→→ Autorinnen →→ Gastbeiträge →→

Ja geht’s noch?
Zweisprachigkeit im Gesundheitswesen wird obsolet

Autor:a

ai


»Wie lässt sich die Zweisprachigkeit im Gesundheitswesen sichern und alltagstauglich umsetzen?«, fragte sich David Orrú auf Salto. Er zitierte Landesrat Hubert Messner, wonach dies »von heute auf morgen« nicht möglich sei.

Was für eine Frage, gestellt im Jahr 2025. Das Zweite Autonomiestatut ist seit 1972 Kraft, Artikel 99 des Statuts ist unmissverständlich:

Die deutsche Sprache ist in der Region der italienischen Sprache, die die amtliche Staatssprache ist, gleichgestellt.

– aus Art. 99 Autonomiestatut

In der Region, nicht nur in der autonomen Provinz Bozen. Seit einem halben Jahrhundert gilt also diese verfassungsmäßig verankerte Pflicht.

Und Artikel 100 präzisiert:

Die deutschsprachigen Bürger der Provinz Bozen haben das Recht, im Verkehr mit den Gerichtsämtern und mit den Organen und Ämtern der öffentlichen Verwaltung, die ihren Sitz in der Provinz haben oder regionale Zuständigkeit besitzen, sowie mit den Konzessionsunternehmen, die in der Provinz öffentliche Dienste versehen, ihre Sprache zu gebrauchen.

– Art. 100, Abs. 1 Autonomiestatut

Flexibel seit zehn Jahren

Deutlicher könnten Vorgaben nicht sein. Aber. Seit fast zehn Jahren schon ist der Proporz im Gesundheitswesen außer Kraft. Flexibilisierung ist das Zauberwort. Um die gefährdeten Dienste aufrecht erhalten zu können und weil angeblich deutschsprachige Bewerber:innen fehlen, werden die Jobs im Gesundheitswesen — angeblich befristet — fast ausschließlich nur mehr an italienische Interessierte vergeben.

Zwischen 2018 und 2024 gingen mehr als 1.200 Anstellungen im Gesundheitswesen allesamt an Italienischsprachige, meist ohne Zweisprachigkeitsnachweis. 

Aber auch die verfassungsmäßig garantierte Zweisprachigkeit wird kaum mehr eingehalten. Die Frist zur Erlernung der deutschen Amtssprache wird ständig verlängert. Mit Folgen.

Laut Astat-Sprachbarometer war knapp einem Drittel der deutschsprachigen Südtirolerinnen (31,9%) im öffentlichen Gesundheitswesen das Recht auf Muttersprache verwehrt worden. 

Die Befristung der Werks- und Arbeitsverträge im Gesundheitswesen — und somit auch die Frist zur Erlangung des Zweisprachigkeitsnachweises — war erst 2019 drastisch (von drei auf fünf Jahren) angehoben worden. 

Was für einen Sturm der Entrüstung, italienweit, würde es geben, wenn Ärzte italienischsprachigen Patient:innen im Südtiroler Gesundheitswesen nur mehr auf Deutsch antworten würden? Die »nationale« Presse würde den Notstand ausrufen, möglicherweise würde das Innenministerium einschreiten. Das Gesundheitswesen wird aber nicht einsprachig deutsch, sondern mehr und mehr italienisch monolingual. Der Politikwissenschaftler Günther Pallaver bewertete diese Entwicklung als eine »Anpassung an die soziale Wirklichkeit.«

Zweisprachigkeit hat immer Vorrang?

Beruhigend, wenn der Kammerabgeordnete von Fratelli d’Italia Alessandro Urzì die Zweisprachigkeit verteidigt: »Zweisprachigkeit hat immer den Vorrang«, wurde er von Rai-Südtirol zitiert. Einerseits. Andererseits, schreibt Simon, forderte Urzì eine zusätzliche Ausweitung von Ausnahmen, die für den Staatsdienst genehmigt wurden, auch auf andere Bereiche. Es findet ein Dammbruch statt, warnt Simon, der zu einer systematischen Demontage der Minderheitenrechte führen wird.

Der Nachfolger von Urzì in der Landespolitik, Landeshauptmannstellvertreter Marco Galateo (FdI), zweifelt die Realitätsnähe von Proporz und Zweisprachigkeit an. Und die Ärztegewerkschaft ANAAO forderte im Alto Adige, wohl im Sinne Galateos, mehr Flexibilität im Proporz. Offensichtlich weiß die ANAAO nicht, dass es diese Flexibilität schon jahrelang gibt. Die Gewerkschaft drängt auf »politische Lösungen«, die der Realität im Gesundheitswesen gerecht werden. Die Ärztegewerkschaft stellt zudem die bisherige Praxis der Zweisprachigkeitspflicht in Frage. Will also heißen: Anerkennung der italienischen Einsprachigkeit?

Gewerkschaftsvorsitzender Edoardo Bonsante verweist auf die hohe Arbeitsbelastung von Pflegenden, Ärztinnen und Ärzten, die einfach keine Zeit hätten, »zusätzlich eine neue Sprache intensiv zu lernen.«

Als ein besonderes Problem empfindet der Gewerkschafter, dass sowohl im direkten Umfeld als auch in institutionellen Sitzungen oftmals Dialekt gesprochen werde, was den Lernprozess zusätzlich verkompliziere.

Proporz und Zweisprachigkeit, Mauern der Angst und des Misstrauens?

Diese Situation kann laut Bonsante nur durch »mutige politische Entscheidungen« überwunden werden. Statt am Status Quo festzuhalten, also an Proporz und verbindlicher Zweisprachigkeit — beides wird wie geschildert schon »flexibel« gehandhabt — müssten die »Mauern der Angst und des Misstrauens« eingerissen werden. 

Laut Bonsante soll die Qualität der Fachkräfte bei der Aufnahme in den Gesundheitsdienst eine zentrale Bedeutung haben und nicht die Zugehörigkeit zu einer der drei Sprachgruppen. Im Klartext heißt das, dass deutschsprachige Pflegende und Ärzt:innen nur deshalb aufgenommen werden, weil sie der deutschen Sprachgruppe zugehörig sind. Der italienische Gewerkschafter spricht diesen Fachkräften die fachliche Qualifikation ab. 

Fratelli d’Italia, Forza Italia, die ANAAO und auch der Partito Democratico (Zweisprachigkeit im Gesundheitswesen ist überflüssig) ticken in dieser Frage einheitlich, weg mit dem Proporz, weil starr. Die Zweisprachigkeit sei zwar wichtig, sie erschwere aber den Einstieg von Ärztinnen und gefährde damit die Versorgung. Die immer wieder zitierte grundlegende Reform der Zweisprachigkeitspflicht würde zu ihrer völligen Abschaffung führen.

Was bedeutet eine grundlegende Reform der Zweisprachigkeit?

Der entsprechende Vorschlag kommt vom Präsidenten der Sechserkommission, Alessandro Urzì. Bei den Autonomieverhandlungen zwischen Landeshauptmann Arno Kompatscher (SVP) mit seinem Team und der italienischen Regierung formulierte Urzì die Idee, dass Beamte künftig im mündlichen Verkehr nicht mehr dazu verpflichtet sein sollten, in der Sprache der Bürgerinnen zu antworten. Das wäre eine glatte Einschränkung des Rechts auf Gebrauch der Muttersprache, die ohnehin häufig verweigert wird, kritisiert Simon.

Die Autonomie beinhaltet das Versprechen, dass das Ladinische und das Deutsche gleichwertig mit der italienischen Staatssprache sind. Ein Versprechen, das nach einem halben Jahrhundert Autonomie kaum mehr eingehalten wird.

Vorbild Gericht?

Beispiel Gericht, nur 20 Prozent der Strafverfahren werden in der deutschen Gerichtssprache abgewickelt, Deutsch ist eine Seltenheit, kommentierte Rai-Südtirol. In einem Land, in dem knapp 70 Prozent der Bevölkerung der deutschen Sprachgruppe angehören, werden 80 bis 90 Prozent der Strafverfahren auf Italienisch geführt. Die Blaupause auch für das Gesundheitswesen? 

Bei Gericht werden Proporz und Zweisprachigkeit äußerst flexibel angewandt. Die passende Aussage dazu vom ehemaligen Gerichtspräsidenten Heinrich Zanon, viele Richterinnen seien trotz Zweisprachigkeitsnachweis außerstande, ein Urteil auf Deutsch zu verfassen. 

Ist dies auch eine Folge davon, dass immer mehr Südtiroler:innen auf ihr Verfassungsrecht der eigenen Amtssprache verzichten? Weil ewiggestrig? Oder strahlt der zweite Satz des Artikels 99 des Autonomiestatuts so stark ab?

In den Akten mit Gesetzeskraft und immer dann, wenn dieses Statut eine zweisprachige Fassung vorsieht, ist der italienische Wortlaut maßgebend.

— aus Art. 99 Autonomiestatut

Cëla enghe: 01 || 01


Autor:innen- und Gastbeiträge spiegeln nicht notwendigerweise die Meinung oder die Position von BBD wieder, so wie die jeweiligen Verfasser:innen nicht notwendigerweise die Ziele von BBD unterstützen. · I contributi esterni non necessariamente riflettono le opinioni o la posizione di BBD, come a loro volta le autrici/gli autori non necessariamente condividono gli obiettivi di BBD. — ©


Einen Fehler gefunden? Teilen Sie es uns mit. | Hai trovato un errore? Comunicacelo.

Comentârs

3 responses to “Ja geht’s noch?
Zweisprachigkeit im Gesundheitswesen wird obsolet

  1. Andreas avatar
    Andreas

    Wie im Artikel angesprochen, scheint es so, dass viele auf ihre Minderheitenrechte verzichten würden und das ist immer schlecht für eine Minderheit. Jedoch ist das auch ein Indiz dafür, das Artikel 99 und andere Bestimmungen des Autonomiestatuts nie richtig zur Anwendung kamen.

    Ein Beispiel: Ich werde von den Carabinieri bei einer Straßenkontrolle aufgehalten. Sie grüßen auf Italienisch (was sie dürfen weil sie mutmaßen können), ich grüße auf Deutsch. Die Carabinieri reden weiter auf Italienisch… In wie vieln Fällen wird dann wirklich das Recht eingefordert Deutsch zu reden? In den wenigsten wahrscheinlich, weil die Carabinieri in dieser Situation einfach am längeren Hebel bzw. mehr Macht haben als ich. Fordert man es nun doch ein, kann es zwar gut gehen, aber kann auch schlecht gehen bspw. wenn es dann heißt “siamo in Italia”… Dann wird man sich das nächste Mal gut überlegen, welche Sprache man spricht. Diese Einforderungen sind aber natürlich sehr viel Aufwändiger und teilweise, aus meiner Erfahrung, nicht immer zielbringend -irgendwann lässt man es. Und genau da liegt das Problem, irgendwann beginnt man selber zu mutmaßen, da es das System ja so vorsieht, und spricht bspw. die Zugbegleiterin partout auf Italienisch an, obwohl sie ja die deutsche Muttersprache haben könnte.

    Hier noch ein interessanter Beitrag vom Schweizer Sender RSI zur Marginalisierung der italienischsprachigen Menschen in der Schweiz: https://youtu.be/b_P2BHhj8Ac

    1. Kritiker avatar
      Kritiker

      Ich bin relativ oft in der Schweiz unterwegs und beobachte dort mit großem Interesse den Sprachgebrauch – insbesondere in den unterschiedlichen Kantonen auch mit italienischsprachiger Bevölkerung. Ob im Tessin oder in Graubünden beispielsweise in Val Poschiavo: Die Schweizerinnen und Schweizer mit italienischer Muttersprache dürfen sich nachvollziehbar manchmal in der „Serie B“ fühlen im Vergleich zu den Deutschschweizern. Doch in Wahrheit spielen sie in einer wesentlich höheren Liga als wir – denn wir sind nicht mal Serie C. Eher D und die Ladiner wohl nur untere Amateurliga. Kein Tessiner – will ich mal behaupten – würde je eine Sprachsituation in seinem Kanton akzeptieren, wie sie bei uns in Südtirol vorherrscht. Das gäbe einen bundesweiten Aufstand. Der Südtiroler hingegen kuscht lieber und verzichtet wissentlich oder unwissentlich auf seine Rechte, bis sie irgendwann wertlos werden.

      1. Simon avatar

        So ist es. Ich habe mehrere Jahre im Tessin gelebt und ein Teil meiner Politisierung und Empörung über den Zustand in Südtirol kommt auch daher, dass ich gesehen habe, wie es in der Schweiz funktioniert.

        Aufschlussreich ist ja auch, was in der von Andreas verlinkten Sendung gezeigt wird: zum Beispiel, dass man in Zürich mit Italienisch nicht in jedem Kontext durchkommt. Das ist, als würde Rai Südtirol testen, ob man nicht etwa in Bozen, sondern in Mailand in Behörden und im Alltag nur mit Deutsch durchkommt.

        Was in der Reportage in einer Zürcher Apotheke gezeigt wird (nämlich, dass es mit Italienisch zwar nicht perfekt, aber doch zufriedenstellend klappt), ist bei uns mit Deutsch ja nicht einmal in Bozen (also im eigenen Land) — und leider inzwischen auch nicht einmal mehr außerhalb von Bozen — selbstverständlich. Zwischen uns und dem Tessin bzw. der italienischen Schweiz liegen diesbezüglich Welten.

        Selbstredend enthält zudem ein in Zürich gekauftes Medikament auch eine italienische Packungsbeilage, während es bei uns eine deutsche Packungsbeilage nicht einmal in Südtirol (geschweige denn in Mailand) gibt.

        RSI legt da ganz andere Maßstäbe an als wir Südtirolerinnen. Und ich kritisiere sie dafür nicht, ganz im Gegenteil. Ich finde einfach aufschlussreich, auf welch hohem Niveau, das sie im Vergleich zu uns ja bereits haben, sie sich trotzdem noch für mehr Rechte einsetzen. Viel, viel, viel weniger als das was die Tessinerinnen haben, wird bei uns schon als absoluter Luxus (und damit verbundene Forderungen als unnötige Nörgelei) betrachtet.

        Vgl. unter anderem [1] [2] [3] [4] [5]

Leave a Reply to Kritiker Cancel reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

You are now leaving BBD

BBD provides links to web sites of other organizations in order to provide visitors with certain information. A link does not constitute an endorsement of content, viewpoint, policies, products or services of that web site. Once you link to another web site not maintained by BBD, you are subject to the terms and conditions of that web site, including but not limited to its privacy policy.

You will be redirected to

Click the link above to continue or CANCEL