Zur Vorstellung der Studie von Daniel M. Abrams und Steven H. Strogatz über die »Modellierung der Sprachtoddynamik«1Originaltitel: Modelling the dynamics of language death. reichte in Nature vom 21. August 2003 (Vol. 424 – S. 900) eine einzige Seite. Auch anhand historischer Daten hatten die beiden Wissenschafter der renommierten Cornell University in New York zuvor ein Modell entwickelt, um den Sprachwechsel (language shift) ganzer Gemeinschaften beschreiben, erklären und künftig womöglich vorhersagen zu können. Dies soll dazu dienen, Programme zum Spracherhalt erfolgversprechender zu gestalten und zu evaluieren.
Aus Südtiroler Sicht von enormer Bedeutung ist meiner Meinung nach die Feststellung, dass Sprachen, wenn sie im Wettbewerb miteinander stehen (language competition), de facto nicht stabil koexistieren können. Das Modell wurde anhand von 42 Regionen in so unterschiedlichen Ländern und Gebieten wie Peru, Schottland, Wales, Bolivien, Irland oder Elsass-Lothringen mit jeweils sehr ähnlichen Ergebnissen überprüft. Entscheidend dafür, welche Sprache sich im Kontakt mit einer anderen durchsetzt, sind laut Abrams und Strogatz insbesondere die Anzahl an Sprechenden und der Status (das Prestige) einer Sprache. Dass sich jedoch eine der beiden Sprachen gegen die andere durchsetzen wird, steht ziemlich außer Frage.
Wie die beiden Wissenschafter einräumen, existieren mehrsprachige Gesellschaften in der Realität trotzdem. Zu erklären sei dies jedoch bloß damit, dass es sich dabei eigentlich um unterschiedliche Gemeinschaften handle, die in einem Gebiet zusammenleben. In Südtirol würde man vielleicht sagen: sie leben nebeneinander, aber nicht miteinander. Sobald sich diese Gemeinschaften jedoch stärker vermischen, setzt der Sprachwettbewerb mit der bekannten und quasi unausweichlichen Folge ein, dass sich über kurz oder lang nur eine Sprache halten wird.
Man kann also wohl sagen, dass eine Gesellschaft als ganze paradoxerweise umso stabiler mehrsprachig bleibt, je weniger sich die Sprachgemeinschaften vermischen. Oder jedenfalls, dass auch Einsprachigkeit nötig ist, um die Mehrsprachigkeit des Systems sicherzustellen (vgl. 01
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Abrams und Strogatz weisen in Nature ausdrücklich darauf hin, das Beispiel von Québec — mit seiner stark asymmetrischen Förderung des Französischen — zeige, dass Sprachgesetze, Bildungssystem und Sensibilisierung den Status einer gefährdeten Sprache erhöhen und ihren Niedergang verlangsamen (aber wohl nicht verhindern) können. Eine rigorose Sprachpolitik wie in Québec fehlt in Südtirol fast vollständig.
Dass in der Studie auch Sprachen wie Deutsch (in Elsass-Lothringen) und Französisch (in Québec) berücksichtigt wurden, macht übrigens auch deutlich, dass das Modell und seine Vorhersagen keineswegs nur auf reine Minderheitensprachen (also Sprachen ohne Staat) anwendbar sind. Es ist wohl höchstens so, dass eine Sprache, die andernorts Staatssprache ist, oft davon einen höheren Status ableiten kann, womit ihr Niedergang als Minderheitensprache verlangsamt werden kann.
Anders als in Québec und in den meisten anderen Minderheitengebieten, die mir bekannt sind, gibt es in Südtirol noch häufig die romantische (und naive) Vorstellung, dass sich mehrere Sprachen notwendigerweise gegenseitig bereichern und zum Beispiel mehrsprachige Schulen ohne asymmetrische Vorkehrungsmaßnahmen eingeführt werden könnten, ohne dass dies negative Folgen auf den Fortbestand der mehrsprachigen Gesellschaft haben würde.
Realistischer scheinen es da die italienischen Rechtsparteien (und allgemein die nationalistischen Kräfte) einzuschätzen, die seit geraumer Zeit erkannt oder zumindest erahnt haben, dass eine gleichberechtigte Vermischung der beiden Gemeinschaften letztendlich den Niedergang der Minderheit bedeuten wird.
Auf die einflussreiche Studie von Abrams und Strogatz aufmerksam geworden bin ich übrigens durch eine Arbeit von Pablo Rosillo-Rodes, Maxi San Miguel und David Sánchez, die im November 2023 veröffentlicht wurde.2doi: 10.1063/5.0166636 Die drei Wissenschafter schlagen vor, das Modell um den Faktor »Sprachideologie« zu erweitern und es somit in seiner Aussagekraft zu verfeinern, damit Vorhersagen über die Dauer der Koexistenz zweier Sprach(varietät)en und über diejenige, die sich durchsetzen wird, zumindest theoretisch3in der Realität liegen angeblich zu wenige bzw. zu schlechte Daten vor, um damit arbeiten zu können noch genauer werden. Sie kommen zum Schluss, dass subjektive bzw. kollektive Präferenzen und Einstellungen zu einer Sprache (in Südtirol vielleicht Mythen wie: »Deutsch ist zu schwer«, »die Südtirolerinnen sprechen gar nicht richtiges Deutsch« und »sie sprechen lieber Italienisch als Standarddeutsch«, »Italienisch klingt besser und melodischer« etc.) andere Faktoren konterkarieren respektive verstärken können. Auch Rosillo-Rodes, San Miguel und Sánchez kommen jedoch zum Schluss: Je stärker der Kontakt zwischen den Gruppen, desto unwahrscheinlicher die dauerhafte Koexistenz mehrerer Sprachen.
Siehe auch: 01
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07
|| 01
- 1Originaltitel: Modelling the dynamics of language death.
- 2doi: 10.1063/5.0166636
- 3in der Realität liegen angeblich zu wenige bzw. zu schlechte Daten vor, um damit arbeiten zu können
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