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Freiwillige Kniefälle.
Nicht umgesetzte Autonomie

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Immer öfter verzichtet die Landesregierung auf festgeschriebene Verfassungsrechte
Hunderttausend Bürgerinnen und Bürgern wählten am 22. Oktober nicht. Gleich viele stimmten für die SVP (34 Prozent). Unter den Nichtwählenden viele potenzielle italienische Wählende. Die Folge: Die italienische Vertretung schrumpfte von acht Landtagsabgeordneten 2018 auf nur mehr fünf.

Die zweite Folge: Laut Autonomiestatut wird deshalb nur mehr ein italienischer Landesrat in der Landesregierung vertreten sein.

Die Forderung der italienischen Rechten, im Vorfeld der Koalitionsgespräche formuliert, das Autonomiestatut abzuändern. Diese Forderung unterstützt auch der Partito Democratico, der außerdem den Proporz und die Zweisprachigkeit abschaffen will. Die Fratelli d’Italia wollen das derzeitige dreigliedrige Schulsystem abschaffen, zugunsten einer mehrsprachigen Schule. Mehrere italienischsprachige Persönlichkeiten beklagen diese Entwicklung. Ob das Wahlschwänzen der italienischen Wählenden eine Misstrauenserklärung an die italienischen Parteien ist?

Der geforderten Aufstockung der italienischen Präsenz widerspricht der Trientiner Universitätsprofessor Roberto Toniatti:

La proposta di modifica dello Statuto per introdurre un secondo assessore di linguaitaliana a Bolzano sembra quasi irridere alla mancanza del consensoelettorale degli elettori del rispettivo gruppo linguistico, come se essofosse una variabile indipendente. Gli astensionisti del gruppo linguisticohanno indicato di non ritenere importante una presenza in giuntacorrispondente al loro impegno elettorale. Imporre per legge ciò che non si riesce a ottenere spontaneamente è sia arrogante sia ridicolo.

Christian Bianchi, für die arg gerupfte Lega in den Landtag gewählt, noch amtierender rechter Bürgermeister von Leifers, fiel inzwischen als Ladinerfeind auf. Er und seine Partei sprechen den Ladinern die Vertretung im Landtag ab. Arrogant italienisch nationalistisch.

Trotzdem gelten Lega und Fratelli als die aussichtsreichsten Koalitionspartner der SVP. Geht’s noch?

Verständnis für die italienischen Forderungen zeigt der Politikwissenschaftler Günther Pallaver. Er plädiert auf Salto für einen »freiwilligen Porporz«. Dieser sollte bei der Besetzung der Landesregierung angewandt werden, mit dem Ziel, die Unterrepräsentation der italienischen Sprachgruppe im Landtag auszugleichen. Sozusagen eine nachträgliche Korrektur der Landtagswahlen? In einer solchen Maßnahme sieht Pallaver einen Beitrag, um neue ethnische Spannungen zu vermeiden.

Pallaver zitiert Juristen, die Bedenken äußerten, das Autonomiestatut durch eine Durchführungsbestimmung zu ändern. Das wäre aber nicht das erste Mal, ergänzt Pallaver und meint sibyllinisch: »Ist der politische Wille vorhanden, kann die soziale Wirklichkeit nicht mehr standhalten.«

Schrumpfender Minderheitenschutz

Damit stellt Pallaver seine bisherige These auf den Kopf. Die soziale Wirklichkeit überrollt die Autonomiebestimmungen, analysierte Pallaver in der Fachzeitschrift Europa Ethnica. Wegen der gesellschaftlichen Realität könne die Autonomie nicht buchstabengetreu umgesetzt werden. Pallaver nennt deshalb die Grundpfeiler der Autonomie, ethnischer Proporz, muttersprachlicher Unterricht sowie die Zweisprachigkeit im Justizwesen, Dogmen, die mit der Wirklichkeit nicht mithalten können.

Pallaver würdigt die Stärke der Autonomie, sich flexibel an die soziale Wirklichkeit anzupassen und sich ständig zu wandeln. Kling gut, weil es Entwicklung suggeriert. Zurecht fragte Simon, wo die Flexibilität des Staates oder des Verfassungsgerichts bleibt: »Ich würde daher einen provokanten Deal vorschlagen: Der Minderheitenschutz wird — wennschon — flexibilisiert, sobald auch die italienischen Parteien, Artikel 5 der italienischen Verfassung (Unteilbarkeit des Staates) flexibilisieren«, frotzelt er. Er bedauert, dass die Flexibilität die Zwei- und Dreisprachigkeit systematisch ausgehebelt werde (z. B. 01 02 03). Diese Flexibilisierung gehe eindeutig zu Lasten der deutschen und ladinischen Südtiroler.

Das Verfassungsgericht erzwingt seit der Verfassungsreform von 2001 Südtiroler Kniefälle, ein verordnetes Einknicken. Seit 1992, nach der Beilegung des österreichischen Südtirol-Streits mit Italien vor der UNO, räumten italienische Regierungen in vielen Bereichen die Autonomie. Sie ist inzwischen durchlöchert wie ein Schweizer Käse.

Der Landtag und der Landeshauptmann beklagen Autonomieverluste, sekundiert von den Rechtsprofessoren Esther Happacher und Walter Obwexer. In ihrer 600seitigen Studie kommen die beiden Professoren zum Schluss, dass wesentliche autonome Befugnisse einseitig zurückgenommen worden sind. Ähnliches formuliert in seiner Autonomie-Analyse der ehemalige Innsbrucker Assistenzprofessor Matthias Haller. Er kommt, wie schon Happacher und Obwexer, zum Schluss, dass die Verfassungsreform 2001 und mehrere Urteile des Verfassungsgerichts zugunsten des Staates zu einer spürbaren bis drastischen Machtverschiebung geführt haben. Die sogenannten Querschnittskompetenzen wurden zum Staat verschoben.

Gravierend ist, dass die angeblichen Grundpfeiler des Minderheitenschutzes, der ethnische Proporz, die Zweisprachigkeit im Gesundheitswesen und in der Justiz sowie der muttersprachliche Unterricht gehörig durchlöchert wurden. Der Minderheitenschutz wird der gesellschaftlichen Realität angepasst, begrüßt Politikwissenschaftler Pallaver dieser Entwicklung. Die Autonomie habe sich von den einst als unverrückbar geltenden strikten Dogmen verabschiedet.

Laut Pallaver mussten sich die Autonomie und ihre Gesetze dem gesellschaftlichen Wandel anpassen. Diese Anpassung bedeutet letztendlich, dass der Minderheitenschutz nur mehr bruchstückhaft umgesetzt wird. Der starre Schutz musste aufgeweicht werden, um die Autonomie funktionieren zu lassen, würdigt Pallaver das pragmatische Agieren der Südtiroler Autonomiepolitiker.

Stichworte »anpassen« und »aufweichen«. Dabei geht es immerhin um zentrale Elemente der Südtirolautonomie, um elementare Rechte, die nur mehr ansatzweise beansprucht werden können. Pallaver formuliert es präziser: Grundregeln werden nicht angewandt oder legal abgebaut.

Beim Start in die neue Autonomie waren zwei Drittel der öffentlichen Stellen von italienischen Bediensteten besetzt, 14 Prozent von Deutschsprachigen. Noch drastischer war die Lage in der Führungsebene, nur knappe drei Prozent waren deutschsprachige Spitzenbeamte. Fünfzig Jahre danach widerspiegelt sich in der öffentlichen Verwaltung von Land und Gemeinden die jeweilige Stärke der Sprachgruppen laut Volkszählung.

Die der inzwischen abgeschafften staatlichen Volkszählung angefügte Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung sorgte über Jahre hinweg für heftige Konflikte. Mit dem Zählinstrument Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung werden die zu verteilende öffentliche Jobquote und andere weitere Zuteilungsschlüssel ermittelt. Die einst äußerst starr formulierte Erklärung wurde nach Kritik, Protesten und einer Eingabe der Vereinigung Convivia an italienische und europäische Gerichte abgeschwächt, reformiert, entschärft. Volkszählung und Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung wurden entkoppelt.

Nicht zu Unrecht beschreibt Politikwissenschaftler Günther Pallaver die Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung und den ethnischen Proporz als Quotenregelung als eine Fiktion. Denn die Bevölkerung setzt sich nicht mehr nur aus den drei Sprachgruppen zusammen. Die gesellschaftliche Wirklichkeit überholt das Paragraphenwerk. Ist es aber damit gründlich in Frage gestellt?

Auch der Staat trägt dazu bei, die ethnische Quotenregelung aufzuweichen. Er umgeht immer wieder die Proporzverpflichtung und besetzt Staatsstellen mit zeitweilig abkommandiertem Personal aus anderen Regionen.

Vom flexiblen zum weichen Proporz

Mit dem von der Autonomie provozierten wirtschaftlichen Aufschwung schrumpfte das Interesse deutschsprachiger Arbeitssuchender an öffentlichen Stellen. Diese können kaum mehr besetzt werden. Der flexible Proporz ist die Antwort auf die realen gesellschaftlichen Verhältnisse, lobt Pallaver die nicht sture, undogmatische Antwort auf das Problem. Bestimmte Dienste wie die Reinigung öffentlicher Einrichtungen wurden privatisiert, dort gelten die Proporzbestimmungen nicht. Das Proporzdekret von 1976 wird gelockert, aufgeschnürt, der flexible löst den rigiden Proporz ab. Eine Aufweichung von oben, das als unantastbar geltende Autonomieprinzip wird ausgesetzt.

Bei der Bahn, beim Zoll und bei der Agentur für Einnahmen werden weder Proporz noch Zweisprachigkeit eingehalten. Ähnlich inzwischen auch die Lage im Gesundheitswesen mit seinem Personalmangel, der sich bereits spürbar auf die Dienste auswirkt. Es scheint, dass auf den flexiblen inzwischen der sanfte Proporz folgt, also seine Aussetzung.

Die Freiheitlichen, die Süd-Tiroler Freiheit, SVP-Arbeitnehmer und die Gewerkschaft ASGB beklagen deshalb eine »schleichende Italianisierung« des Gesundheitswesens, mit entsprechender Ausstrahlkraft auch auf andere öffentliche Bereiche. Aber nicht nur der Proporz wird ausgesetzt, auch die Pflicht zur Zweisprachigkeit. 2018 und 2019 wurden im Gesundheitswesen 150 Jobs ohne Zweisprachigkeitsnachweis vergeben.

2021 genehmigte die Sechserkommission für ÄrztInnen mit einem befristeten Vertrag im öffentlichen Gesundheitswesen einen Aufschub des Zweisprachigkeitsnachweises. Statt nach drei muss der Nachweis erst nach fünf Jahren nachgereicht werden. Die Kommission schlug in der Folge dann auch vor, den Proporz ebenfalls für fünf Jahre auszusetzen, wenn Stellen nicht besetzt werden können.  

Im Gegenzug ermöglichte die italienische Regierung 2020 ein Sonderverzeichnis der Ärztekammer für ausschließlich deutschsprachige ÄrztInnen, privat zu arbeiten.  Grundlage dafür ist eine entsprechende EU-Richtlinie. Im Gesundheitswesen ist das Recht auf die eigene Muttersprache nur mehr bedingt aufrecht.

Heilige Kuh Artikel 19

Ein Stück weit anders ist die schulische Lage. Noch. Stellvertretend für die Kritiker des Minderheitenschutzes bedauert Politikwissenschaftler Günther Pallaver, dass Artikel 19 des Autonomiestatuts das Entstehen eines pluralistischen Schulsystems verhindert. Gleichzeitig stellt er auch fest, dass es eine zweisprachige Schule bereits ansatzweise gibt.

Der Artikel 19 des Statuts sieht vor, dass der Unterricht in den Kindergärten, Grund- und Sekundarschulen in der Muttersprache der Schüler (deutsch oder italienisch), von Lehrkräften erteilt wird, für welche die betreffende Sprache ebenfalls Muttersprache ist. Der Artikel 19 formuliert also das Recht auf die eigene muttersprachliche Schule.

Die Schulfrage ist delikat, nicht von ungefähr ist und bleibt sie ein Politikum. Italienische Eltern drängten in den 1970er Jahren auf Mehrsprachigkeit in den Kindergärten, der Staatsrat erlaubte 1994 den Zweitsprachenunterricht in der ersten Klasse der italienischen Grundschule. Die in den späten 1970er Jahren politisch verpönten Schüleraustauschprojekte wurden 20 Jahre später zur Selbstverständlichkeit.

Lange verhinderte die Landesregierung den sogenannten Immersionsunterricht an den italienischen Schulen, inzwischen sind der Sachfachunterricht in der zweiten Sprache fester schulischer Bestandteil. Die Immersionsmethode wird inzwischen als verfeinertes CLIL-Programm (Content and Language Integrated Learing) in allen Schulen angeboten. Bei diesem »integrierten Sprachenlernen« werden Sachinhalte in der jeweils zweiten Landessprache angeboten. Die ansatzweise zweisprachige Schule, wie es Politikwissenschaftler Pallaver freudig formulierte.

Die SVP, die Freiheitlichen und die Süd-Tiroler Freiheit lehnen ein Aufweichen des Artikels 19 strikt ab. Sie sehen darin eine Gefahr für die muttersprachliche Schule. Konträr dazu steht eine Umfrage des Landesbeirates der Eltern von 2015. Sicher kein repräsentatives Ergebnis, es beteiligten sich 13.000 Mütter und Väter an der Umfrage. Die Hälfte der Befragten plädierte für erweiterte Schüleraustauschprojekte, knapp die Hälfte für den Unterricht verschiedener Fächer in italienischer Sprache. Zwei Drittel wünschten sich eine stärkere Berücksichtigung der italienischen Sprache. 20 Prozent plädierten für die Zusammenlegung der deutschen und italienischen Kindergärten und Schule.

Will die »Zivilgesellschaft«, die zitierten Eltern, eine andere Schule als die gewählten Mehrheitsvertreter? Will diese »Zivilgesellschaft« auf den Artikel 19 verzichten?

Einsprachige Gerichtsbarkeit

In der Gerichtsbarkeit gilt trotz anderslautenden Bestimmungen inzwischen wieder die Einsprachigkeit, die italienische Einsprachigkeit. Prozesse beginnen — bei sprachlich unterschiedlichen Akteuren vor Gericht — meist zweisprachig. Die noch von Landeshauptmann Silvius Magnago 1988 auf den Weg gebrachte Gleichstellung der deutschen Sprache vor Gericht besagte, dass BürgerInnen deutscher Muttersprache berechtigt sind, die deutsche Sprache zu verwenden. Verbunden damit auch Übersetzungen, zweisprachige Protokollierungen usw. Klare Vorgaben. In der Realität wurde aus dem zweisprachigen meist ein einsprachiger italienischer Prozess. Offensichtlich verzichten deutschsprachige Prozessparteien — aus verschiedenen Gründen — auf die garantierte sprachliche Gleichstellung.

Politikwissenschaftler Pallaver wundert sich darüber nicht. Die 1988 erzielte Gleichstellung widerspricht der freien Sprachenwahl, stellte er fest und zwingt Betroffene in ein System, das nicht vom individuellen Grundrecht geprägt ist, sondern nach einer ethnisch-kollektiven Logik funktioniert. Prozessbeteiligte passen sich deshalb laut Pallaver der Realität an, der Realität der meist einsprachigen italienischen AnwältInnen, Sachverständigen, RichterInnen und StaatsanwältInnen. Die italienische Dominanz im Gerichtswesen hebt letztendlich die Gleichstellung der deutschen Sprache vor Gericht auf.  Eine Anpassung an die gesellschaftliche Realität?

Funktioniert die Autonomie also deshalb, weil sie nur teilweise — wenn überhaupt — umgesetzt wird? Beeindruckend, dass es sich bei diesen Beispielen um doch tragende Säulen des Minderheitenschutzes handelt. Die SVP verzichtet auf die paragraphengetreue Anwendung der verschiedenen Bestimmungen, aus unterschiedlichen Gründen geht die SVP freiwillig in die Knie.


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