Eine gängige Erzählung, die auch im Rahmen der Debatte um die Schule in Südtirol häufig zu vernehmen ist, geht so: Die deutschsprachigen Südtirolerinnen reden Dialekt und das ist schlecht — einmal per se, weil Dialekte minderwertig sind und einmal, weil dadurch die Italienischsprachigen (aber merkwürdigerweise nicht die Ladinischsprachigen) ausgegrenzt werden, die die in der Schule erlernte deutsche »Standardsprache« im Alltag nicht verwenden können. Das geht so weit, dass einzelne Extremistinnen behaupten, die Deutschsprachigen verletzten das Autonomiestatut, von dem ja die deutsche Sprache und nicht der Tiroler Dialekt geschützt werde (01
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).
Und unter »deutscher Sprache« könne man nur die sogenannte »Standardsprache« verstehen. Als wäre die Autonomie nicht speziell als Schutzinstrument der Südtirolerinnen ladinischer und deutscher Zunge ersonnen worden, die seit jeher — also natürlich auch als das Gruber-Degasperi-Abkommen unterzeichnet wurde — Dialekt sprechen, sondern zugunsten einer abstrakten und angeblich »reinen« deutschen Sprache bzw. Sprachgemeinschaft.
Standardismus
Der Dialekt hat — nicht nur hierzulande — grundsätzlich eine schlechte Presse, ist dabei für manche aber auch eine bequeme Ausrede, um sich der Zweitsprache zu verweigern und überlagert sich in Südtirol zu allem Überfluss mit dem Linguizismus, mit dem minorisierte Sprachen fast immer konfrontiert sind. Dass die Italienischsprachigen in Südtirol historisch bedingt über keinen gemeinsamen Dialekt verfügen, trägt auch nicht dazu bei, dass sie mehr Verständnis für den Dialekt, also die Umgangssprache der Anderen aufbringen.
All das führt unter anderem dazu, dass der als minderwertig empfundene Dialekt insbesondere in der italienischen Schule weitgehend Tabu ist und auch außerschulisch nicht als Teil der Zweitsprache betrachtet und erlernt wird. Womöglich ziehen es einige sogar vor, gar nicht Deutsch zu sprechen, um ihre mitunter geringen »Standardsprachkenntnisse« vor der Verschmutzung durch den Dialekt zu schützen.
Es ist natürlich einfacher, darauf zu pochen, dass die Deutschsprachigen ihren Dialekt aufgeben und beginnen, auch miteinander reines Schriftdeutsch zu parlieren — was natürlich nicht eintreten wird. Genauso gut könnte man die vollständige Aufgabe der deutschen Sprache fordern.
Der beschwerlichere, aber vermutlich einzig zielführende und respektvolle Weg wäre es hingegen, die eigenen Vorurteile gegenüber dem Dialekt zu überdenken und sich seinem Erwerb zu öffnen, und zwar selbstverständlich auch in der Schule. Denn nicht der Dialekt, sondern seine vorurteilsbehaftete Ablehnung führt zur Ausgrenzung.
Wenn die Titularnation der minorisierten Gemeinschaft vorschreiben will, wie sie zu sprechen hat, ist das eine — im konkreten Fall von Sprachpurismus geleitete — Form von Suprematismus.
Da die Standardsprachenideologie dem Nationalstaat inhärent ist, kommt der Sprachkolonialismus auch aus dem deutschen Sprachraum (01
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). In diesem Fall betrifft er neben Südtirol zum Beispiel auch Staaten wie Österreich und die Schweiz, die aber über bessere Mittel verfügen, um sich dagegen zur Wehr zu setzen, als eine Minderheit, die in ihrer Substanz bzw. Existenz gefährdet ist.
Viele Ladinerinnen wehren sich übrigens bis heute gegen die Einführung einer Standardsprache, die vieles einfacher machen würde, weil sie befürchten, dass sie dann »gezwungen« sein werden, diese »Kunstsprache« statt ihrer örtlichen Varietäten zu sprechen. Diese Befürchtung ist aufgrund der nach wie vor grassierenden Standardsprachenideologie leider nicht von der Hand zu weisen, wiewohl sie das Ladinische eines wichtigen übergreifenden Kommunikationsinstruments beraubt.
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