→→ Autorinnen →→ Gastbeiträge →→

Araber, Linke, Zündler, Zivilisten und der Nahostkonflikt.
Versuch einer faktischen Annäherung an die Situation in Nahost – Teil 2

Autor:a

ai

Wie bereits im ersten Teil soll hier eine faktenbasierte Analyse versucht werden. Sollte ich also etwas geschrieben haben, was nicht den Tatsachen entspricht, bin ich froh über Rückmeldungen in den Kommentaren oder über das Fehlerformular.

Was ist die Rolle der arabischen „Freunde“ der Palästinenser?

Die Beziehung zwischen den arabischen Staaten und den Palästinensern (Ein Begriff, der als Bezeichnung für die muslimisch-arabischen Bewohner Cisjordaniens im Zuge des Nationbuilding in den 1960er-Jahren entstand. Zuvor wurde diese Bezeichnung für die antike jüdische Bevölkerung in dem Gebiet gebraucht.) ist eine zwiespältige bis widersprüchliche. Zu Beginn des Konflikts ließen Israels Nachbarländer keinen Zweifel daran, dass sie den jungen Staat vernichten wollen. Die Motivation für die Kriege, die begonnen wurden, war also weniger pro-palästinensisch, als vielmehr anti-israelisch bzw. anti-jüdisch. Sie war auch deswegen nicht pro-palästinensisch, weil die arabische Bevölkerung des britischen Mandatsgebietes als Gesamtheit gesehen wurde und es vor dem Ende des Mandats keine Staatsgrenze entlang des Jordans gab. Von 1921 bis 1923 umfasste das Mandat die Gebiete westlich (Cisjordanien bzw. Westpalästina) und östlich (Transjordanien bzw. Ostpalästina) des Jordans als Ganzes. Ab 1923 war Transjordanien ein autonomes Emirat innerhalb des britischen Mandats. Mit Fortdauer des Konfliktes und den dauernden Rückschlägen schwand zumindest die Lust der arabischen Verbündeten an der aktiven Kriegsbeteiligung. Man beschränkte sich auf moralische und diplomatische Unterstützung. Zwar kommt es in der arabischen Welt regelmäßig zu großen Solidaritätsbekundungen – in den Palästen, wie auch auf den Straßen -, wenn der Konflikt wieder einmal hochkocht, jedoch bei konkreten Hilfen sind die arabischen Staaten dann doch wieder zurückhaltend und die Solidarität ist enden wollend. Die humanitäre Hilfe für die Palästinenser wird hauptsächlich von den USA, der EU und generell dem Westen finanziert und nicht von den milliardenschweren Ölstaaten. Noch zurückhaltender ist man bei der Aufnahme neuer palästinensischer Flüchtlinge und deren Ausstattung mit Bürgerrechten. Im Fall von Ägypten hat das einen sehr nachvollziehbaren Grund. Der Gazastreifen grenzt an Ägypten und es wäre ein Leichtes hier Erleichterung für die notleidende Bevölkerung in Gaza zu schaffen bzw. ihnen Schutz zu bieten. Ägypten hat jedoch Angst vor einem Wiedererstarken der Muslimbruderschaft, wenn es Palästinenser ins Land lässt. Bei den ersten freien Wahlen nach dem Arabischen Frühling hatten die Muslimbrüder 2012 triumphiert. Mittels Militärputsch beförderte der jetzige Präsident Abd al-Fattah as-Sisi den demokratisch gewählten Mohammed Mursi von den Muslimbrüdern 2013 aus dem Amt. Die Hamas, mit der viele Palästinenser in Gaza sympathisieren, ist jedoch eine Tochterorganisation der Muslimbruderschaft und für die ägyptische Führung daher ein rotes Tuch.

Im Laufe der Zeit hat sich also nicht nur Ägypten, sondern auch andere arabische Staaten (Marokko, Jordanien, UAE, Bahrain, Sudan) mit der Existenz Israels angefreundet und die Beziehungen normalisiert. Zwar gilt Katar nach wie vor als einer der wichtigsten Unterstützer der Hamas – nicht zuletzt ist ein Indiz dafür, dass die milliardenschweren Anführer der Terrororganisation (Ismail Haniyya, der bei einem Aufenthalt in Teheran am 31. Juli 2024 durch einen – wahrscheinlich israelischen – Sprengsatz getötet wurde, Mousa Abu Marzouk, Chalid Maschal) in katarischen Luxushotels residier(t)en und von dort aus die Aktivitäten in Gaza steuern, wo die Bevölkerung im Elend versinkt -, jedoch hat sich das Freund-Feind-Schema innerhalb der arabischen Welt in letzter Zeit merklich verschoben. Daraus haben sich neue Allianzen ergeben. War Israel bis vor kurzem noch der alleinige arabische Erzfeind in der Region, so ist an seine Stelle mittlerweile der schiitische Iran getreten, der wiederum der neue, mächtige Unterstützer der sunnitischen Palästinenser ist. Es ist mittlerweile sogar eine leichte Annäherung zwischen Saudi Arabien und Israel in Sicht, die durch die gemeinsame Feindschaft zum Iran genährt wird. Die Unterstützung der palästinensischen Sache durch die schiitischen Huthi-Rebellen in Jemen, die dort gegen die von Saudi Arabien unterstützte Pro-Hadi-Regierung kämpfen, nährt ebenfalls dieses “Der-Feind-meines-Feindes-ist-mein-Freund”-Schema.

Widersprüche ohne Ende: Islamismus, Antisemitismus und die Linke/Rechte

Eine Sache hätte ich nicht für möglich gehalten: Eine faschistoide und radikalislamistische Terrororganisation wie die Hamas verübt – gedeckt von einem nicht kleinen Teil der Bevölkerung Gazas – eines der größten und grausamsten Verbrechen der jüngeren Geschichte, streamt die Gräueltaten live im Internet und paradiert in einem barbarischen, perversen, unmenschlichen Schauspiel misshandelte und geschändete Körper ziviler Opfer und Geiseln unter dem Jubel hunderter Menschen durch die Straßen Gazas. Attentäter prahlen im Telefonat mit ihren Eltern, wie viele Juden sie ermordet hätten und ihnen hallen stolze Allahu-Akbar-Rufe entgegen. Das Entsetzen über die Taten war zwar weltweit groß, aber dass es in der Folge in arabischen Ländern oder im Westen zu massiven Protesten mit tausenden Menschen auf der Straße in Solidarität mit den getöteten, misshandelten, vergewaltigten und entführten Menschen gekommen wäre, war nicht der Fall. Erst als die Angegriffenen begannen, die Mörder zu jagen und die Geiseln zurückzuholen, strömten die Menschen auf die Straße – in Solidarität mit den Palästinensern. Die klerikalfaschistische Hamas und die Ereignisse vom 7. Oktober spielten dabei kaum eine Rolle. Der Hass richtete sich – die Geschichte, wie ich sie in Teil 1 erzählt habe, völlig ausblendend oder bis zur Unkenntlichkeit verzerrend – einzig und allein gegen Israel. Selbst Fotos der entführten Geiseln waren vor diesem Hass nicht sicher und wurden vielerorts heruntergerissen. Es ist eine moralische Verkommenheit und eine geschichtsvergessene Ignoranz, die sprachlos macht.

Bitte nicht falsch verstehen: Es ist völlig legitim, sich für die Sache der Menschen in Palästina zu engagieren und dafür auf die Straße zu gehen. Die Ungerechtigkeit anzuprangern (wenngleich diese zu einem nicht unerheblichen Teil auch selbstverschuldet ist – siehe Teil 1) und den Staat Israel, seine Regierung und die Siedlungspolitik zu kritisieren, ist absolut gerechtfertigt. Wenn ich dabei allerdings mit den größten Hinderungsgrund für ein friedliches Miteinander in der Region ausblende – und zwar jene, die Israel und alle Juden aus religiösem Fanatismus vernichten und einen mittelalterlichen, totalitären Gottesstaat errichten wollen -, ist der Protest entweder primitiver Antisemitismus (Protest gibt es nur, wenn Israel der “Aggressor” ist), bewusste Heuchelei (wieso ist die Freiheit der Menschen in Jemen, Darfur, Kurdistan, Syrien usw. kein Thema?) oder einfach nur himmelschreiend naiv und dumm.

Bestes Beispiel dafür sind “Queers for Palestine”, die “From the River to the Sea” skandieren. Laut dem “LGBT Equality Index” liegt Palästina (6 Punkte) auf Platz 192 von 197 Ländern, was die Situation queerer Menschen anbelangt. Es gibt auf der Welt nur fünf Länder, in denen LGBTQIA+-Personen noch schlechter dran sind als in den palästinensischen Autonomiegebieten, wobei die Situation im Westjordanland (Westbank) tendenziell besser ist als in Gaza. Schwulen Menschen, die ihre sexuelle Orientierung öffentlich machen, droht der Tod. Israel hingegen erreicht in dem Ranking 64 Punkte und landet auf Platz 43 weltweit (zum Vergleich: Österreich ist 26., Italien 33.). Ahmad Abu Murkhiyeh beispielsweise war ein schwuler Palästinenser, der in Israel aus diesem Grund im Asyl lebte. Er wurde in der Folge aller Wahrscheinlichkeit nach nach Hebron entführt und von einem 25-jährigen Landsmann enthauptet, der die Tat filmte und auf Social Media verbreitete. Der Falls sorgte für Schlagzeilen und politische Diskussionen. In Israel leben derzeit 90 Palästinenser im Asyl aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. “From the River to the Sea” bedeutet, dass der Staat Israel eliminiert wird und sich die “Freiheit” à la Hamas (anti-demokratisch, anti-feminin, anti-LGBTQ+, anti-Meinungsfreiheit, anti-Pressefreiheit, anti-Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, anti-Religionsfreiheit usw.) über die gesamte Region erstreckt. Der einzige Ort, an dem queere Menschen im Nahen Osten einigermaßen in Sicherheit leben können, ist Israel, ein safe haven inmitten einer Region voller Schwulenhass (in mehreren Ländern der Region steht auf Homosexualität die Todesstrafe). Noch einmal: Ich kann mich auch als queere Person für die palästinensische Sache engagieren, sollte dabei allerdings nicht jede andere benachteiligte Gruppe oder Minderheit und jedes nur erdenkliche demokratische Freiheitsrecht opfern. Denn das wäre ein sehr selektives Verständnis von Freiheit. Paradoxerweise werfen viele linke Pro-Palästina-Aktivisten genau dieses selektive Verständnis anderen Linken vor, die nicht undifferenziert “Free Palestine” und “From the River to the Sea” rufen bzw. BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) skeptisch sehen. Sie nennen sie PEP (progressive except Palestine). Dem könnte man entgegenhalten, dass das Ignorieren von vergewaltigten jüdischen Frauen, Marry-your-rapist-Praktiken in Gaza und dergleichen POP (progressive only for Palestine) ist. P.S.: Die antisemitisch angehauchte Erklärung, dass die Palästinenser aufgrund der Unterdrückung durch Israel keine freie, liberale Gesellschaft formen konnten, zieht nicht. Erstens gibt es diese freie, liberale Gesellschaft auch nicht in jenen Ländern der Region, die nicht von Israel “unterdrückt” werden. Und zweitens ist die Gesellschaft des “Unterdrückers” weitgehend frei und liberal.

Ein anderer paradoxer Aspekt ist jener der Zuwanderung. Für gewöhnlich stehen Linke einer Niederlassungsfreiheit von Menschen jeglicher Herkunft zumindest nicht negativ oder gänzlich ablehnend gegenüber. Im Falle jüdischer Zuwanderung in besagtes Gebiet scheint das anders zu sein, was wiederum ein Hinweis für antisemitische Ressentiments ist. Rund die Hälfte der Menschen in Gaza sind Nachfahren ägyptischer und anderer arabischer Zuwanderer im 20. Jahrhundert. Und rund die Hälfte der Bevölkerung Israels stammt von Menschen ab, die wiederum aus arabischen Ländern im 20. Jahrhundert vertrieben wurden. Unter pro-palästinensischen Gruppen werden erstere oft als “autochthone Bevölkerung” und zweitere als “Kolonialisten” geframt. Ist also jüdische Zuwanderung in den und aus dem Nahen Osten für diese Gruppierungen generell nicht erwünscht?

Doch woher kommt diese bisweilen paradoxe Affinität für die Palästinafrage in manchen linken Kreisen? Da wäre zunächst die geschichtliche Erklärung: Viele anti- bzw. post-koloniale Freiheitsbewegungen im globalen Süden waren in irgendeiner Form sozialistisch und pflegten Beziehungen zur Linken im Westen. Antikolonialismus, Antiimperialismus und Selbstbestimmung sind linke Kernthemen. Die nationalistische zionistische Bewegung – wie auch der Staat Israel selbst – wurde von Linken vielfach als kolonialistisch oder imperialistisch gelesen.

Der libysche Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi beispielsweise war ein linksanarchistischer, arabischer Nationalist. Die PLO (Palestine Liberation Organization) wurde ebenfalls als panarabisch-nationalistische und sozialistische (nahezu marxistische) Bewegung gegründet. Religion bzw. der Islam – Stichwort: “Opium für das Volk” – spielte damals in den frühen palästinensischen Organisationen eine sehr untergeordnete Rolle. Nicht von ungefähr arbeiteten Linksextremisten wie die deutsche Terrorgruppe RAF (Rote Armee Fraktion) eng mit der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und der Fatah zusammen.

Eine zweite Erklärung könnte ein – zwar nicht systemimmanenter, aber doch tief verwurzelter – Antisemitismus auch innerhalb linker Gruppierungen sein. Sina Arnold beschreibt das in einem Aufsatz für “Anders Denken” sehr treffend: 

Die Geschichte zeigt […], dass der Kampf gegen Antisemitismus zumeist von links stattfand und etwa von antifaschistischen, kommunistischen oder sozialdemokratischen Organisationen oder Parteien getragen wurde. Anders als für die extreme Rechte ist Antisemitismus für die politische Linke nicht konstitutiv, im Gegenteil. Warum findet man ihn also trotzdem? Einerseits, weil auch Linke nicht grundsätzlich frei von gesamtgesellschaftlichen Denkweisen wie Rassismus, Sexismus oder eben Antisemitismus sind. Andererseits, weil manche linken Inhalte besonders anschlussfähig an antisemitische Stereotype sind. […] So begreifen nicht alle Linken den Kapitalismus als ein systemisches, apersonales Herrschaftsverhältnis. Zum Teil wird er stattdessen als ein bewusstes Machwerk eines ausgewählten Kreises vorgestellt – etwa von Eliten, die die Geschicke der Ökonomie planen und lenken. In dieser personalisierten und dadurch verkürzten Kritik am Kapitalismus ist die Frage naheliegend, wer denn dieser Kreis an Leuten ist. Und oft genug kommen dann Verweise etwa auf „die Rothschilds“, „die Rockefellers“ oder die amerikanische „Ostküste“ – als Chiffre für Jüdinnen und Juden.

Eine weitere mögliche thematische Anschlussstelle ist der Nahostkonflikt. Die meisten Linken stehen Israel kritisch gegenüber und stellen sich einseitig auf die Seite der Palästinenser/innen. Seit dem Sechstagekrieg 1967 wurde der Antizionismus in linken Bewegungen in vielen Ländern dominant. Dazu tragen einige Positionen bei, die viele Linke selbstverständlich vertreten: ein vereinfachter Antiimperialismus, Antikolonialismus oder Antirassismus. Immer wieder lautet dann das Urteil: Israel sei imperialistisch, durch und durch rassistisch und betreibe eine koloniale Expansionspolitik. In dieser dichotomen Sichtweise werden viele Aspekte oft nicht thematisiert, etwa die Geschichte der Staatsgründung des Landes oder der Antisemitismus von Teilen der palästinensischen Gesellschaft. In manchen Fällen überschreitet die politisch motivierte Kritik die Grenze zum Antisemitismus.

Dass es im demokratischen Israel seit jeher einen gesunden, gewaltfreien Machwechsel gibt, der immer wieder auch Linkspolitiker bzw. gemäßigte Liberale ohne hypernationalistischen Dünkel (Rabin, Peres, Barak, Olmert u. a.) an die Regierungsspitze befördert hat, könnte auch ein Indiz dafür sein, dass Israel kein durch und durch kolonialistisches, imperialistisches Unterfangen ist.

Vielen scheint auch nicht klar zu sein, dass die damaligen “Brüder und Schwestern im Geiste” wenig bis nichts mit der Ideologie der heutigen “Freiheitskämpfer” zu tun haben. Unterstützte man damals zwar nationalistische bis terroristische, aber doch auch sozialistische, anti-imperialistische Bewegungen, so läuft man heute Gefahr, sich an der Seite von faschistoiden Islamisten wiederzufinden, die so ziemlich alles verabscheuen, wofür die westliche Linke steht oder stehen möchte. Ein Umstand, der in Israel mit einer gehörigen Portion bitterbösen jüdischen Humors auch satirisch aufgegriffen wird.

Jedenfalls führt diese eigenartige Verquickung dazu, dass Islamisten, Rechtsextremisten und Linke/Liberale/Woke sowie jüngst auch Klimaktivistinnen, geeint in ihrem Antisemitismus, ihre jeweiligen Ideale ignorierend und jegliche Relationen verlierend, gemeinsam für Palästina auf die Straße gehen. Wobei für Rechtsradikale bis Rechtsextremisten die momentane Situation alles andere als einfach ist. Einerseits bietet Israels Vorgehen einen wunderbaren Vorwand seinen Antisemitismus breitzutreten. Gleichzeitig führt aber ein rechtsradikaler Bruder in Israel einen Kampf gegen Islamisten – was wiederum die Möglichkeit böte, antiislamische und islamophobe Ressentiments zu schüren. Wobei die Judenfeindlichkeit Islamisten und Rechtsextreme seit jeher eint – man erinnere sich nur an die Allianz zwischen Palästinenserführer Mohammed Amin al-Husseini und Adolf Hitler. Es ist wahrlich kompliziert.

Wer sind die israelischen Zündler?

Womit wir bei Benjamin Netanjahu wären.

Aber der Reihe nach. Die israelischen Siedlungen in besetztem Gebiet gelten als einer der Hauptstreitpunkte im Nahostkonflikt. Die Geschichte begann nach dem Sechstagekrieg 1967, im Zuge dessen Israel die Golanhöhen von Syrien, Ostjerusalem und das Westjordanland von Jordanien und den Gazastreifen (wie auch die Halbinsel Sinai) von Ägypten erobert und in der Folge besetzt bzw. im Falle der Golanhöhen und Ostjerusalems zu einem späteren Zeitpunkt völkerrechtswidrig annektiert hat. Israel betrachtet letztere also als sein Staatsgebiet, während die besetzten Gebiete unter israelischer Militärverwaltung stehen. Zuvor waren der Gazastreifen sowie die Westbank und Ostjerusalem – ebenfalls völkerrechtswidrig – bereits von Ägypten und Jordanien besetzt worden.

Eine entscheidende Rolle spielt dabei die sogenannte “Grüne Linie”. Das ist jene Waffenstillstandslinie, die nach Beendigung des Unabhängigkeitskrieges 1949 gezogen wurde. Diese Grenzziehung diente bei den meisten Vorschlägen zur Befriedung als grobe Orientierung für eine Zweistaatenlösung, da sie den Großteil der Eroberungen Israels nach dem Unabhängigkeitskrieg rückgängig macht.

Nachdem die arabischen Staaten mit der Khartum-Resolution (“Three Noes”) das israelische Friedensangebot (Rückzug hinter die Grenzen von 1967 – Stichwort “grüne Linie” – und Anerkennung Israels) ablehnten, begann Israel – zunächst sehr vereinzelt – in den besetzten Gebieten (Gazastreifen, Westbank mit Ostteil Jerusalems) Siedlungen zu errichten. Unter Berufung auf das Genfer Abkommen wurde diese Siedlungstätigkeit von Beginn an von verschiedensten internationalen Organisationen und Gerichten als illegal und völkerrechtswidrig eingestuft. In Artikel 49/Absatz 6 des Genfer Abkommens heißt es nämlich:

Die Besetzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder umsiedeln.

2016 schaffte es eine entsprechende Resolution erstmals auch durch den UN-Sicherheitsrat, da die USA zum ersten Mal kein Veto zugunsten Israels einlegten. Auch der Oberste Gerichtshof Israels hat bereits wiederholt Siedlungen für illegal erklärt, obwohl er die Siedlungstätigkeit nicht prinzipiell als illegal ansieht.

Die Position der israelischen Regierungen im Laufe der Jahre war ideologisch bedingt freilich keine einheitliche. Diejenigen, die den Siedlungsbau vorantrieben und genehmigten, argumentierten mit juristischen Winkelzügen, dass Teile der Ländereien rechtmäßig (auch von palästinensischen Besitzern) gekauft wurden und dass staatliche Enteignungen von nicht genutztem Land legitim seien; dass militärische Besetzung Kurzzeitigkeit impliziere, was in besagten Gebieten nicht der Fall sei; dass nur Gebiete souveräner Staaten von anderen Staaten besetzt werden könnten, dies hier nicht der Fall sei und es sich somit gar nicht um eine Besetzung handle, da Palästina nie ein souveräner Staat war und Israel das Westjordanland und den Gazastreifen von den Besatzern Jordanien und Ägypten übernommen habe. Zumindest die Sache mit dem Landkauf dürfte in jüngster Zeit keine Rolle mehr gespielt haben, denn laut palästinensischem Recht kann der Verkauf von Land an Israelis sogar mit dem Tode bestraft werden.

Auch was die Verwaltung des Gebiets anbelangt ist die Lage sehr komplex. Seit dem Oslo-Abkommen ist das Westjordanland in drei Zonen aufgeteilt, die jedoch mit Ausnahme von Zone C kein zusammenhängendes Gebiet umfassen, sondern mehr einem Fleckerlteppich ähneln:

  • Zone A steht unter voller Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde, die in der Zone sowohl für die Sicherheit als auch für die Verwaltung verantwortlich ist. Es ist die mit Abstand am dichtesten, hauptsächlich von Palästinensern besiedelte Zone.
  • In Zone B teilen sich Israelis und Palästinenser die Aufgaben: die polizeiliche Kontrolle obliegt sowohl dem israelischen Militär als auch den palästinensischen Polizeikräften, die Zivilkontrolle hingegen ist in palästinensischer Hand.
  • In Zone C übt Israel die volle Kontrolle aus. Flächenmäßig umfasst diese Zone 60 Prozent der Westbank. Die Zone ist dünn besiedelt. Von den rund 3 Millionen Einwohnern der Westbank sind 700.000 (300.000 Palästinenser, 400.000 Israelis) in Zone C niedergelassen.

Keine der Zonen wird ausschließlich von Palästinensern oder Israelis bewohnt. Ostjerusalem, das auch zum Westjordanland gezählt wird, ist nicht Teil dieser Zonen, da es von Israel annektiert wurde.

An den Grenzen zu Israel und zwischen den Zonen gibt es über 500 Mobilitätseinschränkungen (israelische Kontrollstationen – so genannte “Checkpoints”, hauptsächlich als Reaktion auf die Intifada errichtet wurden -, Straßensperren usw.), unter denen vor allem die palästinensischen Bewohnerinnen zu leiden haben, da sie sich aufgrund der Zerstückelung des Landes nicht frei zwischen den Dörfern bewegen, ihren Arbeitsplatz nicht erreichen oder die landwirtschaftlichen Flächen nicht bewirtschaften können. Zudem kommt es an den Checkpoints regelmäßig zu Schikanen und Gewalt.

Ein weiteres Unterfangen, das laut Gutachten des Internationaler Gerichtshofs gegen Völkerrecht verstößt, ist der unter Ariel Scharon 2002 begonnene Bau der Sperranlagen im Westjordanland. Dabei handelt es sich um eine befestigte Grenze aus Mauern und Zäunen, die um das gesamte Westjordanland errichtet werden soll. Während der von 2000 bis 2005 laufenden Zweiten Intifada kam es in Israel zu 20.406 Anschlägen, wovon 138 Selbstmordanschläge und 13.730 Schussüberfälle waren. 1.036 Israelis wurden dabei getötet und 7.054 verletzt. Die Anlage soll verhindern, dass Attentäterinnen vom Westjordanland nach Israel gelangen können. Der Sperrwall verläuft allerdings nicht entlang der “Grünen Linie”, die das besetzte Gebiet vom israelischen Staatsgebiet trennt, sondern er schließt die grenznahen, meist knapp hinter der “Grünen Linie” gelegenen israelischen Siedlungen mit ein. Die Sperranlagen sind für die palästinensische Zivilbevölkerung wiederum mit massiven Einschränkungen verbunden, obwohl es einigen palästinensischen Gemeinden gelungen ist, mittels einer Klage beim israelischen Höchstgericht eine Änderung des Verlaufs zu erwirken.

Im gesamten Westjordanland gilt offiziell Militärgerichtsbarkeit und nicht israelisches Recht. Dennoch wird letzteres für die Belange der israelischen Siedler meist angewandt, für die palästinensische Bevölkerung hingegen nicht. Eine offizielle Übernahme israelischen Rechts für die israelischen Siedlungen würde aber einer defacto Annexion gleichkommen, was wiederum völkerrechtswidrig wäre.

Eine ähnliche Ungleichbehandlung gibt es auch bezüglich Siedlungsbau. Zwar dürfen auch israelische Staatsbürger nur mit Regierungserlaubnis in die besetzten Gebiete ziehen (für Ostjerusalem und den Golan braucht es keine Erlaubnis, da sie annektiert sind), doch ist es für palästinensische Bürgerinnen ungleich schwieriger, eine derartige Erlaubnis zu erhalten. Umgekehrt werden auch nach israelischer Auffassung illegal errichtete Siedlungen (sogenannte “Outposts”) meist geduldet oder nachträglich saniert, während illegale palästinensische Bauten oft zerstört werden.

Hauptsächlich im Laufe von Benjamin Netanjahus zweiter (2009-2021) und dritter (2022-heute) Amtszeit wurden die Diskriminierungen und Ungleichbehandlungen mehr und stellenweise sogar institutionalisiert. Während frühere linke und liberale Regierungschefs wie Ehud Barak oder Ehud Olmert glaubhaft versuchten, Ungleichbehandlungen abzustellen bzw. die Siedlungspolitik zu revidieren versuchten und sogar Hardliner und Protagonisten der Siedlerbewegung wie Ariel Scharon bereit waren – wie im Falle von Gaza – Dutzende Siedlungen für einen möglichen Frieden aufzugeben, treibt Netanjahu, der schon damals in Opposition zu Ariel Scharons Entscheidung stand, – wohl auch um seine extremistischen Regierungspartner zum Zwecke seines Machterhalts zu befriedigen – Diskriminierung und Siedlungsbau aktiv voran. Er schafft damit Tatsachen, die eine Lösung des Konflikts massiv erschweren. In seiner Regierungszeit ist die Zahl israelischer Siedler im Westjordanland inkl. Ostjerusalem von ca. 500.000 auf ca. 700.000 gestiegen. Mittels Legalisierungsgesetz wurden 2017 rund 4.000 Siedlergebäude, die auf privatem palästinensischem Land errichtet worden waren, nachträglich legalisiert. Zudem hat Netanjahu mehrmals angekündigt, weitere Teile der Westbank annektieren zu wollen. Im März 2024 hat Israel tatsächlich 800 Hektar im Westjordanland zu israelischem Staatsgebiet erklärt. Gleichzeitig tolerierte er die Unterstützung der Hamas durch Katar, um die Autonomiebehörde zu schwächen. Ein weiterer Schritt zur Institutionalisierung von Diskriminierung oder zumindest zur Marginalisierung war das 2018 verabschiedete Nationalstaatsgesetz. Dieses Gesetz definiert, dass Israel der Nationalstaat des jüdischen Volkes sei. Israel sei offen für jüdische (!) Einwanderung und der jüdische Siedlungsbau sei ein nationaler Wert. Weiters wurde die arabische Sprache durch dieses Gesetz von einer offiziellen zweiten Amtssprache zu einer anerkannten Minderheitensprache (Sprache mit Sonderstatus) degradiert. Hauptstadt ist das ganze, vereinigte Jerusalem.

Untrennbar verbunden mit der Netanjahuisierung Israels sind religiöse Fanatiker, bekennende Rassisten und radikale Zionisten- und Siedlerbewegungen. Am 1. November 2022 fanden in Israel die fünften Knesset-Wahlen innerhalb von nur drei Jahren statt. Die Parteienlandschaft in Israel ist extrem fragmentiert und eine Regierungsbildung entsprechend schwierig. Für eine stabile Mehrheit hat sich Netanjahu und sein national-konservativer Likud zu einer Koalition mit ultraorthodoxen und rechtsextremen Parteien entschieden, die enge Verbindungen zu radikalen Siedlerbewegungen pflegen. Der israelische Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir beispielsweise lebt selbst in einer israelischen Siedlung bei Hebron. 2007 war er wegen rassistischer Aufhetzung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt worden. Und auch als Minister der Partei Otzma Jehudit (“Stärke für Israel”) schlägt er rassistische Töne an und arbeitet an der Entrechtung bis hin zur Aussiedlung arabischer Israelis und der Palästinenser. Ziel von Ben-Gvir ist auch eine massive Bewaffnung der rund 500.000 Siedler im Westjordanland.

Unterstützt durch den Terroranschlag vom 7. Oktober haben derartige Figuren den radikalen, rassistischen Siedlern im Pulverfass Westbank weiter Auftrieb verliehen und die ohnehin schon angespannte Situation zwischen Siedlern und Palästinensern weiter verschärft. Erstere haben bereits in den vergangenen Jahren immer wieder palästinensische Dörfer angegriffen, Häuser in Brand gesetzt und landwirtschaftliche Flächen zerstört sowie Bewohner und Bauern gewaltsam vertrieben. Das israelische Militär schaut bei diesen Aktionen nicht selten tatenlos zu. Die israelische Menschenrechtsorganisation Yesh Din hat 1.664 Fälle von Siedlergewalt gegenüber Palästinensern zwischen 2005 und 2023 untersucht. In nur 3 % der Fälle kam es zu einer Verurteilung. Seit dem Terroranschlag am 7. Oktober hat die Lawlessness noch einmal zugenommen. Seither haben Siedler laut einem Bericht von zwölf europäischen Staaten sowie Australien und Kanada mehr als 340 Angriffe begangen, acht palästinensische Zivilisten getötet, mehr als 80 verletzt und rund 1.000 Palästinenser aus ihrem Zuhause vertrieben. Im selben Zeitraum wurden auch sechs Israelis getötet.

Ben-Gvirs Partei- und Siedlerkollege Amihai Eliyahu, seines Zeichens Minister für religiöses und kulturelles Erbe, ist ein weiterer dieser verrückten, neonazistischen Ungustln. Sein mehrfach getätigter Vorschlag, auf Gaza eine Atombombe abzuwerfen, sorgte weltweit und auch in Israel selbst für Empörung. Das ging dann auch sogar Netanjahu zu weit, der die Äußerungen als “realitätsfern” abtat und den Minister kurzzeitig von den Kabinettssitzungen suspendierte. Der Dritte im Bunde der Extremisten ist Bezalel Smotrich (Mafdal – HaTzionut HaDatit), Finanzminister und zuständig für den Siedlungsbau. Er macht auch kein Hehl aus seiner Haltung: “Ich bin ein homophober Faschist, aber ich halte mein Wort.”

Netanjahu selbst hingegen sieht sich seit Mai 2024 zusammen mit seinem Verteidigungsminister und den Anführern der Hamas mit einem Haftbefehl wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch den Chefankläger des Internationalen Gerichtshofes, Karim Ahmad Khan, konfrontiert.

Wer sind bzw. wo stehen die Zivilisten?

Die Zivilgesellschaft spielt in dem Konflikt von Beginn an eine entscheidende Rolle. Vor der Staatsgründung Israels waren es zivilgesellschaftliche Verbände, die die jüdischen Interessen vorantrieben. Und auch heute ist sowohl auf palästinensischer als auch israelischer Seite die Zivilbevölkerung ein Akteur, der Täter und Opfer zugleich ist. Palästinensische Zivilsten sterben bei israelischen Luftangriffen. Israelische Zivilisten schikanieren und morden in der Westbank. Palästinensische Zivilisten werden von der Hamas als Schutzschilde missbraucht. Israelische Zivilisten begehren gegen ihre Regierung auf. Palästinensische Zivilisten feiern die Massaker der Hamas.

Es steht außer Frage, dass die palästinensische Zivilbevölkerung die größte Leidtragende im momentanen Konflikt ist, wenngleich auch auf israelischer Seite viele Menschen aus der Konfliktzone fliehen mussten. Gleichzeitig ist diese Zivilbevölkerung kein monolithischer Block und Aussagen wie “Die palästinensischen Zivilisten tragen nicht die Schuld für Hamas” oder “Alle Zivilisten in Gaza sind Opfer” greifen zu kurz. Zu behaupten, die palästinensische Bevölkerung im Allgemeinen und die Bevölkerung Gazas im Speziellen könne nichts für ihre Führung ist herablassend, denn es suggeriert, dass die Palästinenser unfähig und unmündig wären, sich selbst zu verwalten. Jedenfalls erreichte die Hamas bei den Wahlen 2006 im Gazastreifen eine Mehrheit.

Studien legen auch nahe, dass die Zivilbevölkerung Gazas nicht von der Hamas gegen ihren Willen in Geiselhaft gehalten wird. Laut einer Umfage des Palestinian Center for Policy and Survey Research aus Ramallah sagen im Juni 2024 57 % der Bewohner Gazas und 73 % im Westjordanland, dass Hamas’ Entscheidung zur Attacke am 7. Oktober 2023 korrekt gewesen sei. Wobei nicht klar ist, wie sehr im Detail die Bevölkerung über die Vorgänge am 7. Oktober informiert ist. Zwar gibt es Bilder und Videos, die zeigen, wie israelische Opfer und Geiseln in den Straßen Gazas unter dem Jubel und mit Beteiligung von Zivilisten geschändet werden, jedoch scheint ein Großteil der Menschen in Gaza der Überzeugung zu sein, Hamas hätte bei dem Angriff und auch danach keine Gräueltaten an Zivilisten begangen:

As we found in the previous two polls, three and six months ago, almost all Palestinians (97%) think Israel has committed war crimes during the current war. By contrast, only 9% (compared to 5% three months ago) think Hamas also committed such crimes; 2% think Israel has not committed such crimes and 88% think Hamas did not commit war crimes during the current war.

– Palestinian Center for Policy and Survey Research

Unter jenen Palästinensern, die Videos vom 7. Oktober gesehen haben, liegt die Überzeugung, Hamas habe Kriegsverbrechen begangen, allerdings bei 44 %, bei denen, die keine Videos gesehen haben, nur bei 3 %.

Auf die Frage, wer die Kontrolle über den Gazastreifen haben solle, antworten 46 % der Bewohner Gazas und 71 % der Menschen in der Westbank “Hamas”. Die “Sonntagsfrage” zeigt, dass die Hamas offenbar Hauptprofiteur der Ereignisse vom 7. Oktober und danach ist, vor allem durch einen gestiegenen Zuspruch im Westjordanland:

Quelle: Palestinian Center for Policy and Survey Research

Dementsprechend wird der gewaltsame Weg, wie er von der Hamas propagiert wird, als der zielführendste angesehen.

Quelle: Palestinian Center for Policy and Survey Research

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass tausende Zivilisten in Gaza tatsächlich unschuldige Opfer der Gewalt sind. Gleichzeitig hat die Hamas in ihrer fast 20-jährigen Herrschaft einen bizarren Märtyrerkult aufgebaut, der bis tief in die Zivilbevölkerung hinein Rückhalt findet und auch Kinder und Minderjährige (rund 61 % der Bewohner Gazas sind unter 20 Jahre alt und kennen somit kein Leben ohne Hamas-Propaganda) für ihre Ziele missbraucht und ihnen nicht zuletzt über das Schulsystem eine perverse Ideologie indoktriniert. Zudem hat das Terrorregime nachweislich UN- und Hilfsorganisationen sowie Medien unterwandert. Diese Strategie macht es bisweilen unmöglich, zwischen zivilen und militärischen Opfern auf palästinensischer Seite zu unterscheiden. Wenn die Behörden der Hamas beispielsweise von 14.000 toten Kindern ausgehen, ist zu berücksichtigen, dass von der Hamas auch Minderjährige in den Kampf (und meist sicheren Tod) geschickt werden, die dann als getötete Kinder gezählt werden. Die Zahl der bestätigten und identifizierten minderjährigen Todesopfer im Gazastreifen lag im Mai laut OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) bei 7.797.

Bedingt durch die katastrophale humanitäre Lage und andauernden Kampfhandlungen im Gazastreifen sind zivilgesellschaftliche Ausdrucksformen wie Demonstrationen im Moment nahezu unmöglich. Doch auch vor dem gegenwärtigen Krieg war das öffentliche, zivilgesellschaftliche Aufbegehren gegen die Hamas – sollte es ein nennenswertes geben – überschaubar, weil das Regime Bürgerrechte massiv eingeschränkt hat (siehe Demokratie- und Freedom-in-the-world-Index). Etwas besser ist die Situation diesbezüglich im Westjordanland und den israelisch besetzten Gebieten. Die Menschen dort haben trotz der israelischen Repressalien in einem gewissen Maß “the freedom to complain”, wie es im Menschenrechtsduktus heißt. Davon zeugen zahlreiche Berichte und Dokumentationen, die von Journalistinnen und Journalisten aus aller Welt in der Westbank produziert wurden und in denen die Menschen offen über Besatzung und Unterdrückung sprechen.

Dass die Zivilgesellschaft in Israel hingegen absolut gefahrlos gegen die Machthaber demonstrieren kann, hat nicht zuletzt der weitgehend friedliche Massenaufstand gegen die von der Regierung Netanjahu geplante Justizreform gezeigt. Ab Jänner 2023 – also 10 Monate vor den Ereignissen vom 7. Oktober – gingen in Tel Aviv und ganz Israel regelmäßig mehr als 100.000 Menschen aus Protest auf die Straße und zwangen dadurch die Regierung, die Reform vorerst auf Eis zu legen.

Generell steht die Regierung Netanjahu stark unter Druck. Neben der Justizreform ist es vor allem Netanjahus Handling der gegenwärtigen Krisensituation. Der Regierung wird Versagen auf mehreren Ebenen vorgeworfen: (1) Der Angriff am 7. Oktober hätte nie passieren dürfen. (2) Die Anstrengungen, die nach wie vor festgehaltenen Geiseln zu befreien, sind unzureichend. (3) Der Krieg gegen Hamas bringt nicht die erwünschten Resultate. Entsprechend schlecht waren die Umfragewerte der Regierungskoalition, obwohl infolge des Terrorangriffs vom 7. Oktober am 12. Oktober ein Kriegskabinett (Notstandsregierung) installiert wurde, das bis 17. Juni 2024 Bestand hatte und dem auch Oppositionsführer Benny Gantz angehörte. In jüngsten Umfragen befindet sich Netanjahu jedoch wieder im Aufwind. Während er als Person in der Beliebtheit nun wieder vor seinem schärfsten Konkurrenten Gantz liegt, hätte sein Likud bzw. sein Parteienbündnis im Moment laut “Sonntagsfrage” keine Mehrheit in der Knesset.

Die gewaltsame Reaktion auf die Attacke der Hamas findet in der israelischen Bevölkerung grundsätzlich Zustimmung. Über das Ausmaß des Krieges ist man sich jedoch uneinig, wie eine Umfrage des Pew Research Centers zeigt.

Quelle: Pew Research Center

Am augenscheinlichsten ist der Unterschied zwischen jüdischen und arabischen Israelis.

Israeli Arabs are much more critical of the military response, with 74% saying it has gone too far. Only 4% of Israeli Jews agree.

– Pew Research Center

Gleichzeitig schwindet der Glaube an eine Zweistaatenlösung bei allen Bevölkerungsgruppen in Israel, trotz eines jüngst leichten Aufwärtstrends bei den Araberinnen.

Quelle: Pew Research Center

Stattdessen wähnen sich jene im Aufwind, die sich nach dem israelischen Abzug aus Gaza 2005 für eine neuerliche Besatzung nach Beendigung des Krieges aussprechen.

Quelle: Pew Research Center

Weitere Radikalisierungstendenzen lassen sich im Aftermath des 7. Oktober also nicht nur in der palästinensischen Zivilbevölkerung sondern auch in Israel ausmachen. Extreme Ansichten wurden offenbar durch die Ereignisse gestärkt, was eine diplomatische Lösung in weite Ferne rückt. Selbst wenn eine solche von den Führern (weibliche Spitzenpolitikerinnen sucht man auf beiden Seiten vergeblich) gewollt wäre, würde sie wohl wenig Akzeptanz in der Bevölkerung finden.

Mitunter die radikalsten zivilgesellschaftlichen Akteure – zumindest auf israelischer Seite – finden sich im Siedlermilieu. Seit dem 7. Oktober gibt es aber nicht nur dort die Tendenz, dass vermehrt private, bewaffnete Milizen gegründet werden. Mehr als 900 solcher „Kitat Konenut“ sollen es im ganzen Land seit dem Terroranschlag sein. Gleichzeitig explodiert die Zahl der Waffen in privater – vornehmlich jüdischer – Hand. Vor allem die arabischen Israelis fürchten, dass sich die gesteigerte Aggression auch gegen sie richten könnte.

Warum für Israel andere Maßstäbe gelten?

In einer Sache sind sich die Konfliktparteien einig: “Im Nahostkonflikt wird mit zweierlei Maß gemessen.” Diese Aussage würden wahrscheinlich sowohl Israelis als auch Palästinenser unterschreiben – unter umgekehrten Vorzeichen natürlich. Einige Überlegungen dazu:

Man könnte argumentieren, dass sich Israel als Demokratie mit anderen Maßstäben als die autoritären Regime der Region messen lassen muss. Die moralische Messlatte in punkto Menschenrechte kann für die demokratisch gewählte Regierung Israels nicht die gleiche sein wie für die mörderischen Regime in Saudi Arabien, Syrien oder im Iran. Da müssen internationale Organisationen sowie die USA und Europa als Verbündete genauer hinschauen. Gleichzeitig hat eine derartige “Ungleichbehandlung” aber auch einen rassistischen Unterton, und zwar in dem Sinne, dass man anderen Ländern im Nahen Osten nicht zutrauen kann, menschenrechtliche Standards einzuhalten und man Gräueltaten als “systemimmanent” oder “kulturbedingt” abtut. Ebenso könnte es aber als kolonialistisch-rassistisch ausgelegt werden, wenn man eurozentristische Standards was beispielsweise Frauen- und Schwulenrechte betrifft, auf die Länder des Nahen Ostens bzw. den muslimisch dominierten Raum überträgt. Prangert man jedoch Missstände an einem Ort an und am anderen nicht, ist man wiederum schnell ein Heuchler. Sagte ich schon, dass es kompliziert ist?

Und in der Tat scheint man bei Israel besonders genau hinzuschauen. Im Zeitraum zwischen 2015 und 2022 gab es 140 Resolutionen der UN-Generalversammlung zu Israel, im gleichen Zeitraum hingegen nur 68 Beschlüsse zu allen anderen Ländern auf der Welt. Im UN-Menschenrechtsrat gab es zwischen 2006 und 2023 192 Verurteilungen. 103 davon betrafen Israel, 42 Syrien, 16 Nordkorea, 14 den Iran und 12 Eritrea. China, Russland, Saudi Arabien, Afghanistan und andere bekannte “Menschenrechtschampions” scheinen in der Statistik nicht auf. Keine einzige Verurteilung. Angesichts multipler Krisen, mörderischer Kriege und verbrecherischer Tyrannen vielerorts auf der Welt ist dieser Fokus auf die einzige Demokratie im Nahen Osten bemerkenswert. Der Verdacht, dass es innerhalb der Vereinten Nationen einen Bias gibt und dass Verurteilungen meist politisch motiviert sind und es nicht notwendigerweise um die Verbesserung der weltweiten menschenrechtlichen Situation geht, ist angesichts obiger Zahlen nicht ganz von der Hand zu weisen.

Ebenfalls nicht von der Hand zu weisen ist die Tatsache, dass die Palästinenser in diesem Konflikt einen viel höheren Blutzoll zahlen als die Israelis. Bis zum 7. Oktober 2023 sind rund fünfeinhalb mal so viele Palästinenser wie Israelis gewaltsam ums Leben gekommen. Für die palästinensische Seite ist dies ein Beleg, dass arabische Leben in der Wahrnehmung vieler weniger wert wären als israelische. Die Diskrepanz lässt sich anhand mehrerer Faktoren erklären. Die Waffen der israelischen Armee sind viel schlagkräftiger – und somit totbringender – als jene der militanten palästinensischen Gruppierungen. Zwar rühmt sich Israel stets seiner modernen Technik, dennoch kommt es relativ oft vor, dass die vermeintlichen Präzisionswaffen zivile Ziele treffen. Dies liegt zum Teil wieder auch daran, dass die asymmetrische Kriegsführung eine Unterscheidung zwischen zivil und militärisch auf palästinensischer Seite erschwert bis verunmöglicht. Manchmal gibt es für solche “Fehler” Konsequenzen, oft aber auch nicht und es bleibt bei der Verlautbarung: “Israel hat eine Untersuchung eingeleitet.” Ein weiterer Grund, warum mehr Palästinenser sterben, ist der, dass auf israelischer Seite Hightech-Verteidigungssysteme wie der “Iron Dome” die Zivilbevölkerung schützen, während vor allem die Hamas im Gazastreifen ein strategisches Interesse daran hat, dass Israel zivile Opfer verursacht. Chats des Hamas-Führers Jahja Sinwar, die dem Wall Street Journal vorliegen, sollen diese Absicht belegen. Für die Erfüllung der Kriegsziele nimmt die IDF (Israel Defense Forces) dabei offenbar die von der Hamas gewollte große Zahl ziviler Opfer in Kauf, auch wenn sie dabei gegen völkerrechtliche Standards verstößt, Gerichtsurteile ignoriert und das Missfallen der Verbündeten auf sich zieht. Trotz des Ungleichgewichts bei den Todesopfern orte ich aber schon einen moralischen Unterschied zwischen einem Akteur, der bisweilen Warnungen (Nachrichten auf Handys, Flugblätter usw.) absetzt, bevor er angreift, und einem Akteur der absichtlich feiernde Musikfestivalbesucherinnen und Familien mit Kindern im Schlaf erschießt.

Jedenfalls führt dieser Vergleich der Wertigkeit von Menschenleben bisweilen zu bizarren Situationen. So fragte unlängst Sky-News-Reporterin Kay Burley den Sprecher der israelische Regierung, Eylon Levy, in aller Tatsächlichkeit, ob für Israel Palästinenser weniger wert seien, da bei einem Austausch von israelischen Geiseln gegen palästinensische Häftlinge für nur 50 israelische Geiseln gleich 150 palästinensische Gefangene freigelassen wurden.

Wie geht es weiter?

Die kurze Antwort: keine Ahnung! Die lange Antwort könnte man entlang häufig propagierter Lösungsansätze zum Nahostkonflikt und deren Negation geben.

Wenn Israel die Waffen streckt und alle Verteidigungsmaßnahmen einstellt, wird es vernichtet. Wenn Hamas die Waffen streckt, herrscht Frieden.

Die Vernichtung Israels und ein Gottesstaat “From the River to the Sea” ist offizielle Linie der Hamas – wie im übrigen auch des Irans. Es steht außer Frage, dass Hamas mehr Schaden anrichten würde, wenn sie nur könnte. Ob sich jedoch die Situation der Palästinenser schlagartig bessern würde, wenn sie dem gewaltsamen Widerstand abschwören, darf angesichts rechtsextremer Kräfte und religiöser Fanatiker in der israelischen Regierung, radikaler jüdischer Siedler und einer – milde ausgedrückt – nicht gerade wohlwollenden Haltung der israelischen Bevölkerung gegenüber den Palästinensern bezweifelt werden. Wobei die ganze Geschichte ein Henne-Ei-Problem ist (siehe Teil I – Wer hat angefangen?). Haben sich die Palästinenser für den Terror entschieden, weil sie arm sind? Oder sind sie arm, weil sie sich für den Terror entschieden haben? Ist der palästinensische Extremismus eine Reaktion auf israelischen Extremismus oder umgekehrt?

Die Hamas ist das Problem. Sie ist das größte Hindernis für den Frieden. Nur wenn sie besiegt und zerstört ist, gibt es Aussicht auf eine Lösung.

Eine klerikalfaschistische Terrororganisation, die über ein Gebiet herrscht und seine Nachbarn vernichten will, ist natürlich ein Hindernis. Mit der Hamas in ihrer derzeitigen Form kann es nie Frieden geben. Deshalb ist ihre Zerstörung ein legitimes Ziel. Doch es stellt sich die Frage, ob eine militärische Bekämpfung einer auf religiösem Fanatismus basierenden Gruppierung, die zwangsläufig ziviles Leid mit sich bringt, nicht ausgerechnet den Nährboden für die Existenz solch religiöser Fanatismen schafft. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die israelischen Angriffe eine neue Generation von Terroristen kreieren. Gleichzeitig hatte die Hamas bis in die 2000er-Jahre herauf kaum Einfluss auf die Geschicke der Palästinenser und in der Westbank hat sie ihn nach wie vor nicht – wenngleich sie dort am Erstarken ist. Dennoch gab es auch vor der Machtübernahme der Hamas keinen Frieden. Und auch im nicht von der Hamas kontrollierten Westjordanland hat man keine finale Lösung gefunden, obwohl es durch das Oslo-Abkommen zumindest einen vielversprechenden Versuch gab.

Die Hamas muss den Raketenbeschuss einstellen, die Geiseln freilassen und kapitulieren. Dann gibt es Frieden.

Kurzfristig und lokal begrenzt mag diese Aussage stimmen und sie kommt bei den ganzen Solidaritätsbekundungen für Palästina durch die “Hamas-Versteher” erstaunlich wenig zur Sprache. Überhaupt hätte es diesen Krieg und das ganze Leid und die Zerstörung nicht gegeben, hätte die Hamas nicht einen grausamen Terrorangriff verübt und keine Geiseln genommen. Heißt im Umkehrschluss: Werden die Geiseln freigelassen und streckt die Hamas ihre Waffen, stoppt Israel die Angriffe. Da es der Hamas aber nicht um die palästinensische Bevölkerung geht, ist dies für sie keine Option. Ihr Ziel ist die größtmögliche Provokation, um in der Folge auf der Weltbühne die “Victim Card” spielen zu können. Ein perverses Spiel, das im Moment ziemlich gut zu funktionieren scheint. Gibt es kein Leid mehr, beraubt dies Hamas ihrer Existenzgrundlage. Aber selbst eine Aufgabe der Hamas und die Freilassung der Geiseln würde keine unmittelbare Lösung des Gesamtkonflikts bedeuten. Sie würden eine solche aber zumindest wahrscheinlicher machen. Ungeachtet dessen, dass die Wahrscheinlichkeit insgesamt gering ist.

Israel muss sich zur Zweistaatenlösung bekennen und den palästinensischen Staat anerkennen. Das ist der erste Schritt zum Frieden.

Mit dem Oslo-Abkommen, der “Road Map to Peace” oder dem Konvergenzplan gab es bereits Bekenntnisse in diese Richtung. Doch das gegenseitige Misstrauen ist seither wieder gewachsen. Was angesichts der Gewalteskalation kein Wunder ist. Auch war es über viele Jahrzehnte so, dass die arabisch-palästinensische Seite sämtliche Kompromisse und UN-Resolutionen, die Israel vorgeschlagen bzw. angenommen hat, abgelehnt hat. UN-Teilungsplan: abgelehnt. UN-Resolution zur Rückkehr der Palästinaflüchtlinge: abgelehnt. UN-Resolution, dass Israel sich nach dem Sechstagekrieg 1967 von allen Eroberungen zurückzieht und Frieden geschlossen wird: abgelehnt. Resolution 1515 des UN-Sicherheitsrates zur Roadmap 2002, die Zweistaatenlösung vorsieht: abgelehnt. Ehud Olmerts als Konvergenzplan bekanntes Friedensangebot von 2008 inklusive eines zusammenhängenden Palästinenserstaates mit einer Landbrücke nach Gaza und zusätzlichem israelischem Land im Tausch für große Siedlungen: abgelehnt. Alle diese Ablehnungen haben zu einer Verschlechterung der Situation der Palästinenser geführt. Israel argumentiert, dass es bereits unzählige Angebote gegeben hätte, die alle ausgeschlagen bzw. ausgenutzt wurden und dass die Anerkennung des Existenzrechts Israels absolute Bedingung sei. Von der Fatah gab es diese Anerkennung im Zuge des Osloer Abkommens, obwohl die formelle Aufnahme eines entsprechendes Passus in die Charta noch nicht erfolgt ist. Die Hamas, die in den palästinensischen Autonomiegebieten immer mehr an Einfluss gewinnt, anerkennt Israel freilich nicht und will auch keine Zweistaatenlösung. Eine solche wäre jedoch durchaus noch möglich. Kompliziert zwar, aber trotz der 700.000 jüdischen Siedler in der Westbank und Ostjerusalem möglich. Es bräuchte aber Kompromissbereitschaft. Beispielsweise könnte durch einen Gebietstausch in der Größenordnung von nur 5 Prozent des Westjordanlandes ein zusammenhängender palästinensischer Staat entstehen und gleichzeitig ein Großteil der Siedlungen erhalten bleiben. 85 Prozent der israelischen Siedler leben nämlich in großen Siedlungsblöcken meist entlang oder in der Nähe der “Grünen Linie”. Zwangsevakuierungen wie 2005 in Gaza wären zwar notwendig, hielten sich aber in Grenzen. Israelische Siedler im Westjordanland (ca. 16 %) sind im Übrigen eine kleinere Minderheit als die Palästinenser in Israel (ca. 21 %). In Ostjerusalem wiederum leben 61 % Palästinenser und 39 % jüdische Siedler.

Israel unterdrückt die Palästinenser und ist ein Apartheitstaat. Nur wenn diese Struktur aufgebrochen wird und die Palästinenser eine Perspektive haben, kann es Frieden geben.

Israel ist ein – nach wie vor – demokratisches Land, das sich seit seiner Gründung in einem Ausnahmezustand befindet und sich mit einer Dilemmasituation nach der anderen konfrontiert sieht. Handlungen, die dazu dienen, die eigene Bevölkerung zu schützen, bereiten gleichzeitig den Nährboden, dass sie wiederum angegriffen wird. Eine moralische Beurteilung aus der Ferne ist ziemlich schnell getätigt. Bei einem Raketenangriff der Hisbollah am Golan und einem Gang durch das arabische Viertel in Jerusalem, bei dem ich von bewaffneten israelischen Soldaten eskortiert wurde, durfte ich 2003 den beklemmenden Dauerzustand, in dem sich Israel befindet, live miterleben. Seither weiß ich noch viel weniger, was moralisch richtig ist und wie sich der Konflikt lösen ließe. Doch trotz der besorgniserregenden Orbanisierung unter Netanjahu (Justizreform, Nationalstaatsgesetz usw.), der Menschenrechtsvergehen, den Völkerrechtsbrüchen und der Kriegsverbrechen sowie der grassierenden Diskriminierung ist Israel weit entfernt von einem Russland unter Putin, einem Südafrika der 1960er-Jahre oder dem palästinensischen Regime in Gaza und auch der Westbank. Israel trägt Mitschuld an der katastrophalen Situation der Palästinenser, das ist keine Frage. Jedoch kann Israel allein den Palästinensern keine Perspektive geben – und das ist auch nicht seine Aufgabe. Die mangelnde Perspektive ist eben auch fatalen Fehlentscheidungen und konsequent falschen Priorisierungen auf palästinensischer Seite geschuldet. So war nach den jüngsten Bombardements Gazas durch Israel die Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten und anderen essentiellen Gütern nicht mehr gegeben. Jedoch flogen nach wie vor hunderte Raketen in Richtung Israel. Unzählige Millionen an Hilfsgeldern wurden für Rüstung sowie terroristische Infrastruktur veruntreut und die korrupten Hamasführer haben privat selbst Milliarden angehäuft. Zynisch formuliert: Das einzige, was in Gaza nicht knapp ist, sind Waffen. Waffen, die gegen die Zivilbevölkerung Israels eingesetzt werden. Von Israel wiederum wird aber erwartet, dass es die Menschen in Gaza (die großmehrheitlich 2006 die Hamas gewählt haben), diejenigen also, die sie vernichten wollen, mit Strom, Wasser und Lebensmitteln versorgt. Tut es das nicht, wird von “Blockade” gesprochen, dabei hat der Gazastreifen auch eine Grenze zu Ägypten, über die Versorgung auch passieren könnte, die Ägypten jedoch dicht hält. Aber Israel ist dem Vernehmen nach allein schuld an der humanitären Katastrophe und der Perspektivlosigkeit der Palästinenserinnen?

Die israelischen Siedlungen und die Besatzung sind das Problem. Wenn sich Israel völlig aus den palästinensischen Gebieten zurückzieht, herrscht Frieden.

Abgesehen davon, dass es immer schwieriger wird, die Westbank “ethnisch zu säubern”, weil Israel durch die illegale Besiedlung seit 1967 Tatsachen geschaffen hat, ist dieser Vorschlag ebenfalls nicht treffsicher. Bis zum Jahr 1967 gab es nämlich im Prinzip keine illegalen israelischen Siedlungen und keine Besatzung. Ok. Besatzung gab es schon. Aber nicht von Israel, sondern von Jordanien und Ägypten, die die Westbank und Ostjerusalem bzw. den Gazastreifen völkerrechtlich illegal in Besatz hielten. Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern bestand also schon vor dem Siedlungsbau und der israelischen Besatzung. Die PLO, die Palestine Liberation Organization, wurde am 28. Mai 1964, also drei Jahre vor dem Sechstagekrieg, gegründet. Und eine Blaupause für den völligen Rückzug Israels hat es ja auch schon gegeben. 2005 löste Israel – mitunter gewaltsam – sämtliche jüdischen Siedlungen im Gazastreifen auf, evakuierte rund 10.000 Siedler und beendete die Besatzung. Ein Ende des Konfliktes hat das nicht gebracht. Im Gegenteil: Die Raketenangriffe auf israelisches Staatsgebiet von Gaza aus nahmen rapide zu und die Hamas witterte Lunte. Es gab also palästinensische Attacken vor und nach der Gründung Israels, vor und nach der 1967er-Besatzung und vor und nach dem Rückzug aus Gaza. Somit können die Siedlungen kein ursächliches Motiv sein. Sie sind aber ein Erschwernis. Dies alles stützt die These, dass es bei dem Konflikt aber in erster Linie nicht um Land und erst recht nicht um die Ressourcen geht, sondern dass es ein religiös motivierter Konflikt von Fanatikern ist, in dem Antisemitismus respektive Rassismus eine gewichtige Rolle spielen. Dies wird auch der Grund sein, warum sämtliche “Land for Peace”-Angebote scheiterten und wahrscheinlich auch weiterhin scheitern werden. Oder wie der israelische Historiker Yuval Noah Harari es ausdrückt: “Humans don’t fight over territory and food. They fight over imaginary stories in their minds.”

Serie I II

Cëla enghe: 01 02 03 04 05



Einen Fehler gefunden? Teilen Sie es uns mit. | Hai trovato un errore? Comunicacelo.

Comentârs

5 responses to “Araber, Linke, Zündler, Zivilisten und der Nahostkonflikt.
Versuch einer faktischen Annäherung an die Situation in Nahost – Teil 2

  1. Wolfgang Mayr avatar
    Wolfgang Mayr

    Respekt, profunde Analyse. Hätte es “kundenfreundlicher” gefunden, daraus eine Serie zu gestalten. Aber egal, ein starker Text.

    1. Harald Knoflach avatar
      Harald Knoflach

      Danke. Ist eh ein Zweiteiler :-)

  2. Cicero avatar
    Cicero

    Kompliment, sehr guter Text mit profunden Kenntnissen des komplexen Themas.
    Vielleicht einige Ergänzungen die evtl. zu kurz gekommen sind, das Westjordanland betreffend.
    MMn sind die Argumente Israels nicht bloß “juristische Winkelzüge” sondern haben Motive die ganz eindeutig, resultierend aus den gemachten Erfahrungen, die Sicherheit des Staates Israels insgesamt betreffen.
    Erstens überzeugt die Begründung nicht dass es sich im Fall Westjordanland um “besetztes Gebiet” handelt, da nur Staatsgebiet von souveränen Staaten besetzt werden kann, was im Fall des Westjordanlandes nicht zutrifft, weil ja eine Staatsgründung arabischer Palästinenser 1948 (im Gegensatz zur Gründung des Staates Israel) nicht zustandegekommen war und Israel somit kein fremdes Staatsgebiet “besetzt” hält. Die richtige Bezeichnung ist “umstrittenes Gebiet” auf das beide Seiten Anspruch erheben und dessen Status erst geklärt werden muss.
    Auch der Artikel 49/Absatz 6 des Genfer Abkommens trifft nicht auf die Situation des Siedlungsbaus im Westjordanland zu, da der Passus: “Die Besetzungsmacht darf nicht Teile ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet deportieren oder umsiedeln” in diesem Fall eben nicht zutrifft da die Siedlungstätigkeit wohl freiwillig erfolgt und mit Deportation oder gewaltsamer Umsiedlung nichts zu tun hat, zumal dieser Artikel des Genfer Abkommens als Reaktion auf gewaltsame Deportationen Nazi- Deutschlands in den Ostgebieten seinen Ursprung hat. Die Begründung mit dem Verweis auf diesen Artikel also schon sehr an den Haaren herbeigezogen ist.
    Der entscheidende Punkt ist aber die strategische Sicherheitsarchitektur was deshalb eine Rückkehr zur „Grünen Linie“ (der Waffenstillstandslinie von 1949) sicherheitspolitisch inakzeptabel für Israel macht.
    Dazu folgender (schon etwas ältere Artikel) der die Lage aus sicherheitstechnischer Sicht Israels darlegt:

    Israel und das Westjordanland

    1. Harald Knoflach avatar
      Harald Knoflach

      Danke für die positive Rückmeldung.

      Erstens überzeugt die Begründung nicht dass es sich im Fall Westjordanland um “besetztes Gebiet” handelt, da nur Staatsgebiet von souveränen Staaten besetzt werden kann, was im Fall des Westjordanlandes nicht zutrifft, weil ja eine Staatsgründung arabischer Palästinenser 1948 (im Gegensatz zur Gründung des Staates Israel) nicht zustandegekommen war und Israel somit kein fremdes Staatsgebiet “besetzt” hält.

      Das hab ich in meinem Text ja auch geschrieben. Fakt ist aber auch dass es unterschiedliche juristische Auslegungen in der Angelegenheit gibt.

  3. Harald Knoflach avatar

    Habe gerade bemerkt, dass ich beim Kapitel “Was ist die Rolle der arabischen „Freunde“ der Palästinenser?” keine Ausführungen zur Arabischen Friedensinitiative eingefügt habe:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Arabische_Friedensinitiative

Scrì na resposta

Your email address will not be published. Required fields are marked *

You are now leaving BBD

BBD provides links to web sites of other organizations in order to provide visitors with certain information. A link does not constitute an endorsement of content, viewpoint, policies, products or services of that web site. Once you link to another web site not maintained by BBD, you are subject to the terms and conditions of that web site, including but not limited to its privacy policy.

You will be redirected to

Click the link above to continue or CANCEL