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Fahnen sollen brennen (wenn sie Symbole der Unterdrückung sind).

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von Nicola Canestrini

Es gibt etwas tief Widersprüchliches in der Art und Weise, wie wir mit Symbolen umgehen. Die Fahne, zum Beispiel. Sie sollte eine Idee der Einheit, der Zugehörigkeit, des Teilens darstellen. Und stattdessen hat sie in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart zu oft dem Konflikt gedient. Um Unterschiede zu markieren. Um Grenzen zu ziehen. Um Kriege zu erklären. Um Hass gegenüber dem »Anderen« zu rechtfertigen.

Aber die Überbetonung des Begriffs »Nation« ist der Vorraum des Nationalismus – jenes »komplexe Geflecht aus ideologischen und politischen Verhaltensweisen, das, indem es den Begriff der Nation mit dem der Heimat gleichsetzt und das natürliche moralische Gefühl des Patriotismus sowie das politische Prinzip der Nationalität deformiert und übersteigert, die Nation als höchsten ethisch-politischen und ethisch-kulturellen Wert betrachtet und das Prestige der Nation zum obersten und alles bestimmenden Prinzip macht, an dem sich das politische Handeln zu orientieren hat« (Großes Wörterbuch der italienischen Sprache, Turin 1981). Es traten ja die Verfechter des Nationalismus, die sich in der Associazione Nazionalista Italiana organisierten – gegründet nach einem Kongress in Florenz im Jahr 1910 – dem Faschismus bei.

Nationalismen, die sich von Symbolen wie der Fahne nähren, waren – und sind noch immer – Ursache von Kriegen. Sie waren und sind bis heute der ideologische (und physische) Hintergrund von Invasionen, Unterdrückungen, »Säuberungen«, Besetzungen. Im Namen einer Fahne wurde marschiert, wurde eingedrungen, wurde getötet. Und auch in diesen Tagen wird marschiert, wird eingedrungen, wird getötet – sogar in unserer unmittelbaren Nähe.

Und dennoch schwenken wir weiterhin diese Farben, als wären sie unantastbar, als dürften sie niemals infrage gestellt werden.

Und wehe dem, der sie kritisiert: Wer das tut, riskiert einen Prozess – medial, aber auch strafrechtlich.

Das geschieht in Italien, wo es im Strafgesetzbuch noch immer eine Vorschrift gibt, die jene bestraft, die die Nationalflagge »verächtlich machen«. Ein Tatbestand, der nach vergangenen Zeiten riecht – nach Regimen, die Angst vor dem Dissens hatten und Stärke durch den Kult ihrer Symbole demonstrieren mussten.

Gerade für Menschen, die in Grenzregionen wie Südtirol leben, hat der Gebrauch der Fahne – und ganz allgemein der nationalistischen Symbole Italiens – im Laufe des 20. Jahrhunderts eine besonders schmerzhafte Bedeutung angenommen.

Hier war die Trikolore ein Zeichen der Eroberung, der Aufzwingung, der Auslöschung der Identität.

Wie kann man nicht an den – offenbar noch immer aktuellen – Anspruch auf das Bozner Siegesdenkmal erinnern? »Hinc patriae fines, siste signa. Hinc ceteros excolvimvs lingva legibvs artibvs.«

Die erzwungene Zurschaustellung der Fahne – zusammen mit der Aufzwingung der italienischen Sprache, der Tilgung der deutschen Ortsnamen, der kulturellen und politischen Repression – war ein integraler Bestandteil einer Strategie gewaltsamer Assimilation, die mit dem faschistischen Marsch auf Bozen 1922 begann (mit der Absetzung von Bürgermeister Julius Perathoner) und leider, in weniger offenkundigen, aber ebenso unterdrückenden Formen, auch in der Republik nach 1946 fortgeführt wurde.

Man dachte zum Beispiel auch in der Nachkriegszeit nicht daran, die »sprachliche Säuberung« von Ettore Tolomei rückgängig zu machen, sondern entschied sich, das ideologische Projekt, das sie begleitete – nämlich die Leugnung der Existenz der lokalen Kultur zugunsten einer künstlichen, kolonialisierenden »italianità« – nicht zu widerrufen.

Es ist betrüblich – und liefert den gegensätzlichen Extremisten neue Nahrung –, dass selbst Jahrzehnte nach Kriegsende, und noch heute, der italienische Staat im Namen der nationalen Einheit an den »erfundenen« Ortsnamen festhält.

Der Streit um zweisprachige oder dreisprachige Beschilderung ist nur das letzte Kapitel einer langen und für viele noch immer schmerzhaften Geschichte.

In diesem Kontext gibt es Menschen, die meinen, die Kritik an aufgezwungenen Symbolen sei ein Akt kultureller Selbstverteidigung – während die Verteidigung der eigenen Kultur und Identität durch deutschsprachige Südtiroler oft als »anti-italienisch« (oder gar terroristisch) gebrandmarkt wurde – als sei es ein Angriff auf den Staat, um Respekt für die eigene Geschichte zu bitten.

Hier wird das Paradox offensichtlich:

Ein Symbol, das Einheit verkörpern sollte, wird zum Banner der Spaltung.

Ein Emblem, das die Freiheit darstellen sollte, wird als Instrument der Unterdrückung wahrgenommen.

Doch in Südtirol bedeutet das Zurückweisen der aufgezwungenen Italianità nicht, das Zusammenleben abzulehnen – sondern sich einer Erzählung zu widersetzen, die über Jahrzehnte die Fahne als Waffe, nicht als Brücke benutzt hat.

Es ist kein Zufall, dass viele der Wunden jener Zeit noch immer nicht geheilt sind.

Und es ist ebenso kein Zufall, dass gerade jene, die diese Symbole in Frage stellen, auch heute noch wegen Verächtlichmachung strafrechtlich verfolgt werden.

Als ob es ein Verbrechen – und kein Recht – sei, einer auferlegten nationalen Identität zu widersprechen.

Man erinnere sich an das mühsam eingestellte Verfahren des Bozner Gerichts im Jahr 2006 gegen ein Kunstwerk im Museion, das als »verächtlich« gegenüber der italienischen Nation betrachtet wurde: eine Reproduktion der Nationalhymne Mameli im Spülgeräusch eines WCs.

Auch die Plakate der Süd-Tiroler Freiheit, die die italienische Fahne weggefegt zeigten, um der österreichischen Platz zu machen – hier sah das römische Gericht 2018 und 2021 den Straftatbestand des »vilipendio« (Verächtlichmachung) als erfüllt an.

Doch was bleibt – bei all dem – von der Meinungsfreiheit?

Artikel 21 der italienischen Verfassung nennt das Recht, Gedanken frei zu äußern, ein Grundrecht.

Dasselbe sagt Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Der Straßburger Gerichtshof hat bereits im berühmten Urteil Handyside v. Vereinigtes Königreich vom 7. Dezember 1976 klargestellt, dass die Meinungsfreiheit auch Ideen schützt, die »verletzen, schockieren oder beunruhigen«.

Sie ist keine Konzession der Macht, sondern eine Voraussetzung der Demokratie.

Gerade deshalb muss sie auch jenen gewährt werden, die Symbole herausfordern – auch denen, die stören.

Das Paradox ist offensichtlich: Im Namen des Schutzes eines Symbols wird genau jene Freiheit eingeschränkt, die dieses Symbol eigentlich verkörpern sollte.

Man trifft die politische Kritik, kriminalisiert die Dissidenz, knebelt den Protest.

Als ob die Demokratie so fragil wäre, dass sie ein verbranntes Stück Stoff oder eine grafische Provokation nicht aushalten könnte.

Doch gerade das Symbol der Macht kann nur dann zum Instrument der Demokratie werden, wenn es geteilt ist – ohne die Berufung auf eine vermeintlich »jahrtausendealte Einheit des italischen Stammes« oder auf eine angebliche Heiligkeit dieser Symbole.

So wie bei der Trikolore-Schärpe: ein institutionelles Symbol laut Kommunalgesetz, das von Bürgermeistern bei offiziellen Anlässen quer über der Schulter zu tragen ist.

Doch auch hier droht der regulative Eifer, das Symbol zum Fetisch zu machen.

Wenn die Form mehr zählt als der Inhalt, geht der ursprüngliche Sinn der demokratischen Institution verloren.

Eine demokratische Gesellschaft sollte auch die härteste Kritik ertragen können – auch wenn sie provokativ formuliert sind.

Meinungsfreiheit dient nicht dem Schutz des Konsenses, sondern des Dissenses.

Und jedes Mal, wenn eine Ausdrucksform bestraft wird, nur weil sie das nationale Gefühl verletzt, geht man einen Schritt in Richtung jener autoritären Logik, die einst zu Rassengesetzen und Faschismen führte – und heute den identitären Populismus nährt.

Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hat im Fall Texas v. Johnson (1989) entschieden, dass das Verbrennen der amerikanischen Flagge – obwohl für viele zutiefst verletzend – durch den ersten Verfassungszusatz geschützt ist, da es sich um eine symbolische Ausdrucksform handelt.

Das Gericht erklärte: »Wenn es ein grundlegendes Prinzip hinter dem First Amendment gibt, dann ist es, dass der Staat nicht die Äußerung einer Idee verbieten darf, nur weil die Gesellschaft sie für anstößig oder unangenehm hält.« Im Gegenteil: Die Entscheidung betont, dass die Stärke der Demokratie gerade in der Fähigkeit liegt, auch die kontroversesten Formen des Dissenses zu tolerieren: »Der zu Recht geschätzte Platz, den die Flagge in unserer Gemeinschaft einnimmt, wird durch unser heutiges Urteil gestärkt, nicht geschwächt. Unsere Entscheidung bekräftigt die Prinzipien von Freiheit und Inklusivität, die die Flagge am besten widerspiegelt, und die Überzeugung, dass unsere Toleranz gegenüber Kritiken wie der von Johnson Zeichen und Quelle unserer Stärke ist.«

Der Supreme Court verteidigte das Recht, selbst die heiligsten Symbole infrage zu stellen, und bekräftigte, dass sich die wahre Stärke einer konstitutionellen Demokratie gerade in der Freiheit zum Widerspruch zeigt. Wenn es heute eine Fahne gibt, die es wert ist, geschwenkt zu werden, dann ist es die Regenbogenfahne.

Nicht weil sie einen Staat repräsentiert, sondern weil sie ein Ideal verkörpert.

Nicht weil sie Treue zu einer abgeschlossenen Identität fordert, sondern weil sie dazu einlädt, eine offene, inklusive, freie Gemeinschaft aufzubauen.

Das Ideal einer geteilten, nicht geteilten Menschheit.

Wo Grenzen nicht trennen, sondern durchquert werden.

Wo Unterschiede keine Bedrohung sind, sondern Reichtum.

Gegen Hass und Ausgrenzung. Für Frieden, Würde und Gleichheit.

Wenn die Trikolore nur noch dazu dient, sich selbst zu schützen, hat sie jede Bedeutung verloren.

Wenn sie dem Gewicht einer Kritik, eines Widerspruchs, einer Provokation nicht standhält, ist es nur Stoff, genäht um die Macht.

Aber wenn wir bereit sind zu akzeptieren, dass selbst Symbole infrage gestellt werden dürfen – denn genau darin beweisen sich Demokratien –, dann lebt dieses Symbol wieder auf.

Nicht als Zwang, sondern als Wahl.

Nicht als Waffe, sondern als Brücke.

Freiheit verteidigt man nicht, indem man den Widerspruch zum Schweigen bringt.

Man verteidigt sie, indem man ihm zuhört.

Auch wenn es brennt.


Dieser Beitrag ist in italienischer Sprache auch bei Salto erschienen.

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