Die Terrormilizen des IS haben den Nordirak seit Juni 2014 überrollt, kontrollieren jetzt weite Teile des Irak und Syriens und haben ein Kalifat, also einen islamischen Staat nach dem Muster des Kalifenreichs im 7. und 8. Jh., ausgerufen. Sie massakrieren Kurden, christliche Assyrer, Jesiden, haben tausende irakische Soldaten exekutiert, vertreiben alle Nicht-Muslime, versklaven die Frauen. Es wird die Scharia nach ihren Vorstellungen eingeführt. Über 500.000 Flüchtlinge haben in der autonomen Region Kurdistan und in der autonomen Region Rojava im Norden Syriens Schutz gesucht. Neben der humanitären Hilfe scheint es unausweichlich, die Kurden mit Waffen zu versorgen, wenn die Massaker der Dschihadisten beendet werden sollen. Doch neue Waffen in ein Kriegsgebiet zu liefern, so der Einwand, fördert doch neue Gewalt. Und wird nicht am Ende damit ein eigener kurdischer Staat befördert?
Kurden demonstrieren in Bozen
Unabhängiges Kurdistan nicht auf der Tagesordnung
Wenn die Autonome Region Kurdistan oder auch eine größere, mehrheitlich von Kurden besiedelte Gebietseinheit die staatliche Eigenständigkeit fordert, wäre das nicht so abwegig. Die Kurden sind das größte Volk ohne eigenen Staat, aufgeteilt auf mindestens vier Staaten. Seit 1923 ist ihnen in all diesen Staaten übel mitgespielt worden, von politischer Unterdrückung über offene Diskriminierung bis hin zu Halabja 1988, als Saddam Hussein eine kurdische Stadt mit Giftgas vernichtete. Nur im Irak hat sich seit 2003 viel verbessert, in der Türkei erst sehr langsam seit der Machtübernahme durch Erdoğan vor zehn Jahren.
Die Kurden haben das Recht auf Schutz und Selbstverteidigung. Die Zentralregierung des Irak kann diesen Schutz nicht mehr bieten. Die Kurden haben dort seit 1991 Autonomie, in Syrien seit Anfang 2014 und verfügen über eigene Selbstverteidigungskräfte. Die Einheit des Irak haben die Kurden bisher geachtet. Der Präsident des Irak ist ein Kurde, auch der Außenminister. Es steht wohl nicht auf der Agenda der irakischen Kurden, in dieser Krise die Unabhängigkeit auszurufen. Die traditionell zu Kurdistan gehörenden Gebiete, wie z.B. die Millionenstadt Kirkuk, wollen die Kurden legitimerweise zurück. Auch die autonome kurdische Region im Norden Syriens will nicht Syrien als Staat auflösen, lehnt aber jeden neuen Zentralismus ab.
Der Westen hat in Syrien versagt
Der Westen, die großen Mächte, tragen eine ganz wesentliche Mitverantwortung dafür, dass die Lage in Syrien und im Nordirak völlig aus dem Ruder läuft. Seit fast dreieinhalb Jahren herrscht Bürgerkrieg, vor allem des Regimes Assad gegen das eigene Volk mit mittlerweile mindestens 140.000 Opfern. Der Westen hat nicht interveniert, Russland hat fleißig Waffen an das Assad-Regime geliefert. Die Dschihadistenverbände haben sich mit Al Kaida und anderen Extremisten vereint und kontrollieren weite Teile vor allem im Osten von Syrien. Es war Syriens Diktator Assad, der den IS-Terroristen erst zu dieser Macht verholfen hat. Das Assad-Regime hat viel mehr Zivilisten und Oppositionsmitglieder auf dem Gewissen, als das neue Kalifat. Dieses neue Terrorregime im Osten Syriens und im Nordwesten des Irak konnte nur entstehen, weil man Assad gewähren ließ. Nicht einmal eine Flugverbotszone zum Schutz der Zivilbevölkerung wurde in Syrien verhängt.
In Irak sind breite Teile der sunnitischen Bevölkerung im Westen des Irak von der schiitisch dominierten Regierung stark enttäuscht, fühlen sich diskriminiert. Viele sunnitische Stammeskämpfer haben sich auf die Seite der IS-Milizen geschlagen, sie wollen vor allem die Regierung Al Maliki weghaben. Der IS konnte sich im Nordirak nur deshalb so schnell durchsetzen, weil er Unterstützung durch die Stammeskrieger der Sunniten erhielt. Wenn die sunnitische Minderheit nicht ebenbürtig wieder in die Regierung in Bagdad einbezogen wird, riskiert der Irak sehr bald den Zerfall in zwei oder drei Teile.
Waffenlieferungen an die Kurden in Syrien und im Irak bringen keine neuen Risiken
Die kurdisch kontrollierten Gebiete im Irak und im Norden Syriens gehören nicht nur zu den sichersten Gebieten dieser Krisenzone, sondern auch zu den wenigen halbwegs demokratischen Gebieten. Die Kurden sind ein Stabilitätsfaktor in dieser Situation. Das autonome Kurdengebiet in Syrien will nicht, dass Syrien auseinanderbricht, aber auch nicht Opfer der Dschihadisten werden. Diese Gebiete wie die Autonome Region Kurdistan verfügen schon seit Jahrzehnten über Waffen, aber zu wenig, um den IS-Milizen auf Dauer standzuhalten. Dabei sind die Kurden derzeit die einzigen Kräfte, die am Boden militärisch eingreifen können, um den IS-Terror zu stoppen. Die Peschmerga sind eine erprobte kleine Armee, aber sie haben es mit Milizen zu tun, die vor nichts zurückschrecken und über moderne Waffen verfügen.
Kurden in Syrien brauchen noch dringender Hilfe
Noch dringender Hilfe benötigen die Kurden Syriens. Zu Beginn dieses Jahres ist in einem großen Gebiet längs der Grenze zur Türkei eine autonome Region ausgerufen worden, die Rojava genannt wird. Dort gibt es eine gewählte Regierung, die den multiethnischen und multireligiösen Charakter dieses Gebietes widerspiegelt. Doch Rojava ist eingekeilt zwischen dem IS-Kalifat, dem Assad-Regime, der Türkei und einem Irak, der mit sich selbst beschäftigt ist, sich selbst nicht verteidigen kann. Rojava braucht dringend Anerkennung und Unterstützung.
Wenn europäische Staaten jetzt keine Waffen an die Kurden liefern, wäre das die größte Heuchelei. Der Westen hat alle diese Regimes vom Irak, über Syrien, Saudi-Arabien bis Israel mit Waffen beliefert, die allesamt massiv Menschenrechte verletzten, Kriege führen gegen die eigene Bevölkerung oder die arabische Bevölkerung in besetzten Gebieten seit Jahrzehnten terrorisieren. Saudi Arabien wird bedenkenlos von den USA, Deutschland und Großbritannien hochgerüstet. Dabei kommen viele IS-Kämpfer und höchstwahrscheinlich finanzielle Unterstützung gerade aus diesem Land. Wenn schon die UNO oder NATO nicht eingreifen, müssen zumindest die direkt Betroffenen vor Ort in die Lage versetzt werden, sich zu wehren.
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