit der Menschen untereinander, die man nicht einfordern kann. Von der Bevölkerung zu verlangen, sie solle sich solidarisch zeigen und sich impfen lassen, widerspricht dem Begriff von Solidarität.

— Ruth Baumann-Hölzle

Unser Wissensstand ist derzeit zu gering, als dass man gestützt darauf massive Grundrechtseinschränkungen wie eine Impfpflicht oder eine Zweiklassengesellschaft von Geimpften und Nichtgeimpften einführen könnte.

— Ruth Baumann-Hölzle

Sorgen bereitet auch, wie leichthin man jetzt bereit ist, ethische Errungenschaften – etwa die informierte Zustimmung zu Behandlungen oder den vertraulichen Umgang mit Gesundheitsdaten – auf die Seite zu wischen.

— Ruth Baumann-Hölzle

In einer freien Gesellschaft gilt es, ethische Dilemmata auszuhalten. Und es gilt zu respektieren, wenn die Menschen damit unterschiedlich umgehen und ihre eigenen Abwägungen treffen.

— Ruth Baumann-Hölzle

aus einem Interview mit der NZZ (22. Juli 2021)

Dr. theol. Baumann-Hölzle ist Institutsleiterin bei der Stiftung Dialog Ethik und war 2001-2013 Mitglied der schweizerischen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin.

Siehe auch: 01 02 03 || 01 02 03



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Comentârs

14 responses to “Ungeimpfte diskriminieren?
Covid-19

  1. Domprobst avatar
    Domprobst

    “Ich, als Geimpfter,…” ist die ähnlich unsinnige Satzeröffnung wie “Ich bin kein Rassist, aber…”.
    Ich verstehe nicht, warum man sich hier quasi rechtfertigen muss/will, das müsste doch jeder selbst mit seinem Gewissen bzw. seinem Hausarzt entscheiden bzw. warum soll man dies seinem Gesprächspartner überhaupt mitteilen?
    Ich beginne doch auch nicht meine Kommentare mit “Ich, als Meningokokken-Geimpfter, glaube, dass…”……wen interessiert das? Mit dem Inhalt eines Gesprächs hat dies auch nichts zu tun.

    1. Simon avatar

      Leider interessiert das in diesen Debatten sehr viele. Als Ungeimpfter (oder Ungeouteter) riskiert man derzeit, sehr schnell als Impfgegner oder gar Coronaleugner abgestempelt zu werden.

      Eine andere Frage wäre, ob man sich von dieser unsäglichen Vorgehensweise beinflussen lassen sollte. Da bin ich unschlüssig.

    2. Hartmuth+Staffler avatar
      Hartmuth+Staffler

      Ich habe in dem Artikel von Simon Constatini keine Satzeröffnung “Ich als Geimpfter ….” gefunden. Er hat lediglich dort, wo es um die sogenannte Diskriminierung nicht Geimpfter ging, festgehalten, dass er als Geimpfter davon nicht betroffen ist, als gewissermaßen als Neutraler dazu Stellung nehmen kann. Übrigens: ich bin kein Rassist, aber … ich sage das eher selten, weil für mich antirassistisches Verhalten wichtiger ist als antirassistisches Reden.

      1. Domprobst avatar
        Domprobst

        @Staffler, wir schweifen hier zwar vom eigentlichen Thema ab, aber Aussagen über rassistisches Verhalten sollten aus Ihrem Mund eigentlich nicht generiert werden.
        Ich erinnere Sie an den sehr gut geschriebenen Artikel aus dem Jahre 2018, welcher auf Salto publiziert wurde (https://www.salto.bz/de/article/08032018/hofers-freunde) und welcher mit Aussagen Ihrerseits – und glücklicherweise dem entsprechender Repliken! – gepflastert ist, die sehr sehr bedenklich sind.

        Moderationshinweis: Dieser Kommentar wurde gekürzt. Bitte Punkt 11 der Netiquette beachten.

      2. Domprobst avatar
        Domprobst

        @BBD: meine Kommentare können gerne gekürzt, moderiert oder umformuliert werden; so sind die Spielregeln und ich bedauere im Eifer des Gefechts die Netiquette verletzt zu haben.

        Moderationshinweis: Dieser Kommentar wurde gekürzt. Bitte Punkt 19 der Netiquette beachten.

      3. Hartmuth+Staffler avatar
        Hartmuth+Staffler

        @Domprobst: Ich habe mich in meinen Kommentaren zu dem dankenswerter Weise von ihnen verlinkten salto-Artikel klar und deutlich von Rassismus, Faschismus und Nationalsozialismus distanziert.

        Moderationshinweis: Dieser Kommentar wurde gekürzt. Bitte Punkt 11 der Netiquette beachten.

  2. Knecht Rootrecht avatar
    Knecht Rootrecht

    Stimme dir in diesem Fall, lieber Simon, nicht zu. Ich finde die Aussagen von Baumann-Hölzle nicht differenzierter und überzeugender, sonder eher schwach argumentiert:

    1. Knecht Rootrecht avatar
      Knecht Rootrecht

      Zum Einzelnen:

      Das Recht auf körperliche Integrität, das individuelle Abwehrrecht, gehört seit dem Zweiten Weltkrieg zu den stärksten Menschenrechten.

      Das klingt, als hätte sich nie jemand damit befasst. Es gibt unzählige Beispiele in denen sich verschiedenste rechtliche Organe und ethische Kommissionen mit der Impfpflicht auseinandergesetzt haben, siehe z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Impfpflicht

      Eine Impfpflicht zum Selbstschutz einer urteilsfähigen Person würde bedeuten: Der Staat weiss besser, was gut für sie ist und was nicht.

      Klingt so, als gäbe es das zum ersten Mal. Wiederum gibt es aber hier unzählige Beispiele wo dem jetzt schon so ist, angefangen beim Betäubungsmittelgesetz über die Schulpflicht bis zur Strassenverkehrsordnung.

      Von der Bevölkerung zu verlangen, sie solle sich solidarisch zeigen und sich impfen lassen, widerspricht dem Begriff von Solidarität.

      Mag man idealistisch so sehen, aber finanziell wird zum Beispiel eine solidarische Gemeinschaft durch eine Steuerpflicht erzwungen. Gesetzliche Regelungen sind gerade dazu da den sozialen Ausgleich zu schaffen und dem persönlichen Egoismus Schranken vorzusetzen.

      Vor allem aber wird nicht berücksichtigt, dass wir heute noch wenig über die längerfristige Schutzwirkung der Covid-19-Impfung und über allfällige Langzeitfolgen wissen; die Phase-3-Studie zum Impfstoff von Pfizer/Biontech etwa wird erst 2022 abgeschlossen sein.

      &

      Unser Wissensstand ist derzeit zu gering, als dass man gestützt darauf massive Grundrechtseinschränkungen wie eine Impfpflicht oder eine Zweiklassengesellschaft von Geimpften und Nichtgeimpften einführen könnte.

      Erweckt den Eindruck, als gäbe es noch unberechenbare Risiken und Langzeitfolgen über die wir nichts wissen. Das kann man eigentlich nicht so stehen lassen: So beschäftigen sich Phase-3 Studien zum Beispiel vor allem mit Nebenwirkungen/Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten (Typische Größenordnung eine paar Tausende Probanden). Eine wahnsinnig kleine Zahl im Vergleich zur Anzahl an Impfungen, die in den letzten 6 Monaten verabreicht wurde. Gäbe es Langzeitfolgen, würde man die jetzt schon bei den Geimpften beobachten können, z.B. ein gradueller Anstieg von bestimmten Symptomen/Erkrankungen je länger die Impfung her ist. Bisher geben die Daten keinerlei Hinweise in diese Richtung her.

      Sorgen bereitet auch, wie leichthin man jetzt bereit ist, ethische Errungenschaften – etwa die informierte Zustimmung zu Behandlungen oder den vertraulichen Umgang mit Gesundheitsdaten – auf die Seite zu wischen.

      Klingt wiederum so, als würde sich der Staat das leicht machen und das “leichthin wegwischen”. Ich sehe es genau umgekehrt: Die EU hat in den letzten 6-12 Monaten immer sehr vorsichtig agiert. Das zeigt auch die Tatsache, dass erst jetzt, bei mangelnder Impfbereitschaft, überhaupt diese Diskussion aufkommt. Und dass Corona-Apps, CovPass, etc. von Anfang an gerade so konzipiert wurden, dass ein vertraulicher Umgang mit Gesundheitsdaten garantiert wird.

      P.S. Sorry für den geteilten Kommentar.

      1. Harald Knoflach avatar
        Harald Knoflach

        finde, dass knecht rootrecht hier einen punkt hat.
        auch bezüglich langzeitfolgen wir im interview wie mir scheint nicht differenziert zwischen eben diesen und spätfolgen (was wahrscheinlich eigentlich gemeint ist). viele menschen verwenden diese begriffe synonym.
        langzeitfolgen, sind unerwünschte erscheinungen, die lange anhalten (völlig unabhängig davon zu welchem zeitpunkt nach der verabreichung sie auftreten) wohingegen spätfolgen unerwünsche erscheinungen sind, die sich erst in großer zeitlicher distanz zur verabreichung bemerkbar machen.

  3. Sabina avatar
    Sabina

    Ich erachte die Stellungnahme der Ethikerin Baumann-Hölzle in einer mehr als überhitzten Debatte ebenfalls als angenehm fundiert und differenziert.
    Ethik sucht ihrem Verständnis nach nicht nach Wahrheit, sondern leuchtet Dilemmata in deren Breite und Tiefe aus, damit Entscheidungen dann, wie Baumann-Hölzle unterstreicht, von der Gesellschaft gemeinsam gefällt werden können.
    Ihre argumentierte Bezugnahme auf das Abwehrrecht wird nicht dadurch banalisiert, dass es „nichts Neues“ ist (was ist das für ein Argument?), sondern zeigt ganz im Gegenteil auf, wie grundlegende Menschenrechte, auf die wir uns nach dem zweiten Weltkrieg als Gesellschaften verständigt haben, nicht leere Worthülsen, sondern bedeutsame Anker in der Entscheidungsfindung sind und bleiben sollten.
    Dabei geht es ihr gerade nicht um ein undifferenziertes Ausblenden von konkurrierenden (Menschen)Rechten (wie es die zitierten Wirtschaftsethiker betreiben), sondern um das Einfordern äußerst guter Begründungen für eine eventuelle Einschränkung der Abwehrrechte.
    In meinen Augen liefert Baumann-Hölzle mehr als ein Argument, weshalb eine generalisierte Impfpflicht – zu diesem Zeitpunkt und mit diesem Wissens- und Diskursstand – fragwürdig ist. Das stärkste davon ist die Frage nach der Verhältnismäßigkeit und den entsprechenden staatlichen Möglichkeiten, Fremdgefährdung auch durch andere Interventionen signifikant zu reduzieren (wie beispielsweise das Testen).
    Ich selbst bin übrigens vollständig geimpft, habe das aus freien Stücken und nach Abwägen aller mir zur Verfügung stehenden Informationen zu einem sehr frühen Zeitpunkt getan. Dabei habe ich bewusst Risiken in Kauf genommen, die statistisch nicht relevant sein mögen, in meiner individuellen Entscheidung aber trotzdem eine Rolle spielten. Das habe ich unter anderem aus Solidarität getan. Das Einfordern von Solidarität hingegen widerspricht vollkommen deren Essenz. Und der Vergleich mit steuerbasiertem Einkommensausgleich hinkt dabei besonders eklatant: Durch Steuern wird kein individuelles Abwehrrecht tangiert und sie basieren (in ihrer Grundsätzlichkeit) auf einem bereits hergestellten breiten gesellschaftlichen Konsens.

    1. Simon avatar

      Danke, das sehe ich sehr ähnlich.

    2. Knecht Rootrecht avatar
      Knecht Rootrecht

      Ihre argumentierte Bezugnahme auf das Abwehrrecht wird nicht dadurch banalisiert, dass es „nichts Neues“ ist (was ist das für ein Argument?), sondern zeigt ganz im Gegenteil auf, wie grundlegende Menschenrechte, auf die wir uns nach dem zweiten Weltkrieg als Gesellschaften verständigt haben, nicht leere Worthülsen, sondern bedeutsame Anker in der Entscheidungsfindung sind und bleiben sollten.

      Das bestreitet auch niemand. Aber man darf auch festhalten, dass es diese Diskussion schon seit Jahrzehnten zwischen Ethikern und Grundrechtsexperten gibt. Und dass es in mehreren europäische Staaten schon seit Jahren den demokratischen und von Verfassungsorganen abgesegneten Konsens gibt, dass dieses Grundrecht im Sinne des Bevölkerungsschutzes eingeschränkt werden kann. Nicht nur bei Krankheiten mit einer Letalität von 60% (die Zahl, die Baumann-Hölzle nennt), sondern auch bei Masern mit einer Letalität von 0.06-0.1% [Vergleich mit COVID-Letalität: 0.5-2.5% laut RKI].

      In meinen Augen liefert Baumann-Hölzle mehr als ein Argument, weshalb eine generalisierte Impfpflicht – zu diesem Zeitpunkt und mit diesem Wissens- und Diskursstand – fragwürdig ist. Das stärkste davon ist die Frage nach der Verhältnismäßigkeit und den entsprechenden staatlichen Möglichkeiten, Fremdgefährdung auch durch andere Interventionen signifikant zu reduzieren (wie beispielsweise das Testen).

      Gerade bezüglich anderen Interventionen gibt es weitgehenden wissenschaftlichen und statistischen Konsens bezüglich der Wirksamkeit verschiedener Methoden (Masken, Testen, Lockdowns, etc.). Vor einem Jahr hätte ich das Argument noch gelten lassen, aber inzwischen frage ich mich, was es beim jetzigen Wissensstand (siehe zB https://www.nature.com/articles/d41586-020-00502-w ) noch zu bemängeln gibt.

      Das Einfordern von Solidarität hingegen widerspricht vollkommen deren Essenz.

      Wie gesagt: Kann man so sehen, muss man aber nicht. Ich zum Beispiel finde das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Thema Klimaschutzgesetz vom April 21 wegweisend. In diesem Beschluss wird aus dem Grundgesetz heraus sogar eine Solidaritätspflicht(!) gegenüber zukünftigen Generationen und daraus eine Pflicht zum sofortigen Klimaschutz abgeleitet.

      Und der Vergleich mit steuerbasiertem Einkommensausgleich hinkt dabei besonders eklatant: Durch Steuern wird kein individuelles Abwehrrecht tangiert und sie basieren (in ihrer Grundsätzlichkeit) auf einem bereits hergestellten breiten gesellschaftlichen Konsens.

      Abgesehen davon, dass Steuern durchaus die Abwehrrechte bzgl. Privateigentum, freie Berufswahl, etc. sensibel tangieren, muss man gar nicht so weit ausholen. Seit über einem Jahr werden die Grundrechte verschiedenster Bevölkerungsgruppen [Jugendliche: Recht auf Bildung; Gastronomen und Künstler: freie Berufsausübung; Allgemein: Bewegungs- und Reisefreiheit] massiv gesetzlich eingeschränkt und damit Solidarität gegenüber älteren Generationen (nach meiner Meinung zu Recht) eingefordert.

      1. Sabina avatar
        Sabina

        Und dass es in mehreren europäische Staaten schon seit Jahren den demokratischen und von Verfassungsorganen abgesegneten Konsens gibt, dass dieses Grundrecht im Sinne des Bevölkerungsschutzes eingeschränkt werden kann.

        Der demokratisch abgesegnete Konsens ist weder absolut noch kontextunabhängig, sondern muss für neue Fragestellungen immer wieder hergestellt werden. Wenn es ihn für die Masernimpfung (nicht generalisiert, sondern in bestimmten Kontexten) gibt, so gilt das nicht zwingend und analog auch für die Corona-Schutzimpfung.

        Gerade bezüglich anderen Interventionen gibt es weitgehenden wissenschaftlichen und statistischen Konsens bezüglich der Wirksamkeit verschiedener Methoden (Masken, Testen, Lockdowns, etc.). Vor einem Jahr hätte ich das Argument noch gelten lassen, aber inzwischen frage ich mich, was es beim jetzigen Wissensstand (siehe zB https://www.nature.com/articles/d41586-020-00502-w) noch zu bemängeln gibt.“

        Es gibt am Wissensstand als solchem nichts zu bemängeln. Es geht um die Abwägung und um die Frage, ob ein gesellschaftlicher Konsens bereits hergestellt wurde. In meinen Augen ist dieser Konsens noch nicht hergestellt. Also gilt es vorerst jene Maßnahmen zu ergreifen, die in ihrer Kombination einen höchstmöglichen Schutz möglichst vieler gewährleisten, ohne unmittelbar die körperliche Unversehrtheit zu tangieren und ohne massive Widerstände zu provozieren. Und auch hier gilt es abzuwägen und genau hinzuschauen. Es gibt Menschen, die einen Nasenflügeltest bereits als Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit verstehen. Das Übergehen dieses Abwehrrechts kann jedoch nicht auf dieselbe Ebene gestellt werden, wie jenes einer Impfung.

        In diesem Beschluss wird aus dem Grundgesetz heraus sogar eine Solidaritätspflicht(!) gegenüber zukünftigen Generationen und daraus eine Pflicht zum sofortigen Klimaschutz abgeleitet.

        Wir können gern den Solidaritätsbegriff aufdröseln. Fakt bleibt, dass individuelle Solidarität auf Freiwilligkeit beruht und dass kollektiv(iert)e Formen der „Solidarität“ etwas anderes sind.

        Abgesehen davon, dass Steuern durchaus die Abwehrrechte bzgl. Privateigentum, freie Berufswahl, etc. sensibel tangieren, muss man gar nicht so weit ausholen.

        Natürlich ist der Schutz des Privateigentums durch Abwehrrechte gesichert. Gleichzeitig gibt es für unterschiedliche Abwehrrechte (Unversehrtheit des eigenen Körpers versus Unversehrtheit des Eigentums) unterschiedlich starke Formen des Schutzes. Und vor allem: Es gibt einen breiten Konsens für verschiedene Einschränkungen des Rechts auf Eigentum.

        Seit über einem Jahr werden die Grundrechte verschiedenster Bevölkerungsgruppen [Jugendliche: Recht auf Bildung; Gastronomen und Künstler: freie Berufsausübung; Allgemein: Bewegungs- und Reisefreiheit] massiv gesetzlich eingeschränkt und damit Solidarität gegenüber älteren Generationen (nach meiner Meinung zu Recht) eingefordert.

        Die genannten Grundrechtseinschränkungen fanden und finden statt und auch ich fand und finde sie größtenteils notwendig. Das ändert für mich aber nichts an der Tatsache, dass sie jeweils kontextbezogen zu hinterfragen sind und dem jeweiligen Wissens- und Konsensstand anzupassen sind. Es geht immer um ein Abwägen auf diesem Hintergrund, verbunden mit der Frage, was alternativ zu Grundrechtseinschränkungen bei gleichzeitig höchstmöglichem kollektiven Schutz und Konsens getan werden kann.

        Wenn Ethiker:innen diese Fragen stellen und damit auf die Komplexität der aktuellen Entscheidungsherausforderungen hinweisen, dann machen sie ihren Job.

  4. Domprobst avatar
    Domprobst

    Eine Anregung meinerseits zur allgemeinen Debatte rund um Covid.
    Ich hatte bereits – trotz kräftigem Gegenwind – die Auffassung vertreten, keine Meinungen über Covid und seine damit zusammenhängenden Themen wie z.B. das Pro und Contra der Impfung usw. zuzulassen, außer sie würden denn von Experten, sprich anerkanntem Personal mit vorzeigbaren Referenzen stammen.
    Nun, BBD ist anderer Auffassung, aber ein Online-Magazin in unserer Nähe und mit ähnlicher Ausrichtung ist diesen Schritt nunmehr gegangen (https://www.dolomitenstadt.at/2021/08/09/kommentarfunktion-bei-covid-artikeln-deaktiviert/).
    Ich finde dies eine durchdachte Entscheidung, denn etwas Neues wie die Pandemie (und ihre Folgen) gibt der Vielzahl an Personen Aufwind, die sich bei jedem Thema als Experten fühlen.
    Vielleicht kann dieser Schritt aus Osttirol auch BBD Grund für Überlegungen liefern, denn – um noch ein Beispiel aus dem näheren Umfeld zu nehmen – Salto hat deutlich an Wert verloren, seit dort Gegner und Befürworter die Klinge kreuzen; und von Salto gesperrt werden, dann aber mit neuem Fake-Profil wieder auftauchen usw.

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