Offener Brief des Transitforums Austria-Tirol an Landeshauptmann Arno Kompatscher (SVP)
- »Alle müssen sich bewegen« (Tiroler Tageszeitung 21. Juli 2024)
- »Ich fordere von Tirol gesunden Pragmatismus ein« (wie vor)
- »Kompatscher stellt Nachtfahrverbot in Frage« (ORF Online, 21. Juli 2024) u. a.
Sehr geehrter Herr Landeshauptmann,
»Bewegung ist gut«, »Bewegung erhält die Gesundheit«, »wer sich bewegt, der lebt« … sind so die guten Ratschläge meines langjährigen guten Freundes und Hausarztes. Nie hat er mir allerdings geraten, mich »rückwärts zu bewegen«, ob zu Fuß oder mit dem Fahrrad.
Sie haben in einer seltsamen, sehr dreisten Art und Weise nun via Presse dem Land Tirol nördlich des Brenners samt Landesregierung, Landtag, Gemeinden und nicht zuletzt der seit Jahrzehnten hoch engagierten Zivilbevölkerung »Bewegung verordnet« — zurück in die »belastungsintensive Transit-Steinzeit«. Um wie so oft, seit Sie zum Landeshauptmann gewählt wurden (2014), davon abzulenken, was in Ihrem ureigensten Aufgabengebiet vom Brenner bis Salurn alles in Bezug auf Reduktion der hohen Belastungen aus rund 2,5 Mio Lkw-Transitfahrten incl. rund 1 Mio Lkw-Transit im Umwegverkehr von der Schweiz alles fehlt. Dazu sei noch an Ihren Vorgänger Luis Durnwalder erinnert, der von 1989 bis 2014 Landeshauptmann von Südtirol war.
Was Sie beide eint, ist im Vergleich mit den Landeshauptleuten Alois Partl, Wendelin Weingartner, Herwig van Staa, Günther Platter und aktuell Anton Mattle in Bezug auf die europarechtlich vorgegebenen Reduktionen der hohen Transitbelastungen sehr deutlich festzumachen:
Seit 1989 »keine spürbare Bewegung zum Schutz der privaten und betrieblichen Anrainerschaft vom Brenner bis Salurn vor den hohen Transitbelastungen« (siehe Grafik ) – kein vergleichbares IG-L-Paket (Euroklassen-Lkw-Fahrverbot für abgasstarke Lkw, sektorales Lkw-Fahrverbot für den Transport bahnaffiner Güter, Lkw-Nachtfahrverbot und Tempo 100 für Pkw).
Dieses — von der EU-Kommission ratifizierte Paket — im Zusammenwirken mit der vorherigen Ökopunkteregelung hat dazu geführt, dass die NO2-Belastung sowohl an der Luftgütemessstelle in Vomp an der A12 sowie der Luftgütemessstelle Auer/Laimburg an der A22 im Zeitraum 2001-2021 um rund 90% reduziert wurde — und weit über die Alpenkonventionsstrecke Rosenheim-Verona hinaus, da die weit abgasärmeren Lkws nicht nur zwischen Vomp und Auer/Laimburg im Kreis fahren.
Und nun, anstatt sich im Namen der privaten und betrieblichen Anrainerschaft vom Brenner bis Salurn dafür ordentlich zu bedanken, verlangen Sie vom Land Tirol »zurück in die Steinzeit«. Geht’s noch?
Zu einem Zeitpunkt, in welchem das EU-Parlament bereits neue, an der Gesundheit der Menschen orientierte Grenzwerte für Feinstaub und NO2 beschlossen hat (von der EU-Kommission 2022 den Mitgliedstaaten vorgeschlagen). Um Menschen Krankheiten zu ersparen, Gesundheitskassen in den Mitgliedstaaten zu entlasten und nicht zuletzt den Herstellern, Zulieferern und Händlern aller Kfz wieder Milliardengeschäfte mit noch besseren Kraftfahrzeugen zu ermöglichen. Grenzwerte, die ohnedies schon wieder doppelt so hoch sind, als von der WHO 2021 für Europa als Richtwerte vorgegeben.
Wenig bis gar nicht durchdacht ist Ihre Kernforderung in Anlehnung an die Schreibtischtäter in verschiedenen Handels- und Wirtschaftskammern bis hin zur Tiroler Industriellenvereinigung sowie Frächter-, Logistik- und Speditionsverbänden sowie sachunkundigen Politikern, die unisono die »Aufhebung des Lkw-Nachtfahrverbotes« mit dem »Zauberargument der Entzerrung des Verkehrs« vom Tag in die Nacht fordern. Ein sachlich absurdes Argument noch aus der Zeit, als Rudolf Streicher am 1. Dezember 1989 das erste Lärmschutzpaket incl. Lkw-Nachtfahrverbot auf der A12 verordnete und Wirtschaft und Industrie von Staus von Kufstein bis München und vom Brenner bis Verona gewarnt haben. Niemand hat »gestaut«, alles hat sich so arrangiert wie in der Schweiz, wo das Lkw-Nachtfahrverbot seit 1934 zum Schutz der Bevölkerung und der Berufskraftfahrer verordnet wurde.
Abgesehen davon, dass das gar so »heftig kritisierte Lkw-Nachtfahrverbot« mit zahlreichen Ausnahmen bis hin zu den Bezirksgemeinschaften Eisacktal, Pustertal und Wipptal gespickt ist — es wurde also sehr viel Rücksicht auch auf wirtschaftliche Erfordernisse gelegt, die schamhaft verschwiegen werden: die Tiroler »Bewegung« ist in den Ausnahmen für den Süden des Landes enthalten.
Zum Grundirrtum des »Entzerrens«: Der Wegfall des Lkw-Nachtfahrverbotes angesichts einer fehlenden Obergrenze des Lkw-Transitverkehrs sowie der wettbewerbswidrigen verkehrs- und finanzrechtlichen Rahmenbedingungen an den anderen Alpenübergängen würde den Tagesverkehr nicht entlasten.
Es würde sofort wieder neuer »Lkw-Transit auf den Brenner gezerrt« mit der Folge von steigenden Abgas- und Lärmbelastungen sowie vollem Druck auf die internationalen Berufskraftfahrer, die noch mehr unter Zeitdruck geraten würden (sie sind vor allem seit dem Beitritt der EU-Oststaaten im Mai 2004 von den ehemaligen »Königen der Landstraße« zu »Lenkradlohnsklaven« degradiert worden). Niemand würde »entlastet«, die private und betriebliche Anrainerschaft sowie die internationalen Berufskraftfahrer zusätzlich »belastet«.
Am Hohen Frauentag werden Sie sicher wieder mit unserem Landeshauptmann zusammentreffen, um Ehrungen verdienter Persönlichkeiten vorzunehmen. Daher laden wir Sie höflich ein, diese Gelegenheit auch zu nutzen, um Landeshauptmann Anton Mattle zu versichern, dass Sie sich nicht vor den »Transitlobbyisten-Karren« spannen lassen, sondern mittlerweile erkannt haben, dass die Aufhebung bzw. Lockerung des Lkw-Nachtfahrverbotes nur neuen Umwegverkehr auf die Gesamtstrecke Rosenheim-Verona anziehen und Eisenbahnangebote ad absurdum führen würde.
Von Seite des Transitforum Austria-Tirol erwarten wir, dass Sie sich mit der Grafik intensiv auseinandersetzen und sich endlich in Bewegung setzen, damit auch vom Brenner bis Salurn entschlossene Transitbelastungs-Reduktionsmaßnahmen getroffen werden — eine Bewegung in die Gegenwart und Zukunft, anstatt in die Vergangenheit. Das erwarten sich alle, die in unserem wunderschönen, aber auf Grund seiner Enge und Topografie sehr sensiblen Land Tirol entlang von hochbelastenden Straßen wohnen, leben, wirtschaften und existieren müssen.
»Wir können, wollen und werden aus diesem ererbten Lebens- und Regionalwirtschaftsraum nicht flüchten. Der Lkw-Transit hat Alternativen auf Schiene und Straßen von Nizza bis Wien«; wir nicht.
Mit besten Grüßen verbleiben für den Vorstand und die XUND’S LEBEN-Gruppen
Fritz Gurgiser, Obmann
Clemens Franceschinel, Obmann-Stv.
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