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Graubünden als Vorbild.

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von Walter Kircher*

Durch meine berufliche Tätigkeit lernte ich vor etwa sechs Jahren eine Alpenregion kennen, welche ich auf eigene private Initiative wohl nie kennen und dann schätzen gelernt hätte! Es handelt sich um die italienischsprachige Talschaft Valposchiavo/Puschlav in unserer Nachbarregion (Kanton) Graubünden in der Schweiz.

Bei privaten Besuchen und weiteren beruflichen Aufenthalten durch mehrere Wochen erlebte ich so eine Landschaft und Ihre Bewohner auf besonders liebenswerte Weise. Als landeskundlich interessierter Tiroler von südlich des Brenners — und Brixner, konnte ich spannende Vergleiche ziehen. Durch die geografische Lage fiel mir die extreme Situation einer kleinräumigen Passlandschaft)** auf, zwischen Gletscher und (einigen wenigen) Weinbergen, zwischen oft unpassierbaren Passwegen und heutiger Traumstrecke der weltberühmten Bernina-Bahn, zwischen (land)wirtschaftlicher Grenzsituation und Auswanderung aus existentieller Not und schließlich die konfessionellen Nöte der Reformation, hat die Bewohner in den beiden Gemeinden Poschiavo und Brusio bis heute geprägt!

Politisch bekannte sich das Seitental des oberen Veltlin an der Adda zu Napoleons Zeiten weiterhin zu Graubünden und damit zur Schweiz. Damit gibt es heute noch drei italienisch sprechende Täler in Graubünden. Zusammen mit der rätoromanischen und der deutschen Bevölkerung (mit Walsersiedlungen) stellt Graubünden ein ähnliches Gefüge dar wie Südtirol.

Bündnerkarte mit italianisierten Ortsnamen.

Zu den Parallelen zählt auch ein zeitgeschichtliches Kuriosum! – Ich staunte nicht schlecht, beim schmökern im letzten Band des vierbändigen Handbuch der Bündner Geschichte – 2000. Auf Seite 193 stieß ich auf folgenden Titel und Text:

Bündner Karte mit italianisierten Ortsnamen, 1940

Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatten italienische Irredentisten aufgrund der Forderung nach “natürlichen Grenzen” oder sprachlicher Gegebenheiten (Sprachgrenzen, Flurnamen) Konzepte zur Aufteilung des Schweizer Sprachgebietes veröffentlicht. Aber auch Geografen beschäftigten sich mit der Grenzproblematik und entwickelten in der Zeit des italienischen Faschismus Konzepte zur Grenzziehung, in denen der mehrsprachige Kanton Graubünden als neu aufzuteilendes Gebilde erschien.

Ein wichtiges Organ des Irredentismus war die Zeitschrift “Raetia”, die unter der Leitung des Professors Arrigo Solmi (nachmaliger Justizminister Mussolinis) von 1931 bis 1940 in Mailand erschien. Besonders intensiv war die irredentistische Agitation vor der Abstimmung über die Anerkennung des Rätoromanischen als vierte Landessprache (der Schweiz) 1938.

Hierbei behalf man sich zweier Argumentationsschienen, der geografisch-topografischen und der sprachlichen. Die geografische bestand in der Postulierung einer “catena mediana delle alpi”, einer Verbindungslinie der vermeintlich höchsten Gipfel der Alpen als Grenze zwischen Italien und der Schweiz. Die Grenzziehung anhand dieser “mittleren Alpenkette” bedeutete, dass die Kantone Graubünden, Tessin und Wallis zu Italien gehören sollten. Die sprachliche Argumentation beruht auf einem historischen Sprachgebrauch, welcher sich im Vorhandensein italienischer beziehungsweise mehr oder weniger leicht zu italianisierender Orts- und Flurnamen manifestiert.

So entstand diese Karte von Giorgio Lubera. Die Namen von Ortschaften, Flüssen, Bergen und Pässen erscheinen, wenn vorhanden, in italienischer Form. Für andere Namen bemüht der Autor teilweise belustigende italienische Worterfindungen, oder er italianisierte den vorhandenen romanischen oder einen alten lateinischen Namen.

Nun diese surrealen Anwandlungen sind im Falle der schweizerischen Kantone nicht Wirklichkeit geworden, aber dafür könnten wir Südtiroler aller drei Sprachgruppen uns einiges in Graubünden abschauen, so auch eine kultivierte Ortsnamengebung, welche stets der Einwohnerschaft Rechnung trägt. — Von Ort zu Ort, von Talschaft zu Talschaft!

— Ein Gedankenanstoß für eine Zukunft des Miteinanders im Respekt und Achtung vor der Geschichte unseres gemeinsamen Landes?

Dieser Beitrag ist auch im Bezirksblatt »Brixner« vom Oktober 2013 erschienen.

*) Walter Kircher (Jahrgang 1950) stammt aus Brixen und ist seit zwölf Jahren geprüfter Gästeführer (‘Euregio-Guide’)
**) Bezirk Bernina – Piz Palü 3.900 m/Campocologno 522 m – Distanz ca. 24 km


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Comentârs

2 responses to “Graubünden als Vorbild.”

  1. Senoner avatar
    Senoner

    Sehr interessant. Aufschlussreich auch diese Karte “la razza italiana”, wo die Graubündner als Italiener eingestuft werden:

    Secondo alcuni insigni linguisti il romancio non costituiva una lingua autonoma, ma un dialetto lombardo

    1. pérvasion avatar

      http://www.italiasvizzera150.it/studenti.cfm?target=8

      Wäre schön gewesen, hätte sich Italien zu seinem 150. Jubiläum auch mit Südtirol ähnlich (selbstkritisch) befasst.

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