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  • FdI für Vorherrschaft der italienischen Sprache.

    Um zu wissen, was die rechtsradikalen Fratelli d’Italia (FdI) im Schilde führen, kann es nützlich sein, ihre bisherige parlamentarische Aktivität unter die Lupe zu nehmen. Neben nationalistischer Symbolik, Militär, Queerfeindlichkeit und Immigration gehört die italienische Sprache zu den Lieblingsthemen der Partei von Giorgia Meloni, die nach den Wahlen vom 25. September neue italienische Regierungschefin werden könnte.

    Unter anderem liegen im Abgeordnetenhaus die Entwürfe Nummer 677 und 678 auf, mit denen FdI auf Verfassungs- und einfacher Gesetzesebene Änderungen zum Vorteil der Staatssprache setzen will.

    Mit Entwurf Nummer 677 soll die italienische Sprache auch offiziell zur einzigen »Amtssprache der Republik« erhoben werden, und zwar vielsagenderweise durch Abänderung von Artikel 6, der heute dem Minderheitenschutz gewidmet ist.

    Der Minderheitenschutz würde dadurch selbst in dem einzigen Artikel, in dem er erwähnt wird, an die zweite Stelle rutschen. Zudem wollen die Fratelli die »Sprachminderheiten« und die — neu einzuführenden — »Dialekte« in einem Atemzug nennen.

    Entwurf Nummer 677 sieht weiters vor, die erst kürzlich gesetzlich anerkannte, blutrünstige Nationalhymne in der Verfassung zu verankern.

    Die italienische Sprache — so im Vorwort zum Gesetzentwurf — sei »das Fundament unserer kulturellen […], nationalen und staatlichen Einheit.«1Übersetzung von mir. Original: »[…] il fondamento della nostra unità culturale [e, prima ancora], nazionale e statuale.«

    (In Ermangelung einer ausdrücklichen Erwähnung im italienischen Grundgesetz hatte bereits das Verfassungsgericht Tatsachen geschaffen und paradoxerweise gerade das Autonomiestatut von Südtirol und Trentino herangezogen, um den Nachweis zu liefern, dass Italienisch die Amtssprache des Staates sei.)

    Entwurf Nummer 678 ist ein Gesetz »zum Schutz und zur Förderung der italienischen Sprache« sowie zur Einrichtung des Obersten Rats der italienischen Sprache2Consiglio superiore della lingua italiana beim Ministerratspräsidium. Die Sprache soll also zentralisiert und politisiert werden.

    Im Vorwort ist von Kampf gegen die Anglisierung sowie von Schönheitsverlust, Verunreinigung und Gesundheitszustand der italienischen Sprache die Rede. Zum »nationalen Schutz« und für die »identitäre Verteidigung« sei die »Konservierung« der Sprache eine Priorität. Es sei nicht weiter zulässig, dass fremde Wörter gebraucht werden, für die es ein italienisches Äquivalent gibt.

    Auch die konkret angedachten Vorschriften erinnern an dunkle Zeiten:

    • Jede Art und Form der Kommunikation oder Information im öffentlichen oder öffentlich zugänglichen Raum bzw. jene, die eine öffentliche Förderung erhalten haben und von öffentlichem Belang sind, müssten demnach auf Italienisch sein.
    • Bei Veranstaltungen, Konferenzen und öffentlichen Versammlungen müsste eine Übersetzung ins Italienische verpflichtend angeboten werden.
    • Wer ein Amt in einer Institution, in der öffentlichen Verwaltung, in mehrheitlich öffentlichen Gesellschaften oder öffentlich geförderten Stiftungen innehat, wäre verpflichtet, die italienische Sprache in Wort und Schrift zu beherrschen. Nur bei dieser einen Maßnahme wird übrigens ausdrücklich erwähnt, dass sie »unbeschadet der gleichgestellten Sprachen« in den Regionen und autonomen Ländern gälte.
    • Firmen sollen verpflichtet werden, Berufsbezeichnungen und deren Abkürzungen in italienischer Sprache zu führen. Eine Ausnahme wäre nur noch möglich, wenn es für eine Bezeichnung kein italienisches Pendant gibt.
    • Interne Firmenreglements und jedes Dokument, das Pflichten und Vorschriften für die Beschäftigten definiert, die zur Ausführung der Arbeit nötig sind, müssten auf Italienisch verfasst sein. Diese Unterlagen dürften (!) von einer Übersetzung in eine Fremdsprache begleitet werden.
    • Arbeitsverträge müssten in italienischer Sprache verfasst und (nur dann) in eine Fremdsprache übersetzt werden, wenn eine der Parteien im Ausland ansässig ist oder eine ausländische Staatsbürgerschaft hat.
    • In den Schulen und in den öffentlichen Universitäten müssten die Bildungsangebote, wenn sie nicht spezifisch auf die Erlernung einer Fremdsprache ausgerichtet sind, in italienischer Sprache sein. »Fremdsprachige« Kurse wären nur zulässig, wenn es sie bereits auf Italienisch gibt. Ausnahmen wären bei Anwesenheit ausländischer Studenten, im Bereich spezifischer Bildungsprojekte oder im Fall von ausländischen Lehrkräften oder Gästen zulässig.
      Ausländische Schulen, speziell für Ausländer gedachte Schulen, und Einrichtungen mit »internationalem Unterricht« wären von dieser Pflicht befreit.

    Inwieweit das Südtiroler Autonomiestatut vor diesen gerade für Minderheiten gefährlichen Maßnahmen schützen würde, ist mir nicht klar. Zu befürchten steht, dass dies nicht ausreichend der Fall wäre:

    • Denken wir zum Beispiel an das italienische Konsumentenschutzgesetz, das schon heute einseitig die italienische Sprache schützt, sodass zum Beispiel deutsche Etiketten und Produktinformationen sogar mit italienischen überklebt werden. Der ebenfalls oft einseitige Eifer der staatlichen Kontrollorgane trägt das Seine zur weiteren Minorisierung der Minderheitensprachen bei.
    • Im Sport gelten bereits faschistoide Sprachregelungen, die teils auch in Südtirol zur Anwendung gebracht werden, ohne die Gleichstellung der Sprachen zu berücksichtigen.

    Aufschlussreich ist übrigens, dass im Vorwort zu Gesetzentwurf Nr. 678 erwähnt wird, dass die Schweiz die italienische Sprache als eine Staatssprache mit wenigen Sprechern mehr fördere, als dies in Italien der Fall sei. Dadurch wird klar, wie wenig Ahnung die »Brüder« von Minderheitenschutz haben — oder wie sehr sie im nationalen Denken gefangen sind. Die Schweiz fördert die italienische Sprache gerade, weil sie unterrepräsentiert ist, was in Italien eben nicht der Fall ist. Kein Gesetz könnte dem schweizerischen Geist mehr widersprechen, als das von FdI vorgeschlagene.

    Cëla enghe: 01 02 03 04 || 01 02 03 04

    • 1
      Übersetzung von mir. Original: »[…] il fondamento della nostra unità culturale [e, prima ancora], nazionale e statuale.«
    • 2
      Consiglio superiore della lingua italiana


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  • Sprachdumping im Sozialbereich.

    Aus einem Bericht des A. Adige vom 22. August geht hervor, dass der Gesundheitsbetrieb (Sabes) dem Betrieb für Sozialdienste Bozen (BSB) angeblich unlautere Konkurrenz bei der Rekrutierung von Personal macht, da dort anders als beim BSB Anstellungen auch ohne Zweisprachigkeitsnachweis möglich sind.

    Angemessene Kenntnisse der zweiten Sprache seien außerdem auch für Mitarbeitende von privaten und konventionierten Einrichtungen nicht Voraussetzung.

    Die Folge: ein Wettrennen mit fortschreitender Nivellierung nach unten, was die Sprachkenntnisse betrifft — und gemeint sind natürlich vor allem die Deutschkenntnisse.

    BSB-Chefin Liliana Di Fede (PD) und Gemeindereferent Juri Andriollo (PD) kennen die Lösung: Weg mit der Zweisprachigkeitspflicht. Dem Bericht zufolge hat die zuständige Landesrätin Waltraud Deeg (SVP) schon ihre Bereitschaft signalisiert, die rechtlichen Voraussetzungen für diese abermalige Aushöhlung der Sprachrechte zu schaffen.

    Grundsätzlich gibt es ja zumindest diese beiden Möglichkeiten:

    • Senkung der Anforderungen an die Bewerberinnen.
    • Verbesserung der (nicht nur finanziellen) Konditionen.

    Mein Eindruck ist, dass in Südtirol schon seit Jahren vor allem ersteres gemacht wird, weil es der Weg des geringeren Widerstandes ist.

    Proportionale Einsprachigkeit

    Wenn man sich schon auf diese Präkarisierung einlässt, die zu Lasten der Rechte von Beschäftigten und Bürgerinnen geht, könnten aber wenigstens einige Vorkehrungen getroffen werden.

    Wie ich hier schon öfter geschrieben habe, wäre eine weitere Aufweichung des Proporzes (unter Umständen sogar seine gänzliche Abschaffung) vorstellbar, wenn dafür die Anforderungen hinsichtlich der Sprachkenntnisse erhöht werden.

    Jetzt steht aber nicht nur keine Stärkung, sondern die Abwrackung des Zweisprachigkeitsnachweises auch im Sozialbereich im Raum.

    In meinen Augen müsste dann im Umkehrschluss der Proporz verstärkt werden — in dieser Art: Für jede italienischsprachige Mitarbeitende, die keine Deutschkenntnisse nachweisen kann, gilt (gemäß Verhältnis zwischen den Sprachgruppen) die Verpflichtung, mindestens zwei deutschsprachige anzustellen, die keine Italienischkenntnisse nachweisen können. Erst dann darf wieder eine weitere einsprachig italienische Kraft angeworben werden und so weiter. In begründeten Fällen könnte das Verhältnis bis auf 1:1 reduziert werden, weniger sollte es jedoch niemals sein1Heute sind wir jedoch da wo die Zweisprachigkeitspflicht aufgeweicht/aufgehoben wurde, selbst von einem 1:1-Verhältnis weit entfernt..

    Eine derartige Regelung würde einerseits die Mehrsprachigkeit des Dienstes sicherstellen, was mit einer ersatzlosen Streichung des Zweisprachigkeitsnachweises auf Dauer wohl nicht mehr zu gewährleisten wäre; andererseits stünde Südtirol dann unter Druck, im Wettbewerb mit dem deutschen Sprachraum aktiv mitzuspielen, anstatt ihn nur passiv über sich ergehen zu lassen und die eigenen Ansprüche zu senken. Ein relativ reiches und im Vergleich zum deutschsprachigen Raum auch kleines Land2mit einem überschaubaren Bedarf an Fachkräften wie das unsere sollte sich das im Namen seiner besonderen sprachlichen Situation leisten wollen und können.

    Die positive Nebenwirkung wäre, dass die Vergütungen und sonstigen Arbeitsbedingungen im internationalen Vergleich bestehen müssten. Andernfalls besteht die Gefahr, dass mit der Aufhebung der Zweisprachigkeitspflicht eine Art Sozialdumping einhergeht3Im Handel, wo es keine Zweisprachigkeitspflicht gibt, ist ähnliches zu beobachten. Nicht mehr nur Billigketten engagieren oft einsprachiges Personal aus italienischen Regionen, um Kosten zu sparen. Diese Menschen leben hier oft aufgrund der hohen Lebenshaltungskosten in prekären Verhältnissen oder sind zum Einpendeln gezwungen..

    Nicht zuletzt wäre gewiss anzustreben, dass welche Regelung auch immer für den öffentlichen Sektor gewählt wird, diese auch bei den Privaten Anwendung findet.

    Cëla enghe: 01 02 03 || 01

    • 1
      Heute sind wir jedoch da wo die Zweisprachigkeitspflicht aufgeweicht/aufgehoben wurde, selbst von einem 1:1-Verhältnis weit entfernt.
    • 2
      mit einem überschaubaren Bedarf an Fachkräften
    • 3
      Im Handel, wo es keine Zweisprachigkeitspflicht gibt, ist ähnliches zu beobachten. Nicht mehr nur Billigketten engagieren oft einsprachiges Personal aus italienischen Regionen, um Kosten zu sparen. Diese Menschen leben hier oft aufgrund der hohen Lebenshaltungskosten in prekären Verhältnissen oder sind zum Einpendeln gezwungen.


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  • Faustini und die ›italienische Minderheit‹.

    Der A. Adige, italienische Tageszeitung der Athesia, ist schon bereit für das mit hoher Wahrscheinlichkeit bald einbrechende Meloni-Zeitalter.

    Auf einen nationalistischen Leserbrief antwortete kein geringerer als Direktor Alberto Faustini am letzten Sonntag (21. August) unter anderem folgendermaßen:

    [D]ie italienische Minderheit (denn wir können nicht weiterhin die Realität leugnen, dass die Italiener in Südtirol die echte Minderheit sind) ist aus unterschiedlichen Gründen dabei, sich zu einer unterschätzten Notlage zu entwickeln.

    — Alberto Faustini

    Übersetzung von mir (Original anzeigen)

    [L]a minoranza italiana (perché non possiamo continuare a negare una realtà che vede negli italiani che stanno in Alto Adige la vera minoranza) sta diventando per diverse ragioni un’emergenza sottovalutata.

    – Alberto Faustini

    Zwei Tage später (am 23. August) wurde in derselben Zeitung die Zuschrift eines freudig erregten Lesers veröffentlicht, der den Direktor zu seiner Läuterung »auf dem Weg nach Damaskus« befragte.

    Worauf dieser erwiderte, dass die deutsche Minderheit auf regionaler Ebene mit dem zweiten Autonomiestatut natürlich zu einer Mehrheit auf Landesebene geworden sei.

    Ich habe das Unbehagen der Italiener nie geleugnet. Ich habe niemals jemanden als wehleidig bezeichnet und ich habe mich davor gehütet, jemanden der sich beschwert automatisch als Faschisten zu betrachten.

    — Alberto Faustini

    Übersetzung von mir (Original anzeigen)

    Non ho mai negato il disagio degli italiani. Non ho mai dato del lagnoso a qualcuno e mi sono ben guardato dal considerare automaticamente fascista chi s’è lamentato.

    – Alberto Faustini

    [A]uch kürzlich habe ich mehrmals geschrieben, dass die Italiener in der Landesregierung (Post-Christdemokraten, PDler und zuletzt die von der Lega) oft unsichtbar waren und unterwürfig fast jede Entscheidung der SVP mitgetragen haben.

    — Alberto Faustini

    Übersetzung von mir (Original anzeigen)

    [A]nche di recente ho scritto più volte che gli italiani al governo della Provincia (post democristiani, “piddini” e infine leghisti) sono stati spesso invisibili, accettando supinamente quasi ogni scelta della Svp.

    – Alberto Faustini

    Abschließend verlangen Sie von mir eine Vertiefung? Das machen wir fast täglich, indem wir uns mit Primariaten, Führungskräften, Betriebsleitungen jeder Art befassen und betonen, dass den Italienern bestenfalls eine Vizepräsidentschaft zusteht [vgl. 01]. Einige Ausnahmen gibt es noch, doch da sprechen wir wirklich von Kleinigkeiten.

    — Alberto Faustini

    Übersetzung von mir (Original anzeigen)

    Lei mi chiede infine un approfondimento? Lo facciamo quasi ogni giorno, occupandoci di primari, di dirigenti, di vertici di qualsiasi cosa, ribadendo che agli italiani, quando va bene, tocca una vicepresidenza. Qualche eccezione c’è ancora, ma parliamo davvero di poca cosa.

    – Alberto Faustini

    Bei solchen haarsträubenden Aussagen aus dem Hause Athesia wird der sonst hochgelobte Kanonikus wohl im Grabe rotieren.

    Bezüglich der italienischen Minderheit, die keine ist (01 02), befindet sich Faustini jedenfalls auf einer Linie mit Rechtsaußen Alessandro Urzì (FdI). Was hier zum Mainstream wird, ist einfach unfassbar.

    Cëla enghe: 01 02 03 04 05 06 07 || 01



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  • Urzì difensore della (non) minoranza.

    Alle imminenti elezioni politiche il Consigliere provinciale di estrema destra Alessandro Urzì (FdI) sarà candidato a Vicenza, in un collegio considerato «blindato», mentre Michaela Biancofiore (Coraggio Italia) correrà a Rovereto.

    Ma il bolzanino Urzì in Veneto non si sente un «paracadutato»? «No — è la risposta —. È una precisa volontà del nostro partito garantire una rappresentanza anche della minoranza italiana in Alto Adige, di cui la scelta condivisa dai vertici nazionali.

    — dall’inserto sudtirolese del Corriere, edizione odierna

    Nello stesso istante in cui insinua l’esistenza di una minoranza italiana in Italia, Urzì fornisce la prova del contrario: grazie alla sua appartenenza alla maggioranza nazionale l’esponente del partito di Giorgia Meloni può farsi appunto «paracadutare» in qualsiasi zona del territorio «nazionale» per farsi eleggere, mentre chi appartiene a una minoranza nazionale, a maggior ragione se membro di un partito delle minoranze, normalmente non può farlo senza aderire a un progetto e sottomettersi a logiche «nazionali», quindi rinnegando (o mettendo perlomeno a tacere) la propria appartenenza alla comunità minoritaria.

    Cëla enghe: 01 02 03 || 01 02 03 04 05 06 07



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  • Die egozentrische Borniertheit des Nationalstaats.
    Quotation

    Jedes der zwischen den beiden Weltkriegen entstandene Staatsgebilde in [Ost- und Südeuropa] enthielt mehrere Volksgruppen, deren jede den Anspruch auf nationale Souveränität stellte, also auf keinen Fall assimilierbar war. Der damals gefundene Ausweg, den Völkern, die es nicht zum eigenen Staat gebracht hatten, Minderheitenrechte zu garantieren, hat sich bekanntlich nicht bewährt. Die Minderheiten waren immer der Meinung, dass diese Rechte eben mindere Rechte sind, während das Staatsvolk in den Minderheitenverträgen entweder ein Provisorium sah – gültig, bis die vom Nationalstaat prinzipiell geforderte Assimilation erreicht sein würde – oder eine Konzession an die westlichen Mächte, deren man sich bei der nächst besten Gelegenheit entledigen würde, um den Minderheiten so oder anders den Garaus zu machen.

    Die Lebensunfähigkeit gerade dieser Staatsform in der modernen Welt ist längst erwiesen, und je länger man an ihr festhält, um so böser und rücksichtsloser werden sich die Pervertierungen nicht nur des Nationalstaats, sondern auch des Nationalismus durchsetzen.

    Wirkliche Demokratie aber, und das ist vielleicht in diesem Zusammenhang das Entscheidende, kann es nur geben, wo die Machtzentralisierung des Nationalstaates gebrochen ist und an ihre Stelle die dem föderativen System eigene Diffusion der Macht in viele Machtzentren getreten ist.

    So wie wir heute aussenpolitisch überall vor der Frage stehen, wie wir den Verkehr der Staaten unter- und miteinander so einrichten können, dass Krieg als „ultima ratio“ der Verhandlungen ausscheidet, so steht uns heute überall innenpolitisch das Problem bevor, wie wir die moderne Massengesellschaft so umorganisieren und aufspalten können, dass es zu einer freien Meinungsbildung, zu einem vernünftigen Streit der Meinungen und damit zu einer aktiven Mitverantwortung an öffentlichen Angelegenheiten für den Einzelnen kommen kann. Der Nationalismus in seiner egozentrischen Borniertheit und der Nationalstaat in seiner wesensmässigen Unfähigkeit, die eigenen Grenzen legitim zu transzendieren, dürften dafür die denkbar schlechtesten Voraussetzungen bilden.

    aus Nationalstaat und Demokratie von Hannah Arendt (1963)

    Cëla enghe: 01



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  • Unfreundliche Kandidatur.

    Politikwissenschafter Günther Pallaver bezeichnet die Tatsache, dass die SVP im Senatswahlkreis Süd mit einem eigenen Kandidaten zur nächsten Parlamentswahl antritt, laut Rai Südtirol als »unfreundlichen Akt« gegenüber der italienischen Sprachgruppe.

    Diese Feststellung und den gesamten Rummel um die eigenständige Kandidatur kann ich ehrlich gesagt nicht wirklich nachvollziehen:

    • Wenn wir von Minderheitenschutz reden, geht es — bei einer staatsweiten Wahl noch mehr als bei Landtags- und Gemeindewahlen — um das Recht der deutschen und der ladinischen Sprachgruppe auf eine eigenständige Vertretung1Die Vertretung der Ladinerinnen ist leider gar kein Thema.. Die italienische Sprachgruppe ist im italienischen Nationalstaat ganz sicher keine Minderheit.
    • Der Senatswahlkreis Süd wurde in dieser Form eingerichtet, um auch der italienischen Sprachgruppe Südtirols eine realistische Chance — aber keine Garantie — für eine eigene Vertretung in Rom zu gewähren. Etwas anderes wäre undemokratisch.
    • Es erschließt sich mir grundsätzlich nicht, wie die Kandidatur einer Partei als unfreundlicher Akt bezeichnet werden kann, und zwar unabhängig von der tatsächlichen Chance, gewählt zu werden. In einer Demokratie ist das Antreten bei einer Wahl stets ein Angebot an die Wählerinnen, das sie annehmen können oder auch nicht.
    • Genausowenig kann die zunächst aussichtslos scheinende Kandidatur von Kleinstparteien — oder im konkreten Fall auch der Freiheitlichen im Senatswahlkreis Süd — als unfreundlicher Akt bezeichnet werden. Parteien sind frei, Wahlbündnisse einzugehen oder auch nicht.
    • Als unfreundlich und schädlich für die Demokratie würde ich lediglich die in Italien bisweilen praktizierte bewusste Täuschung von Wählerinnen (etwa durch Köderlisten, Mehrfachkandidaturen und ähnlichem) bezeichnen.
    • Aus einer ethnozentrischen und wahlaritmetischen Sicht, wie sie Pallaver in seiner Argumentation ja bedient, die ich aber so nicht teile: Warum es »freundlicher« wäre, wenn die SVP nicht selbst kandidieren, sondern eine Kandidatin von Mittelinks (oder Mitterechts) unterstützen und somit durch das eigene Stimmenpotenzial den Italienerinnen quasi die Wahl nehmen würde, verstehe ich nicht. Die von der SVP unterstützte »italienische« Kandidatur würde sich ja mit erheblicher Wahrscheinlichkeit durchsetzen.
    • Noch weniger erschließt sich mir diese »Freundlichkeit«, wenn den Wählerinnen durch solche Pakte (wie bei der letzten Parlamentswahl) Kandidatinnen vorgesetzt werden, die mit Südtirol wenig bis gar nichts zu tun haben und anderswo ebenso gute Chancen hätten, gewählt zu werden. Damit ist den Südtirolerinnen (unabhängig von der Sprachgruppe) meist nicht gedient. Und von einer eigenständigen Vertretung der italienischen Sprachgruppe Südtirols kann auch nicht wirklich die Rede sein.
    • Das gesamte (Miss-)Verständnis fußt wohl auf der Annahme (und in Südtirol zu einem gewissen Grad auch: Wirklichkeit), dass Menschen italienischer Muttersprache Kandidatinnen nur italienischer Muttersprache wählen und deutschsprachige Südtirolerinnen nur deutschsprachigen Kandidatinnen ihre Stimme geben. Da die Wählerinnen bei der Stimmabgabe jedoch frei sind, ist dies nie zu 100 Prozent der Fall und so könnte es — wenn auch unwahrscheinlich — durchaus sein, dass zum Beispiel im Senatswahlkreis Ost eine italienischsprachige Kandidatin zum Zug kommt. Dies wird umso mehr der Fall sein, je mehr die Parteien sich von nationalistischen und ethnizistischen Positionen verabschieden, was jedoch leider selten der Fall ist.
    • Ob die Kandidatur der SVP im Wahlkreis Süd sinnvoll und zielführend ist, kann ich nicht sagen. Das wird auch vom Verhalten der Wählenden abhängen. Sollte in dem Wahlkreis der »importierte« Lega-Kandidat Maurizio Bosatra das Rennen machen, der die Entstehung einer Rechtsregierung unter neofaschistischer Führung begünstigen würde, wären dafür in erster Linie diejenigen verantwortlich zu machen, die ihn wählen.

    Nachtrag vom 21. August 2022: Ich möchte klarstellen, dass ich auswärtige Kandidatinnen vor allem dann für problematisch halte, wenn sie einer staatsweiten (und nicht einer lokalen) Logik entspringen und wie bei Parlamentswahlen keine echte Wahlmöglichkeit (zum Beispiel Vorzugsstimmen) besteht.

    Cëla enghe: 01 02 03 || 01

    • 1
      Die Vertretung der Ladinerinnen ist leider gar kein Thema.


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