Der Regionalrat hat am 22. April eine Gesetzesänderung zu den »Bestimmungen auf dem Gebiet der öffentlichen Körperschaften« (Gesetz Nr. 11/2014) genehmigt, mit dem auf Betreiben der SVP ausschließlich für Südtirol die Schaffung einer Richterkommission vorgeschrieben wird, die die Zulässigkeit von Volksabstimmungen in den Gemeinden zu überprüfen hat. Damit soll — so der unschwer zu erahnende Zusammenhang — weiteren »Pestizidabstimmungen« nach Malser Vorbild oder eben anderen nicht genehmen direktdemokratischen Äußerungen ein Riegel vorgeschoben werden. Willensbekundungen, die nicht unmittelbar mit geltendem Recht vereinbar sind, werden noch schwieriger als ohnehin.
Gegen die Schaffung der umstrittenen Richterkommission, der sich auch die Initiative für mehr Demokratie widersetzt, haben Grüne und Paul Köllensperger (5SB) gestimmt. Die Süd-Tiroler Freiheit (STF) hat sich enthalten, während Andreas Pöder (BU) und Freiheitliche (F) dafür gestimmt haben. Wie eine neutrale oder zustimmende Haltung mit dem Wunsch nach Selbstbestimmung vereinbar sein soll, den STF, BU und F (neben 5SB) unterstützen, erschließt sich nicht. Die Katalaninnen etwa scheiterten bislang mit der Umsetzung einer entsprechenden Abstimmung gerade deshalb, weil sich der spanische Zentralstaat einer Lösung verschließt und dem politischen Willen mit rechtlichen Hürden begegnet.
In einer Demokratie sollte sich die Legalität dem demokratischen Willen anpassen. Es muss zumindest gestattet sein, ihn mittels direktdemokratischer Verfahren in Erfahrung zu bringen, um die Umsetzbarkeit zu überprüfen. Die nun beschlossene und einzusetzende Richterkommission folgt dem gegenteiligen Grundsatz: Das Recht steht im Zweifelsfall vor (bzw. über) dem demokratischen Willen und eine Abstimmung muss vorab auf juristische Zulässigkeit überprüft werden. In letzter Konsequenz bedeutet dies auch, dass nicht die Bevölkerung über die staatliche Zugehörigkeit unseres Landes zu befinden hat, sondern ein Verfassungsartikel über die Unteilbarkeit des Staates. Veränderung wird — sowohl hinsichtlich der Pestizide, als auch in Bezug auf die Selbstbestimmung — deutlich erschwert, im Interesse der Machterhaltung.
Mitbestimmung Politik Recht Selbstbestimmung | | Andreas Pöder Paul Köllensperger | | Südtirol/o | 5SB/M5S BürgerUnion Freiheitliche STF SVP Vërc | Deutsch
6 replies on “‘Reaktionäre’ Richterkommission.”
Der vielzitierte Menasse zu plebiszitärer Demokratie:
Direkte Demokratie muss unbedingt verfassungskonform sein. Und wenn schon eine Abstimmung gemacht wird soll auch klar sein ob sie bei positivem Ausgang umgesetzt wird oder nicht. Plädoyer für den Schweizer Weg:
http://www.swissinfo.ch/direktedemokratie/europa-forum-luzern-2015_-die-schweiz-ist-eine-gute-blaupause-fuer-europa-/41407920?hootPostID=2c5b63f0c9afa2b34c2e8de6caa2e6e6
Zuständigkeiten von Gemeinden, Provinzen und Euregio als transnationales Projekt gehören zu den wichtigsten Themen des Autonomiekonvents.
Menasse kann ich an dieser Stelle kaum folgen. Hitler soll aufgrund plebiszitärer Mechanismen an die Macht gekommen oder das totalitäre Naziregime »basisdemkokratisch« gewesen sein? Das wäre mir neu.
Es ist doch so, dass Eliten in der Menschheitsgeschichte doch mehr Fehler als Gutes gemacht haben, sonst wären doch nicht so viele Kriege entstanden oder? Dass direktdemokratische Beteiligung fehlerfrei wäre will ich damit natürlich nicht behaupten, nur wird eine Fehlentscheidung durch die Mehrheit höhere Akzeptanz erfahren und deshalb eher als Chance als für Revanchegelüste Verwendung finden.
Eine Verfassung ist doch keine absolute Wahrheit, genauso wie religiöse Vorgaben dies nicht sein können. Selbst die rigide kath. Kirche bastelt seit ihrem Bestehen an deren Gesetzen herum. Natürlich braucht es Regeln und Werte für eine Gesellschaft, aber diese müssen von der Mehrheit getragen werden und nicht nur von Eliten bestimmt sein.
Wenn mich meine Geschichtskenntnisse nicht täuschen, ist der Nationalsozialismus doch nicht durch eine Mehrheit an die Macht gekommen, sondern durch Trixerei die nur durch Eliten möglich sind.
Umfragen sind Demokratiekiller, damit bin ich einverstanden, aber Umfragen sind keine Volksentscheide, die haben zum Glück doch eine andere Qualität.
Sehe ich wie Sie. Frage auch: wer legitimiert denn “Eliten” ?
sehr sehr guter kommentar.
ich war lange skeptisch was didem betraf. nach dem motto eines freundes:
seit einiger zeit bin ich aber zu ähnlichen schlüssen gekommen, wie du. die finanzkrise, viele kriege, die schuldenmisere sind auf entscheidungen von eliten passiert. ich glaube nicht, dass das “volk” dümmer hätte entscheiden können.
Wir Freiheitlichen haben deshalb zugestimmt, weil wir der Überzeugung sind, dass ein Richterkollegium unbefangener und unvoreingenommener die Fragestellung eines Promotorenkommitees prüfen kann. Anlässlich der letzthin erfolgten 2 Volksbefragungen über das Pestizidverbot in Mals und den Bau der Ploseseilbahn in Brixen, traten genau diese Schwachpunkte, einer von der Gemeindeverwaltung Gnaden eingesetzten Kommission zu Tage. In Brixen lies man sich zuerst sehr viel Zeit mit der Bewertung, um dann mit fadenscheinigen Argumenten eine vernünftige Fragestellung abzulehnen. In Mals, herrscht weiterhin Unklarheit über Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit der Volksbefragung. Deshalb haben wir im Regionalrat diesem Gesetzentwurf zugestimmt.