Gestern ist in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) ein Artikel über den Kampf der Rätoromaninnen in der Schweiz gegen die Germanisierung erschienen. Darauf hat mich ein Freund hingewiesen.
Ausschnitt (NZZ)
Das Rätoromanische sei 1938 Schweizer Landessprache geworden, 1996 Amtssprache des Bundes im Verkehr mit den Rätoromaninnen — und zwar beides Mal durch Volksabstimmung. In Graubünden sei Rätoromanisch zudem neben Deutsch und Italienisch eine von drei gleichberechtigten Amtssprachen. Doch trotz der starken institutionellen Absicherung bleibe der Bestand der Sprachgemeinschaft unsicher.
Industrialisierung und Tourismus seit Ende des 19. Jahrhunderts hätten einen starken deutschsprachigen Einfluss mit sich gebracht.
Doch die Standardsprache Rumantsch Grischun habe sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts »in der Verwaltung, in der Werbung, in offiziellen Bekanntmachungen und Durchsagen sowie in den Online-Kanälen der Medien und der Zentralverwaltungen« durchgesetzt.
Es gebe interessante neue Projekte, die sich mit der rätoromanischen Sprachgruppe beschäftigten. Unter anderem wird erwähnt, dass der Zürcher Professor Rico Valär die Zusammenarbeit der romanischen Minderheiten in Graubünden, Südtirol und Friaul untersuchen will.
Bedeutend finde ich persönlich insbesondere den letzten Absatz des Artikels. Dort heißt es:
Doch das demografische Umfeld ist deprimierend: Deutschsprachige, die ins rätoromanische Sprachgebiet einwandern, müssen nicht Rätoromanisch lernen, wenn sie nicht wollen. Denn die Rätoromanen sprechen alle auch Deutsch. So tragen sie selber ein wenig zu ihrer Marginalisierung bei.
– Roger Blum (NZZ)
Dasselbe gilt für die meisten Sprachminderheiten dieser Welt, auch jene in Südtirol. Hierzulande gibt es ein Gefälle Italienisch > Deutsch > Ladinisch in dem Sinne, dass Italienischsprachige, die nach Südtirol ziehen, grundsätzlich nicht Deutsch lernen müssen, wenn sie nicht wollen. Das wird ihnen sogar zunehmend erleichtert, je mehr sich dieser Trend fortsetzt, anstatt dass Gegenmaßnahmen ergriffen würden.
Italienisch- und Deutschsprachige, die in die Ladinia ziehen, müssen ebenfalls kein Ladinisch lernen. Der entsprechende Druck ist äußerst gering.
Der Hinweis, die Rätoromaninnen trügen selber ein wenig zu ihrer Marginalisierung bei, weil sie alle auch Deutsch sprechen, ist zwar formal richtig. Gleichzeitig ist es aber auch eine Art Victim-Blaming: Minderheiten haben oft gar keine andere Wahl, als — aufgrund von struktureller Gewalt — auch quasi ausnahmslos die Mehrheitssprache zu beherrschen. Solange das so ist und umgekehrt nur in sehr eingeschränktem Maß gilt, ist diese Art von »Beitrag zur Selbstmarginalisierung« unfreiwillig.
Andererseits darf man den asymmetrischen Wunsch, die Mehrheitssprache zu erlernen, durchaus kritisch hinterfragen und versuchen, auf diese Einseitigkeit bewusst einzuwirken.
Wie das Rätoromanische in der Schweiz schrumpfen auch das Deutsche und das Dolomitenladinische in Südtirol.
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