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Großbritannien und das Chagos-Archipel.
Ende der letzten britischen Kolonie in Afrika

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Am 22. Mai wechselte der Chagos Archipel den Eigentümer. Anstelle von Großbritannien tritt Mauritius. Eine lange Kolonialgeschichte geht damit zu Ende. Nicht aber die Entkolonisierung.

Seit 1814 »besaßen« die Briten die Chagos-Inselgruppe, im indischen Ozean zwischen den Malediven und Madagaskar, »nahe« an Mauritius. In den 1960er Jahren übergab Großbritannien die größte Insel, Diego Garcia, an die USA. Seit damals ein US-Luftwaffenstützpunkt. Die Einwohner wurden kurzerhand »ausgesiedelt«, also vertrieben.

In den 1960er Jahren »entließen« die Briten Mauritius in die Unabhängigkeit, ein Tauschgeschäft. Chagos blieb aber britisch. Für die Einwohner eine Tragödie. Die mehr als 2.000 Archipel-Bewohner mussten ihre Heimat verlassen, eine britische Variante »ethnischer Säuberung«.

Seit 1998 versuchen Vertriebene mit Klagen die Rückkehr zu erstreiten. Im Jahr 2000 erklärte der britische High Court of Justice die Deportationen für illegal und sprach den »Ausgesiedelten« das Recht auf Rückkehr zu. Die britischen Regierungen wehrten sich gegen den Richterspruch und setzten ihn einfach nicht um. Schlimmer, die Verbannung wurde nachträglich legitimiert.

Immer wieder kam es zu Protestaktionen, wurden demonstrierende Chagossier (Îlois) verhaftet. Im Jahr 2010 wandte sich Mauritius mit einer Klage an den Ständigen Schiedshof in Den Haag, die international anerkannte Institution zur friedlichen Beilegung von Konflikten. 2013 folgten Chagossier mit einer eigenen Klage gegen Großbritannien.

Klagen gegen Groẞbritannien

Im Jahr 2017 beschäftigten sich die UNO und ihr Internationaler Gerichtshof mit dem Fall des Archipels. 2019 forderte die UN-Vollversammlung Großbritannien auf, Chagos an Mauritius zu übergeben und 2021 sprach dann der Internationale Seegerichtshof Chagos dem klagenden Mauritius zu.

Einer der Akteure beim Internationalen Seegerichtshof ist der britisch-französische Anwalt Philippe Sands, ein ausgewiesener Völkerrechtler und Direktor des Zentrums für internationale Gerichte am University College London. Sands, Sohn von Holocaust-Überlebenden, setzt sich für eine Verankerung des Ökozids im internationalen Strafrecht ein, um einzelne Personen für schwere Umweltschäden verantwortlich machen zu können.

Sands hat für Mauritius die britische Übergabe von Chagos an Mauritius durchgefochten. Jetzt geht es um Kompensationen für die Vertriebenen und um die Verlängerung des Pachtvertrages der US-Militärbasis. Mauritius bot an, den 2036 auslaufenden Vertrag um weitere 99 Jahre zu verlängern, um die Vereinbarung zum Abschluss zu bringen.

Für Philippe Sands ist die Lage eindeutig, das beschreibt er auch in seinem Buch Die letzte Kolonie: Die Deportation der Chagossier war illegal, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. »Die Chagossier werden ein Rückkehrrecht bekommen«, sagte Sands der ARD. »Aber sie kehren als Teil von Mauritius zurück, nicht in ein unabhängiges Land. Das sieht internationales Recht einfach nicht vor.«

Rückkehr nach Chagos, ein Vorbild für die Vertriebenen aus Bosnien, aus der Ukraine, aus Arzach (Berg-Karabach)?

Die nun erworbenen Hoheitsrechte sind Mauritius nicht mehr zu nehmen, warnt Sands vor Illusionen. Die chagossische Gemeinde im Vereinigten Königreich kämpft aber weiter für die totale Unabhängigkeit, jetzt von Mauritius. Zwei Klägerinnen wandten sich mit einer Klage gegen die Einverleibung von Chagos durch Mauritius.

Die britische Rechte warnt

Der konservative britische Spectator kanzelte in einem Kommentar die amtierende sozialdemokratische Regierung ab. Großbritannien sei kein ernstzunehmendes Land mehr, giftete das Blatt. Dabei waren es die Konservativen, die auch auf internationalen Druck hin das Übergabeabkommen mitformulierten.

Den Spectator ärgert das Kleingedruckte der Übergabe: Mauritier und mauritische Unternehmen sollen bei der Beschäftigung auf dem Stützpunkt Diego Garcia bevorzugt werden.

Dieser ist künftig in Übereinstimmung mit dem mauritischen Umweltrecht zu betreiben und das Vereinigte Königreich hat Mauritius über alle militärischen Aktivitäten zu informieren, die von dort aus durchgeführt werden. Gleichzeitig muss Großbritannien an Mauritius jährlich (99 Jahre lang bleibt Diego Garcia in britischer »Pacht«), 120 Millionen Euro überweisen.

Der konservative Spectator entdeckte plötzlich auch die Existenz der Chagossier. Bei den Verhandlungen zwischen Großbritannien und Mauritius spielten die Anliegen der Chagossier für Mauritius keine Rolle, kritisierte das rechte Blatt. Immerhin, betont der Spectator, verlieh das Vereinigte Königreich den Chagossiern die britische Staatsbürgerschaft. Eine dürftige »Wiedergutmachung« für die Vertreibung der Einwohner von Chargos durch Großbritannien. Verdrängt und vergessen.

Der Spectator zerbricht sich den Kopf über die Folgen des »gefährlichen Präzedenzfalls für andere britische Überseegebiete«. Und nicht nur, wird gewarnt: Das Urteil kann weltweit »territorialen Irredentismus« fördern und möglicherweise die »Staatlichkeit postkolonialer souveräner Staaten« gefährden. Das Blatt verweist auf die argentinischen Bemühungen, die britischen Falklandinseln »heimzuholen«, genauso sind die Souveränität von Gibraltar und die britischen Hoheitszonen auf Zypern gefährdet. Kurzum, die Übergabe von Chagos an Mauritius ist für den Spectator ein riesiger Fehler. Zum Schaden Großbritanniens.

Selbstbestimmungsrecht neu definieren

Philipp Sands deutete es bereits an, die vertriebenen Chagossier dürfen immerhin auf ihre Inseln zurückkehren, erhalten für die Vertreibung eine Entschädigung, die Inseln werden aber Teil von Mauritius.

Laut dem Rechtswissenschaftler Peter Hilpold von der Universität Innsbruck ist »einmal mehr die problematische Natur des Selbstbestimmungsrechts, in seinem traditionellen Verständnis«, deutlich geworden. Immer häufiger thematisieren die Wissenschaftsliteratur und die Gerichte die Frage, so Professor Hilpold, wem das Selbstbestimmungsrecht zusteht. Dem Staat – oder dem betroffenen Volk?

Der Fall Chagos kann zu einer neuen Grundlage werden, das Selbstbestimmungsrecht weltweit neu zu definieren, so Professor Hilpold laut dem Onlineportal Salto: »Es geht nicht darum, dass Grenzen neu gezogen werden. Aber man kann das Thema jetzt mit einem anderen Blick diskutieren, menschenrechtsorientiert, weniger dogmatisch.«

Der Selbstbestimmungsprozess um die Chagos-Inseln wirft auch Fragen für andere Minderheitenregionen auf, beispielsweise — trotz Augias-Schelte über den Zufallsitaliener Sinner und Trikolore-Shitstorms — auch für Südtirol, ist Hilpold überzeugt. Er beschäftigt sich schon lange mit Chagos. 2022 behandelte Hilpold das Thema im Nordic Journal of International Law. Seine These lautet, das Selbstbestimmungsrecht müsse »humanisiert« werden: »Bislang wurde das Selbstbestimmungsrecht oft als rein staatsrechtliches Konzept verstanden, man sprach zwar vom ‚Recht der Völker‘, meinte aber meist: Staaten streiten um Grenzen, um territoriale Ansprüche.« (Salto)

Die aktuelle Diskussion, Chagos gibt den Anstoß, könnte zu einer neuen Auslegung des Selbstbestimmungsrechts führen, gibt sich Hilpold optimistisch. Zum Beispiel: »Die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker soll nicht der Mehrung staatlicher Macht dienen, sondern den Menschen, die auf dem betreffenden Territorium leben oder — im Falle einer Vertreibung wie auf den Chagos-Inseln — dort gelebt haben.«

Anders formuliert, die Stimme der Betroffenen soll und muss endlich gehört werden.

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