Ich muss zugeben, ich habe mich geirrt und die ganze Angelegenheit unterschätzt. Zu Beginn dachte ich, dass das Krisenmanagement allerorts einigermaßen geordnet verläuft, aber inzwischen bewirkt die sogenannte Corona-Krise Dinge, die mir überhaupt nicht gefallen und die ich so nicht habe kommen sehen. Neben der gesundheitlichen Ebene – die ohne Zweifel eine vorrangige ist – dürfen wir soziale, demokratische und auch wirtschaftliche Entwicklungen nicht aus dem Blick verlieren – auch weil diese langfristig mit der gesundheitlichen Ebene verwoben sind.
Fatale Krisenkommunikation
Wir befinden uns zweifellos in einer Ausnahmesituation. Und gerade in solchen Krisenzeiten ist es wichtig, dass von Seiten der Politik und der Behörden sachliche, unzweideutige und kohärente Botschaften ausgesendet werden. Dass skrupellose, populistische Selbstdarsteller wie Donald Trump [Trump’s Coronavirus Calendar] genau das nicht können, weiß man*. Aber die kommunikationstechnische Inkompetenz macht auch vor unseren Breiten nicht Halt und zahlreiche Verantwortungsträger schaffen es tatsächlich regelmäßig durch ihre Aussagen die ohnehin schon verunsicherten Menschen weiter zu verunsichern. Ein paar Beispiele:
Diese Liste ließe sich noch ziemlich lange fortsetzen.
Gefährliche Vernunftpanik
Vernunftpanik ist die überdrehte Stufe von tatsächlich sinnvollem Handeln. Vernunftpanik ist der Abschied vom eigentlichen Wesen der Vernunft, nämlich dem Abwägen zwischen verschiedenen Werten. Was aufgegeben wird zugunsten des plakativsten Handelns. […] Es geht weder um Verharmlosung der Krankheit noch um die Geringschätzung oder gar Abwehr der notwendigen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung. Es geht um Kommunikation und Haltung, wie dieser Notsituation gemeinschaftlich begegnet wird. Denn neben der Mut machenden, positiven Krisenreaktion vieler Menschen bricht oft auch diese schwierige, vielleicht gefährliche Regung durch: Vernunftpanik ist kontraproduktiv sowohl für die Bewältigung der Pandemie als auch für die Gesellschaft, in der wir nach der Krise leben werden.
So beschreibt Sascha Lobo das Corona-Krisen-Phänomen in seinem – auf diesem Blog bereits zitierten – Spiegel-Essay “Wider die Vernunftpanik”. Die Gefahr eines breiten Denunziantentums oder zumindest eines besserwisserischen Überlegenheitsgefühls ist real, auf beiden Seiten des Corona-Krisen-Versteher-Spektrums. Während die einen behaupten, dass man den Gesundheitsnotstand gar nicht wahrnehmen würde, wenn es den Corona-Test nicht gäbe, die anderen auf die vermeintliche Unwissenschaftlichkeit der offiziellen Datenlage hinweisen, um gleichzeitig für Homöopathie als Allheilmittel zu werben und wieder andere jeder WhatsApp-Nachricht von Paula oder Jürgen in Sachen Corona mehr Glauben schenken als einem Dossier studierter Mediziner, fordert die “Gegenseite” lückenlose Überwachung und harte Bestrafung für “Corona-Leugner” und Fake News. Auch der mittelalterliche Pranger feiert fröhliche Urständ – in der digitalen Welt. Beispielsweise veröffentlichte der Bürgermeister von St. Lorenzen, Martin Ausserdorfer, auf seiner Facebook-Seite ein (anonymisiertes) Bild von Jugendlichen, die trotz Versammlungsverbot auf einer Parkbank saßen. Obwohl es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um ungesetzliches Verhalten handelte, sollte ein Gemeindeoberhaupt andere Möglichkeiten nützen, um solche Missstände zu beenden. Bei allem Unverständnis für Corona-Parties oder die Corona-Challenge, die an Blödheit kaum zu überbieten ist, hängt – wie Lobo schreibt –
das, was wir im Alltag als Vernunft betrachten, […] viel öfter von der jeweiligen Position der Sprechenden ab als man wahrhaben möchte. […] Es ist ein Privileg, bei sicherem Gehalt Homeoffice betreiben zu können und ebenso die Möglichkeit, “Social Distancing” ohne Begleitschäden durchziehen zu können. Wenn man dann anderen vorwirft – ohne jede Kenntnis von deren Lebenssituation – dass sie sich weniger vorbildlich verhalten als man selbst, gerinnt diese Haltung rasch zur Herablassung.
Es ist in der Tat ein Unterschied, ob ich eine Quasi-Ausgangssperre in einer 150-Quadratmeter-Wohnung mit Garten verleben darf oder im fünften Stock eines städtischen Kondominiums, alleinerziehend mit zwei Kindern auf 55 Quadratmetern. Im letzteren Fall kann es durchaus vernünftig sein, mit den Kindern einmal das Haus zu verlassen und sich im großen Abstand von anderen Menschen in eine Wiese zu legen. Für jemanden mit Depressionen ist es vernünftig, täglich einen langen Spaziergang zu tätigen. Für eine Krankenpflegerin in der Corona-Abteilung ist es vernünftig, nach einer harten Schicht eine Runde zu laufen, damit sie den Kopf frei bekommt und die Belastungen ihrer Arbeit einigermaßen gesund übersteht. Sollte ihr das nicht gelingen, haben wir nämlich ein Problem mehr. Doch all das sieht man von außen nicht, wenn man vom Balkon aus die Leute im Freien mit Argwohn beobachtet.
Wackere Demokratiekrieger
All diesen Aspekten zum Trotz, die in der Summe wesentlich für das Gelingen des Vorhabens sind – nämlich die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen ohne eventuell noch weitreichendere Kollateralschäden zu verursachen, geht die Politik in immer mehr Ländern mit martialischer Härte vor und scheint die Balance zwischen tatsächlich sinnvollem Handeln und plakativem Handeln zu verlieren. Nicht allein Emmanuel Macron verwendet im Zusammenhang mit dem Gesundheitsnotstand Kriegsrhetorik, nicht nur politische Rechtsaußen machen die Krise zu einer Frage, bei der nationaler Zusammenhalt, Abgrenzung und Schuldzuweisungen im Mittelpunkt stehen, und nicht bloß in Italien erhält das Militär mittlerweile Befugnisse, die es in Friedenszeiten in einer westlichen Demokratie nicht haben sollte.
Der Optimismusfunken
Und obwohl die Welt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht auf einen weiteren Klugscheißer gewartet hat, der seinen Senf zu der an Verzwicktheit kaum zu überbietenden Situation dazu gibt, möchte ich zum Abschluss dennoch neun fromme, durchaus optimistische Wünsche aus der Selbstisolation loswerden:
- Bleiben wir so gut es geht daheim und halten wir uns an die Hygieneregeln, um die Ausbreitung der Krankheit zu verlangsamen und all jenen, die intensivmedizisch betreut werden müssen, eine solche Betreuung auch garantieren zu können.
- Erinnern wir uns nach der hoffentlich baldigen Beendigung dieser Krise daran, wer die Menschen waren, die dafür gesorgt haben, dass andere überleben durften, dass anderen geholfen wurde und dass das Werkl generell weiterlaufen konnte – sowohl was die gesellschaftliche Reputation als auch die finanzielle Abgeltung dieser Dienste betrifft.
- Fallen wir nicht in Panik und hüten wir uns auch vor “Vernunftpanik”, wie sie Sascha Lobo in seinem interessanten Spiegel-Essay beschreibt.
- Achten wir bei aller Notwendigkeit der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auf das zärtliche Pflänzchen, das sich Demokratie nennt und das von Rechtsstaatlichkeit und öffentlichem Diskurs lebt, auf dass wir trotz aller Hemmnisse im Moment kritische Bürgerinnen und Bürger bleiben und beispielsweise Militär auf den Straßen in Friedenszeiten nicht als normal und notwendig ansehen.
- Denken wir nach – oder noch besser – überprüfen (Neudeutsch: factchecken) wir Meldungen, bevor wir sie per WhatsApp, Facebook, Twitter und Co. in die Welt hinausschießen und die ohnehin schon angespannte Situation mit kruden Verschwörungstheorien oder zweifelhaften Weisheiten selbsternannter Corona-Experten weiter befeuern.
- Lassen wir das derzeit praktizierte “Social Distancing” nicht zu einem neuen Maßstab menschlicher Interaktion werden, sondern arbeiten wir schon jetzt an einem fürsorglicheren und wertschätzenden Umgang mit unseren Mitmenschen, unseren Nächsten, ungeachtet ob Familienmitglied, Freund oder Fremder.
- Geben wir Umwelt und Natur mehr Möglichkeiten der Regeneration, ähnlich dieser unfreiwilligen im Moment.
- Machen wir uns nicht selbst kaputt, indem wir nicht nur Händewaschen, sondern auch psychische Hygiene betreiben, den Humor nicht verlieren und uns dessen besinnen, woran wir glauben und was uns wirklich wichtig ist.
- Nutzen wir die Krise – so abgedroschen und naiv es klingt – tatsächlich auch als Chance, um gestärkt aus ihr hervorzugehen, denn laut Max Frisch sei die Krise ein produktiver Zustand. Man müsse ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.
*) So meinte Trump vor einigen Wochen, dass es sich bei COVID-19 um eine normale, etwas leichtere Grippe handle. Später vermutete er einen Hoax der Demokraten, die die Sache aufbauschten, um ihm die Wiederwahl zu verderben. Dann meinte er, dass es in den USA nur 15 Fälle gäbe, die Zahl aber bald gegen 0 gehen werde (mit heutigem Tag sind es in den USA mehr als 81.977 bestätigte Fälle) und das Virus “wie durch ein Wunder” verschwinden würde. Plötzlich war Corona aber der große Feind, den es zu bekämpfen gilt und er, Trump, war derjenige, der die Pandemie erkannte, lange bevor andere von einer Pandemie sprachen.