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»Italicum«: Wahlrecht oder Qualrecht?
Verfassungsreferendum (5/10)

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Die Einführung des neuen Wahlrechts für die Wahl der Kammer (und nur der Abgeordnetenkammer, weil der Senat gemäß Verfassungsreform nicht mehr direkt gewählt wird) ist zwar Gesetz (Staatsgesetz vom 6. Mai 2015, Nr. 52), doch damit noch nicht abgeschlossen. Denn es laufen zwei Klagen gegen das Gesetz wegen Verfassungsverletzung, über die das Höchstgericht Anfang 2017 entscheiden wird.

Das sogenannte Italicum musste verabschiedet werden, weil das vorherige Wahlgesetz (Porcellum) für verfassungswidrig erklärt worden war (VerfGH-Urteil Nr. 1/2014), und zwar vor allem in zwei Punkten:

  • Die Kandidatenlisten der Parteien waren “blockiert”, d.h. von den Parteien vorab festgelegt und von den Wählern per Vorzugsstimme nicht mehr veränderbar. Dies verstieß gegen den Grundsatz der Freiheit der Wahl.
  • Der Mehrheitsbonus wurde der jeweiligen Siegerpartei oder Koalition zuerkannt, ohne Mindesthürde an Stimmenanteil. Der VerfGH hielt es für verfassungswidrig, dass ein Mehrheitsbonus ohne Mindestvoraussetzung vergeben wird, weil dadurch der Grundsatz der Gleichheit der Wähler verletzt wird. Den Stimmen der Siegerpartei wurde viel mehr Gewicht zuerkannt, als jenen der übrigen Listen (Art. 48 Verf.: Die Wahl ist frei, die Stimmen sind gleich, i.V. mit dem Gleichheitsgrundsatz laut Art.3 Verf.).

In Zahlen ausgedrückt: Bei den Parlamentswahlen von 2013 mit dem Porcellum-Wahlrecht genügten den Mehrheitsparteien 29.000 Stimmen pro Sitz, während alle übrigen Listen (Opposition) über 80.000 Stimmen benötigten, um gewählt zu werden. Der PD erhielt mit seinen 8.646.457 Stimmen (25,42%) 292 Sitze (=47% der 630 Sitze), während die 5-Sterne-Bewegung mit 8.704.969 Stimmen (25,56%) nur 102 Sitze erhielt. Eine derartige Ungleichbehandlung der Wählerstimmen sollte künftig vermieden werden, so das Verfassungsgericht.

Dies muss vorausgeschickt werden, um die Fallen des Italicum zu verstehen. Denn dieses von der Regierungsmehrheit gewollte Gesetz geht nur zum Schein auf die verfassungswidrigen Aspekte ein, bringt dieseleben Kunstgriffe in abgewandelter Form. So geht das Italicum nur vordergründig von den blockierten Listen ab, über welche die Kandidaten in fixer Reihung gewählt werden, indem nur mehr der Listenführer von der Parteizentrale vorgegeben und damit “blockiert” ist und somit automatisch gewählt wird. Für die anderen Kandidaten können maximal zwei Vorzugsstimmen abgegeben werden. Der Trick besteht nun darin, dass in Italien hundert Wahlkreise geschaffen werden. Es ist unwahrscheinlich, dass in so vielen Wahlkreisen (fast einer pro Provinz) die Parteien mehr als einen Kandidaten durchbringen werden. Somit werden die drei-vier stärksten Parteien überall ihren vorab festgelegten Listenführer durchbringen. Damit sind schon gut 350 Abgeordnete auf 630 vorab durch die Parteizentralen “nominiert”. Die Freiheit der Wählerinnen, mit ihrer Vorzugsstimme die Zusammensetzung der Kammer zu beeinflussen, bleibt sehr gering. Die Zusammensetzung der Kammer ist zu einem guten Teil “vorgefertigt”.

Die zweite Scheinreform betrifft den Mehrheitsbonus. Hier schafft das Italicum zwar eine 40%-Mindesthürde, um der Siegerpartei 54% der Sitze zuzuschanzen. Der PD hat bei den EU-Wahlen 2015 40,2% erhalten. Schon bei diesem kaum mehr erreichbaren Ergebnis wäre der Mehrheitsbonus mit zusätzlich 15% der Sitze ungemein hoch. Erreicht keine der Parteien die 40%-Marke, kommt es zur Stichwahl zwischen den zwei stimmenstärksten Parteien, der Sieger der Stichwahl erhält definitiv die 54% der Sitze. Dies bedeutet aber, dass auch eine Partei mit 26% der Stimmen den Bonus von 54% erhält, und die nächststärkste mit 25% sowie alle anderen politischen Kräfte in die Minderheit drängt. Demokratisch gesehen ein Irrsinn. Nachdem bei Stichwahlen auch die Wahlbeteiligung immer abnimmt, entsteht die Gefahr, dass eine Partei mit tatsächlichem Stimmenrückhalt von einem Drittel oder Viertel der Wählerschaft alles allein beherrscht. Zudem wird im Unterschied zum Porcellum dieser Mehrheitsbonus einer Partei allein zuerkannt, keiner Parteienkoalition. Eine einzige Partei hält also 340 Sitze, wovon wiederum ein guter Teil parteitreue Listenführer sind.

Damit dachte die Regierungsmehrheit die Einwände des Verfassungsgerichts zum Porcellum auszuhebeln. Doch wird dieses Wahlrecht zu ganz groben Ungerechtigkeiten führen. Die Parteienlandschaft Italiens ist keine bipolare wie etwa in den USA, womit ein solches Wahlrecht alle kleineren Parteien abstraft. Die Freiheit der Vorzugsstimmenabgabe bleibt extrem eingeschränkt, die Gleichheit der Stimmen wird durch den Mehrheitsbonus ad absurdum geführt. Die Parteienherrschaft wird wesentlich verstärkt, die reale politische Landschaft im Parlament nicht abgebildet, eigentlich die Mehrheitsverhältnisse verzerrt.

Dabei gibt es schon eine Prozenthürde von 3%, die den Einzug von zu vielen Kleinparteien ins Parlament verhindert. So müssten die relativ stimmenstärksten Parteien eine Koalition bilden, was auch dem tatsächlichen Wählerwillen entspricht, nämlich eine demokratisch legitimierte Regierungsmehrheit zu bilden, keine Scheinmehrheit. Dadurch verletzt das Italicum wieder den Grundsatz der Gleichheit der Stimme und wird mit größter Wahrscheinlichkeit für verfassungswidrig erklärt. Sollte es nicht auf diesem Weg abgeschafft werden, wird mit Sicherheit ein abrogatives Referendum dagegen angestrengt.

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Comentârs

5 responses to “»Italicum«: Wahlrecht oder Qualrecht?
Verfassungsreferendum (5/10)

  1. pérvasion avatar

    Erreicht keine der Parteien die 40%-Marke, kommt es zur Stichwahl zwischen den zwei stimmenstärksten Parteien, der Sieger der Stichwahl erhält definitiv die 54% der Sitze. Dies bedeutet aber, dass auch eine Partei mit 26% der Stimmen den Bonus von 54% erhält, und die nächststärkste mit 25% sowie alle anderen politischen Kräfte in die Minderheit drängt. Demokratisch gesehen ein Irrsinn.

    Das habe ich nicht ganz verstanden. Vor allem die 26%. Ist das nur ein beliebiges Beispiel oder sind 26% die Untergrenze, um den Mehrheitsbonus zu bekommen?

    1. Libertè avatar
      Libertè

      Dies bedeutet aber, dass auch eine Partei mit 26% der Stimmen den Bonus von 54% erhält, und die nächststärkste mit 25% sowie alle anderen politischen Kräfte in die Minderheit drängt.

      Nach dem selben Argumenten wäre die BPW in Österreich auch “undemokratisch”.
      Zuerst findet halt eben eine Stichwahl statt, und anschließend werden die 54% zugewiesen.

      1. pérvasion avatar

        Ein Amt ist aber ganz was anderes als ein Parlament.

    2. Thomas Benedikter avatar

      Die 26%, lieber pérvasion, sind natürlich nur ein Beispiel, bezugnehmend auf die Wahlergebnisse von 2013, als PD und M5S ganz nahe zwischen 25 und 26% beieinander lagen. Nehmen wir realistischerweise an, der PD schafft bei den nächsten Kammerwahlen 33% und kommt dann mit dem M5S in die Stichwahl, gewinnt diese bei niedriger Wahlbeteiligung, dann wird diese Partei im Parlament dank Bonus alles beherrschen.
      Einspruch zu Liberté: es geht bei der BPW in Österreich um eine Person, die muss gewählt werden, eben per Stichwahl, was reichlich umständlich und aufwändig ist. Bei einer Parlamentswahl mit Verhältniswahl braucht es eigentlich keine Stichwahl, denn die Parteien haben die Verantwortung, tragfähige Koalitionen zu bilden und einer Regierung das Vertrauen auszusprechen. Somit ist die Antwort von pérvasion darauf treffend.
      Fazit: durch dieses Wahlrecht wird einfach der Wählerwille völlig verzerrt. Für die Stabilität einer Regierungsmehrheit und die “governabilità ” ist ein solcher Bonus auch gar nicht nötig.

  2. Manfred C. Hettlage avatar

    Die sog. Siegerprämie für eine Minderheiten-Partei bleibt ein nachträglicher Eingriff in das Wahlergebnis, durch den der Wählerwille verfälscht wird.

    Historisch geht diese rabiate Form der ‘Mehrheitsbeschaffung’ auf Benito Musselini zurück. Auf sein Betreiben wurden 1924 die Wahlbezirke abgeschafft und mit nationalen Listen für ganz Italien (listone) gewählt. Außerdem wurde damals der Partei mit der einfachen Mehrheit der Stimmen sogar zwei Drittel der Mandate zugesprochen, bis der Duce 1926 (…) sich endgültig zum Diktator aufschwang.

    (Vgl. M. Hettlage: “Die Berliner Republik unter dem Damoklesschwert / Wahlgesetz, Wahlgrundsätze und Wahlprüfung”, 2016, Seite 131 ff (132), ISBN 978-3-7103-2880-0.)

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