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  • Malser #fail?
    Was wir nicht sagen würden, wenn…

    Vor einigen Monaten gehörte es im Südtiroler Mainstream, zumal im progressiven (mit Ausnahme von ), zum guten Ton, gegen die Selbstbestimmungsumfrage der Süd-Tiroler Freiheit zu wettern. Wiewohl diese als Willensbekundung ohne rechtlich bindenden Charakter konzipiert war, wurde die Sicherheit des Abstimmungssystems genauestens untersucht und kritisiert — letztliche wurden formale Gründe vorgschoben, um das Vorhaben inhaltlich zu delegitimieren.

    Derzeit läuft in Mals eine amtliche Volksabstimmung, deren Ergebnis für die Gemeinde bindend ist. Wie wir schon geschrieben haben und auch an dieser Stelle wieder vorauszuschicken ist, halten wir den in Mals eingeschlagenen Weg sowohl aufgrund des Verfahrens, als auch »in der Sache« für von großer Bedeutung für die Mitbestimmung in Südtirol.

    Und dennoch kann ich mir nicht verkneifen, auf einige Probleme im Verfahren hinzuweisen, um aufzuzeigen, dass mit zweierlei Maß gemessen wird.

    Wahlen und Abstimmungen, die sich über mehr als einen Tag erstrecken, sind einer höheren Manipulationsgefahr ausgesetzt, als solche, bei denen Wahlhandlung und Auszählung an einem Tag stattfinden. Über Nacht sind die bereits ausgefüllten Stimmzettel meist gar nicht oder schlechter bewacht, als während des Tages. Um unbefugten Zugriff darauf zu verhindern sind zum Beispiel bei Gemeinde- oder Landtagswahlen rund um die Uhr Polizisten anwesend, die Wahllokale werden zudem versiegelt. Da in Mals ein ungewöhnlich langer Abstimmungszeitraum (vom 22.08. bis 05.09.) angesetzt wurde, sind derartige Maßnahmen kaum möglich.

    Briefwahlen — in Mals kann nur auf dem Briefweg abgestimmt werden — bergen zudem weitere Sicherheitsrisiken, die bei der Kritik an der STF-Umfrage auch tatsächlich benannt wurden: Ein Familienangehöriger könnte für alle anderen Mitglieder des Haushalts abstimmen oder aber die Abstimmungsunterlagen der anderen einfach unterschlagen und vernichten. Zudem wäre es möglich, Abstimmungsberechtigte unter Druck zu setzen und von ihnen einen (z.B. fotografischen) Beweis für ihr Abstimmungsverhalten zu verlangen. Nicht von ungefähr sind in Wahllokalen Kameras und Fotohandys verboten.

    Für die amtliche Briefwahl gibt es allgemeine Standards, um Betrug zumindest einzuschränken: In der Schweiz und in Österreich muss beispielsweise ein unterschriebener Abschnitt mit ins Kuvert gegeben werden, mittels dessen ermittelt werden kann, wer sich an der Abstimmung beteiligt hat. Bei der Briefwahl zum Südtiroler Landtag vor einem Jahr war dies ähnlich geregelt. Der Stimmzettel ist dann noch einmal in einem zweiten, anonymisierten Umschlag enthalten, womit das Wahl- und Abstimmungsgeheimnis sichergestellt wird. Die Unterschrift erhöht nicht nur die Hemmschwelle für allfällige Mehrfachwähler, sondern gestattet es im Verlustfall auch, dem Wahlberechtigten eine Kopie der Unterlagen zur Verfügung zu stellen — und dann dennoch zu überprüfen, ob er nicht mehrmals an der Wahl oder Abstimmung teilnimmt. Den offiziellen Wahlinformationen der Gemeinde Mals zufolge muss bei der dortigen Abstimmung nichts unterschrieben werden — anders als bei der selbstverwalteten Abstimmung der Süd-Tiroler Freiheit. Dort wurde damals kritisiert, die Bewegung könne so unter Umständen das Abstimmungsverhalten der Teilnehmer nachvollziehen. Dies wurde jedoch durch die öffentliche Auszählung (bei Trennung der namentlichen Kuverts von den anonymen Umschlägen mit den Stimmzetteln) entkräftet.

    Nun ist es freilich so, dass man dem System in Mals trotzdem vertrauen kann und meiner Meinung nach auch sollte. Allerdings ist es schon bemerkenwert, dass an eine private Aktion teils höhere Maßstäbe angelegt werden, als an eine offizielle und bindende Volksabstimmung. Es stimmt zwar, dass der Hauptkritikpunkt an der STF-Umfrage im digitalen Abstimmungssystem lag, aber es wurde eben auch das analoge Procedere bemängelt. Einem Vergleich mit der Abstimmung in Mals hält dieses allerdings stand.

    Dass heute anders als damals keine massive Kritik von Parteien, Medien und privaten Kommentatoren zu vernehmen ist, deutet darauf hin, dass man es vor einigen Monaten nicht auf das System, sondern auf den Inhalt abgesehen hatte. Und dass die Willensbekundung von rund 60.000 Bürgerinnen bis heute ignoriert wird, ist aus demokratischer Sicht inakzeptabel.

    Cëla enghe: 01 02 03 04 05



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  • Zurücklehnen!?
    Quotation

    Landeshauptmann und Volkspartei diskutieren indes nicht wirklich Szenarien für eine eventuelle Zeit nach der Autonomie. Sie suchen beziehungsweise haben zurzeit keinen Plan B. “Ich könnte mich natürlich im Sessel zurücklehnen und nach Selbstbestimmung rufen”, sagt Karl Zeller. “In der Zwischenzeit werden unsere Kompetenzen weiter beschnitten. Das kann nicht die Lösung sein. Wir müssen schauen, dass Land und Leute halbwegs gut über die Runden kommen.”
    Landeshauptmann Kompatscher wertet es als “unredlich”, den Menschen vorzugaukeln, man könne im heutigen Europa neue Staaten gründen.

    Aus der dieswöchigen ff, die dem Thema Autonomie gewidmet ist.

    Zwei schlichte Fragen:

    • Ist es das hier, was Herr Zeller unter »zurücklehnen und nach Selbstbestimmung rufen« versteht? Für die Unabhängigkeit zu arbeiten, kann (und müsste) eine konzeptionell wesentlich aufwändigere Aufgabe sein, als im römischen Senat zu sitzen (!).
    • Wird laut unserem Landeshauptmann dann den Menschen in Schottland gerade unredlich etwas vorgegaukelt (oder eher in Südtirol)?

    Zusatzfrage:

    • Halten unsere Politiker die Südtiroler Bevölkerung wirklich für so dumm, wie sie sie tagein, tagaus verkaufen?

    Immerhin gut ist das Schlussstatement von Alexandra Aschbacher, Autorin des Berichts:

    In der Politik ist vieles möglich, im Guten wie im Schlechten. Besonders in Umbruchzeiten. Politische Wege und Karrieren aber sind oft wie Einbahnstraßen, und plötzlich können sie zu Sackgassen werden.



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  • Tutto bene!
    Quotation

    Nell’odierna intervista concessa a Gabriele Di Luca (Salto) il Landeshauptmann tenta di fugare i dubbi più gravi sulla tenuta dell’autonomia. Ma ci riesce? Ecco due domande (e risposte) centralissime ed altrettanto rivelatrici:

    Conferma […] che la situazione non è delle più rosee, il governo centrale batte cassa…
    Non nascondo i problemi che sono sul tappeto. Ma ritengo che si tratti di questioni risolvibili. In fondo, dal 2001 non è cambiato nulla.

    Le difficoltà finanziarie italiane, i conti pubblici in rosso, l’accordo di Milano messo in forse…
    Guardi, se il governo mettesse in discussione l’accordo di Milano è certo che la Corte Costituzionale si pronuncerebbe a nostro favore. Come accaduto nel caso di Aosta. E questo a Roma lo sanno bene.

    Se il governo mettesse in discussione l’accordo di Milano? Al più tardi dall’avvento di Mario Monti i governi susseguitisi non hanno nemmeno messo in discussione questo ed altri accordi, semplicemente li hanno ignorati, come in larga misura hanno ignorato le pronunce della Corte Costituzionale. Parimenti, affermare che dal 2001 ad oggi non sia cambiato nulla significa prendersi gioco dell’opinione pubblica, in quanto è sotto gli occhi di tutti come lo stato, ormai, stia facendo cosa e come gli pare. Dal punto di vista dell’affidabilità è cambiato tutto.

    Affermazioni così lontane dalla realtà, fatte da chi costantemente richiama al realismo, fanno davvero riflettere. Come può una classe politica che non si rende conto — o non vuole rendersi conto — della drammaticità  della situazione ad agire nell’interesse della popolazione?

    Cëla enghe: 01 02 03 04 05



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  • PD gegen »Sudtirolo«.

    Das Land hat auf Vorstoß von Landesrätin Martha Stocker (SVP) beschlossen, die Auslandssüdtiroler (Südtiroler in der Welt) auf Italienisch fortan nicht mehr als altoatesini all’estero, sondern als sudtirolesi nel mondo zu bezeichnen, wobei dies gar kein mutiger Schritt, sondern eine Anpassung an die Realität ist: Der KVW, der die gesamte Arbeit in diesem Bereich übernommen hat, benutzt den Begriff schon seit geraumer Zeit. Trotzdem ist es schön, dass das ‘trennende’ A. Adige auch amtssprachlich zumindest etwas aufgeweicht wird.

    Doch prompt meldet sich Widerstand, natürlich von den Postfaschisten. — Nein, weit gefehlt: Es ist Vanda Carbone vom Meraner PD, die sich beschwert, man würde mit dieser Bezeichnung die Komplexität unseres Landes verschleiern, die auch sein Reichtum sei. Per se ist »Komplexität« jedoch kein positiv konnotierter Begriff, kann er hier doch einerseits für »Pluralismus«, andererseits für »Trennung« stehen. Und die zwanghafte Aufrechterhaltung strikt getrennter Landesbezeichnungen für italienisch- und deutschsprachige Südtirolerinnen fällt wohl recht eindeutig in zweitere Kategorie. Ein gemeinsamer Name hingegen wäre ein symbolischer Schritt zu mehr Inklusion und in Richtung einer gemeinsamen Heimat.

    Cëla enghe: 01 02 03 04



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  • Runder Tisch zu Sezessionsbewegungen.

    Die Europäische Akademie in Bozen lädt am Montag, den 15. September von 17.00 bis 19.00 Uhr zu einem Runden Tisch zum Thema Sezessionsbewegungen: Schottland, Katalonien und neues Europa. Veranstaltungsort ist der Sitz der Forschungseinrichtung in der Drususallee Nr. 1 in Bozen.

    Das Programm:

    Begrüßung durch den Eurac-Direktor Stephan Ortner

    Es sprechen:

    • Karl Kössler, Eurac-Institut für Föderalismus- und Regionalismusforschung: Sezession zwischen Recht und politischer Strategie
    • Sara Parolari, Eurac-Institut für Föderalismus- und Regionalismusforschung: La Scozia al voto per l’indipendenza: più dubbi che certezze sul futuro
    • Matteo Nicolini, Eurac-Institut für Föderalismus- und Regionalismusforschung und Universität Verona: La secessione catalana come esempio di inconciliabilità  tra politica e diritto
    • Esther Happacher, Universität Innsbruck: Unabhängigkeitsbestrebungen und italienische Verfassung
    • Jens Woelk, Eurac-Institut für Föderalismus- und Regionalismusforschung und Universität Trient: Welche Mehrheiten für die Unabhängigkeit? Internationale und europäische Standards

    Abschließend spricht Francesco Palermo, Leiter des Eurac-Instituts für Föderalismus- und Regionalismusforschung und Professor an der Universität Verona.

    Es moderiert Enrico Franco, Direktor der Tageszeitungen Corriere dell’A. Adige und Corriere del Trentino.

    Es ist keine Simultanübersetzung vorgesehen.



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  • Italien schützt Kriegsverbrecher.

    Wie der öffentlich-rechtliche katalanische Sender 3/24 berichtet, blockieren italienische Behörden Ermittlungen über faschistische Kriegsverbrechen während des spanischen Bürgerkriegs. Ein Gericht hatte in Barcelona kürzlich ein Verfahren eröffnet, nachdem neue Erkenntnisse aus historischen Archiven die Identifikation von Mitgliedern der italienischen Squadra Legionaria »Baleares« gestattet hatten. Die Baleares ist unter anderem für Luftangriffe auf die katalanische Hauptstadt verantwortlich, die als Kriegsverbrechen eingestuft wurden. Mindestens einer der Verantwortlichen soll noch am Leben sein und gar erst kürzlich eine Ehrung des italienischen Staates erhalten haben.

    Wie 3/24 in Erfahrung brachte, hätten sowohl das italienische Justizministerium, als auch das römische Appellationsgericht Anweisungen erteilt, das Verfahren zu behindern und den spanischen Behörden keine Auskünfte zu erteilen. Aus dem Umfeld der spanischen Justiz erfuhr der Sender, die Behinderung des Verfahrens durch Italien sei vor allem auf politischen Druck zurückzuführen. Außerdem befürchte der italienische Staat eine Mitverantwortung. Die Aufnahme des Verfahrens war aufgrund einer Anzeige des Italienerinnenvereins AltraItalia in Barcelona und zweier Überlebender der Bombenangriffe zustandegekommen, die eine offizielle Entschuldigung Italiens erreichen wollen.

    Cëla enghe: 01 02 03 04 05 || 01 02 03



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  • Body count.

    Body counts are cynical. In conflict situations they are regularly cited to point out the moral deterioration of the opponent. They are also used to justify atrocities because eye-for-an-eye logic is intrinsic to them. However, analysing body counts might also put things into perspective. They help classify media coverage, expose propaganda and put focus on “forgotten tragedies”. In order to maintain an unbiased attitude it is essential to keep two principles in mind:

    • All human life has equal value.
    • Homicide is detestable regardless the race, colour, sex, language, religion, political or other opinion, national or social origin, property, birth or other status of offender and victim.

    body count

    Note: Figures in the chapter “Human catastrophes” are highly disputed and only rough estimates. Precise death tolls of distant events are impossible to establish. Moreover, some estimates include “indirect deaths” caused by structural violence resulting in famine, exhaustion and disease whereas others only count fatalities as a result of actual physical violence such as combat action.



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  • Schottland vor der Abstimmung.

    In weiniger als einem Monat wird in Schottland darüber abgestimmt, ob das Land ein unabhängiger Staat wird oder weiterhin bei Großbritannien verbleibt. Schon die Tatsache, dass abgestimmt werden kann ist demokratiepolitisch ein Quantensprung, der nicht ohne Folgen bleiben wird.

    In Anbetracht des nahenden Referendums wird verstärkt ganzseitig aus Schottland berichtet.

    In der Zeit vom 24. Juli 2014 widmet sich Reiner Luyken der bevorstehenden Abstimmung. Selber in Schottland wohnhaft, ist Luyken schon länger bekannt für seine witzigen und mitunter hintergründigen Mails aus Achiltibuie, einem Dorf an der nordschottischen Westküste. Weniger witzig war vor knapp zwei Jahren die Empörung Luykens über die Pläne des schottischen Parlaments, das Gälische aufzuwerten. Abwertend schrieb Luyken vom unaussprechbaren Gälisch. Nun — viele Sprachen, die man nicht spricht sind unaussprechbar. Luyken outete sich im damaligen Artikel als Gegner der schottischen Unabhängigkeit.

    Der sachliche Schlagabtausch der Argumente kann der Demokratie im allgemeinen und einer basisdemokratischen Abstimmung nur gut tun. Etliche Standpunkte Luykens sind trotzdem etwas bizarr und scheinen nicht Teil einer konstruktiven Debatte zu sein.

    Ein zerfallendes Land in Europa ist auch für die Weltgemeinschaft nicht gut. Schwedens Außenminister Carl Bildt befürchtet eine “Balkanisierung” der britischen Inseln mit unvorhersehbaren Kosequenzen. Barack Obama erklärte, er wünsche sich ein “starkes, stabiles, vereintes Großbritannien”. Selbst der chinesische Ministerpräsident Li Keqiang sprach sich für ein “vereintes Vereinigtes Königreich aus”.

    Die Anhänger des Status Quo haben sich noch nie schwer getan mit abstrusen Vergleichen aufzutrumpfen. Großbritannien mit dem Balkan zu vergleichen ist schon ein starkes Stück. Zudem sollte der schwedische Außenminister wissen, dass vor gut 100 Jahren, als in Europa sich schleichend ein krankhafter Nationalismus breitmachte, der alsbald in die europäische Urkatastrophe münden sollte, gerade Schweden eine weise Entscheidung treffen sollte: 1905 wurde die Union zwischen Norwegen und Schweden aufgelöst. Friedlich — für kurze Zeit bestand die ernsthafte Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den beiden Königreichen. Seitdem sind Norwegen und Schweden souveräne und unabhängige Länder. Von einer Balkanisierung Skandinaviens ist wenig bekannt, ganz im Gegenteil: Die Länder Skandinaviens arbeiten vorbildhaft zusammen.

    Obwohl die schottische Unabhängigkeit sehr stark von Auslandsschotten aus Übersee mitunterstützt wird, orientiert sich Schottland nicht wie das von England dominierte Großbritannien über den Atlantik Richtung USA, sondern über die Nordsee Richtung Europa. Immer wieder wird von britischen Premierministern von einer special relationship mit den USA gesprochen. Eine schottische Lehrerin und Befürworterin der Unabhängigkeit erklärte mir vor einem Monat in einem Gespräch bei meinem Aufenthalt in Schottland, dass man in Schottland wenig von dieser special relationship halte. Während sich England ökonomisch stark an neoliberalen Einflüssen aus den USA orientiert, sieht man in Schottland das skandinavische Wohlfahrtsmodell als Vorbild und hat keine Berührungsängste mit der EU.

    Wenn sich Barack Obama für eine starkes Großbritannien auspricht, dann dürfte dies wohl der special relationship zwischen England und USA geschuldet sein.

    Einigermaßen bizarr wird es, wenn Luyken die Meinung des chinesichen Ministerpräsidenten als Argument gegen die Unabhängigkeit vorbringt. Hängt eine innereuropäische basisdemokratische Entscheidung von der Meinung Chinas ab? Welches demokratiepolitische Selbstverständnis ist dies? Europa wird sich entscheiden müssen, welche demokratischen Werte wir der Welt vorleben möchten. Basisdemokratische Entscheidungen, die auch innereuropäische Grenzverschiebungen ermöglichen oder das chinesische Modell von Demokratie?

    Ein Tourist wird kaum merken, dass eine so wichtige Entscheidung ansteht. Doch es rumort. Nachbarn zerkriegen sich. Fremde werden ausgegrenzt.

    Der politisch uninteressierte Tourist bekommt von der wichtigen Abstimmung in Schottland in der Tat nicht viel mit. Trotzdem fällt auf, dass vor allem Unabhängigkeitsgegner das Argument der Spaltung der Gesellschaft vorbringen. Demokratie lebt vor allem auch von einer gesunden Streitkultur, vom sachlichen Schlagabtausch der Argumente und der Partizipation an Entscheidungsprozessen.

    Ohne diese Elemente haben wir dann scheinbar alternativlose, von den Bevölkerungen losgelöste Entscheidungen. Diese führen zu Politikverdrossenheit und politischer Teilnahmslosigkeit.

    Zudem: Kaum eine wichtige gesellschaftliche Entwicklung, weder das Frauenwahlrecht, die Homo-Ehe oder die Anti-Atomkraftlobby sind ohne heftige Debatten und den gesunden politischen Schlagabtausch ausgekommen. Eine demokratisch eingebettete, heftige Auseinandersetzung ist zudem wesentlich transparenter, als beispielsweise die TTIP-Verhandlungen, die von Lobbys in irgendwelchen Hinterzimmern verhandelt werden und der Bevölkerung dann als alternativlos vorgeknallt werden.

    Wollen wir diese Art von Demokratie oder leisten wir uns auch eine gesunde Streitkultur? Auch von Unabhängigkeitsgegnern in Südtirol wird das Argument der Spaltung der Gesellschaft allzu gerne aufgegriffen. Ein mögliches Referendum über die Loslösung von Italien wird mit der Option verglichen. Der Deal zweier Diktatoren zur ethnischen Säuberung einer Region wird mit einer basisdemokratischen Abstimmung verglichen, die zudem niemanden zum Verlassen des Landes auffordert. Auch dieses Argument zeugt von einem sonderbaren Demokratieverständnis.

    Wenn Luyken die Ausgrenzung von Fremden thematisiert, verschweigt er übrigens, dass einflussreiche Immigrantengruppen hinter der Unabhängigkeit stehen. Schottland verfolgt einen sogenannten inklusivistischen Ansatz, der nicht nach ethnischen Kriterien unterscheidet. Darin finden sich Immigranten wieder.

    Fast schon nach Gleichgewichtsdenken zwischen den Mächten aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg klingt ein weiteres Argument des Zeit-Autors:

    Das europäische Dreieck aus angelsächsischem Freihandel, deutschem Korporatismus und französischem Staatsdenken wäre angeschlagen; die Verteidigungsstrategie der Nato ebenso.

    Dieses Argument verdeutlicht fast schon plakativ eines der Hauptprobleme Europas: Das gute und schlechte Wetter machen einige wenige große Länder. Diese funktionieren auch in Brüssel nach nationalstaatlichen Kriterien und Interessen. Das Ausfransen der Nationalstaaten an ihren Bruchstellen kann innerhalb der EU zu einer völlig neuen Dialektik und wie von vielen Politologen vermutet, zu einer weit stärkeren Integration führen, als dies heute der Fall ist.

    Und auch die Nato dürfte eine Verteidigungsstrategie ohne die vier mit Trident-Raketen bestückten U-Boote finden, die allesamt in der Clyde Mündung bei Glasgow stationiert sind. Alex Salmond will im Falle der Unabhängigkeit ein atomwaffenfreies Schottland. Alternativhäfen gibt es in Großbritannien keine.

    Immerhin läßt Luyken in seinem ziemlich einseitig gehaltenem Artikel zumindest gelten, dass die schottischen Unabhängigkeitsbefürworter keine dumpfen Rechten sind, sondern in Deutschland vorwiegend SPD oder die Grünen wählen würden.

    Wesentlich differenzierter und sachlicher als die Zeit berichten die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter FAZ letzthin über Schottland.

    In der Ausgabe vom 16./17. August 2014 widmet sich die Süddeutsche Zeitung vor allem der schottischen Szene aus Schriftstellern, Malern, Musikern und Schauspielern, die sich mehrheitlich zur Unabhängigkeit bekennen.

    Für die erfolgreiche schottische Kriminalautorin MacDermid, die sich lange nicht entscheiden konnte und die an Alex Salmond gar einiges auszusetzen hat, sind folgende Gründe ausschlaggebend am 18. September für die Unabhängigkeit zu stimmen:

    Es gibt ein tief wurzelndes sozialdemokratisches Element in der schottischen Kultur, eine Tradition der gegenseitigen Unterstützung, die es in der englischen Kultur spätestens seit Thatcher nicht mehr gibt. Dabei gehe es keineswegs um den alten Hut “Ihr seid Engländer, wir hassen euch”. Unser Nationalismus ist ein staatsbürgerlicher, wir heißen Immigranten willkommen. Was glauben Sie, warum ausgerechnet unsere Immigranten aus Südostasien die Unabhängigkeitskampagne so leidenschaftlich unterstützen? Es geht um Hoffnungen, nicht um Hass, sagt Val MacDermid: “Unser Gesundheits- und Bildungswesen, die sozialen Einrichtungen, das entspricht meiner Weltsicht. Die Art, wie in Westminster Politik gemacht wird, funktioniert hier nicht. Wir brauchen einen Neubeginn.”

    Interessant auch die Position von Brian Cox, dem schottischen Schauspieler, der in New York lebt. Cox war sein Leben lang ein Labour-Anhänger. Obwohl er weiterhin Labour die Treue hält, die großteils gegen die Unabhängigkeit sind, gibt es für Cox keine Alternative zu einem eigenständigen schottischen Staat:

    “Wer denkt, dass unsere Politik und unsere Kultur durch die Unabhängigkeit privinzieller würde, versteht die schottische Geschichte nicht richtig”, sagt Cox. “Wir sind noch nie kleinkariert gewesen, sondern immer pluralistisch.”

    Auch Brian Cox hält nichts von der Braveheart-Romantik mancher Nationalisten. Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil er selbst in dem Film mitspielte, der einen so erstaunlichen Einfluss auf das schottische Selbstverständnis hatte.

    Interessant, dass Cox, ähnlich wie Val MacDermid nach der Unabhängigkeit gerne einen politischen Neubeginn sähen. Für sie ist es keineswegs ausgemacht, dass die SNP für immer regieren wird. Interessant ist dieser Gedankengang vor allem deshalb, da Cox und Val MacDermid sehr klar zwischen den Chancen der Unabhängigkeit auf der einen Seite und einigen Positionen einzelner Politiker unterscheiden können, die diese Unabhängigkeit vielleicht mit etwas zuviel Folkloregedanken verbinden.

    In Südtirol wird bei ähnlichen Diskussionen ja häufig das Argument vorgebracht, ich lasse mich im Falle einer Unabhängigkeit doch nicht von den Freiheitlichen oder von Eva Klotz regieren. Als ob das eine mit dem anderen zusammenhängen würde.

    Unabhängig davon, wie das Referendum in Schottland ausfallen wird, haben die Ereignisse großen Einfluss auf andere euroäische Regionen:

    1. Demokratiepolitisch ist es ein Quantensprung, dass überhaupt abgestimmt werden kann.
    2. Die gesamtgesellschaftliche Debatte und Diskussion wäre ohne das Referendum nie in dieser Art und Weise in Gang gekommen.
    3. Sollte Schottland gegen die Unabhängigkeit stimmen, wird es wahrscheinlich zu einem weitreichendem Ausbau der Autonomie kommen. In Südtirol wird immer behauptet, wenn man die Unabhängigkeit verlange, dann wird einem die Autonomie genommen. Ein klassisches Totschlagargument, um jede wohltuende gesamtgesellschaftliche Diskussion im Keim zu ersticken.


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